Diskriminierung hat viele Gesichter. Manchmal zeigt sie sich in Beleidigungen: „Du Kanacke!“ oder „Du Kampflesbe!“. Oft sind es aber auch viel subtilere Äußerungen, die zeigen: Wer hier spricht, hat demokratiefeindliche und diskriminierende Ansichten. Etwa wenn jemand auf eine jüdische Weltverschwörung anspielt oder behinderte Menschen abwertet. Die Beleidigungen und Angriffe richten sich häufig gegen Mitschülerinnen und Mitschüler, oft aber auch gegen Lehrkräfte oder gezielt gegen bestimmte Bevölkerungsgruppen. Doch egal, in welcher Form: Wenn sich Antisemitismus, Rassismus, Sexismus oder Homophobie in Klassenzimmern und auf Schulhöfen zeigen, sind die Lehrkräfte gefordert – und häufig überfordert. „In dem Moment weiß man, dass man irgendwie und ganz schnell darauf reagieren muss“, erzählt der Sozialwissenschaftler Udo Dannemann. Aber die Frage sei, wie.
Er selbst kennt den Schulalltag als Lehrer ganzgenau. Nach dem Lehramtsstudium unterrichteteer Politik und Mathematik an Schulen in Lissabon und Berlin. Hier wurde auch er zum ersten Mal mitschwierigen Situationen konfrontiert, in denen sich einzelne Schüler oder Schülerinnen demokratiefeindlich äußerten. Udo Dannemann erinnert sich etwa, als er in seinem Unterricht die Themen Flucht und Migration behandelte. Damals äußerte ein Schüler in der Diskussion, dass doch nicht jedes in Seenot geratene Flüchtlingsboot gerettet werden müsse. Ein anderes Mal behauptete ein Schüler, es sei völlig gerechtfertigt, dass Frauen weniger verdienten als Männer. Denn schließlich arbeiteten diese härter. „Das kann einen ganz schön aus der Spur bringen“, weiß Dannemann.
Diskriminierung ist ein flächendeckendes Problem
In so einem Fall sei das Wichtigste, klare Haltung zu zeigen, erklärt der Wissenschaftler. „Aber“, räumt er ein, „manchmal ist es gar nicht so leicht, antidemokratische oder diskriminierende Positionen als solche überhaupt zu erkennen.“ An diesen beiden Stellschrauben setzt das Projekt „Starke Lehrer*innen– starke Schüler*innen“ an: Es soll Lehrkräfte von Berufsschulen einerseits für Diskriminierungsformen oder Verschwörungsmythen sensibilisieren und ihnen andererseits vermitteln, wie sie darauf gut reagieren können.
Zwölf der insgesamt 25 Oberstufenzentren aus Brandenburg haben sich um eine Teilnahme am Projektbeworben. „Das zeigt, wie groß der Bedarf ist“, betont Udo Dannemann. „Rassismus, Sexismus oderandere Diskriminierungsformen sind flächendeckende Probleme.“ Sechs Oberstufenzentren konnten die Forscherinnen und Forscher schließlich zur Teilnahme einladen. Jede Schule entsendet nun drei bis vier Lehrkräfte, die sich im Modellprojekt für drei Jahre weiterbilden und den Umgang mit Diskriminierung und extrem rechten und rechtspopulistischen Einstellungen und Positionen trainieren können.
Berufsschulen stehen gezielt im Mittelpunkt des Projekts, denn die Schulform, an der die meisten Schülerinnen und Schüler in Deutschland lernen, ist nur selten Teil von Modellprojekten. Hinzu kommt: „Das Fach Politische Bildung hat an den Berufsschulen einen vergleichsweise schweren Stand und wird oft von fachfremden Lehrkräften unterrichtet“, erklärt Udo Dannemann. Die Inhalte des Fachs sind nicht prüfungsrelevant. Generell finde man an den Oberstufenzentren sehr unterschiedliche Schülerinnen und Schüler, und besonders häufig seien hier rechte und demokratiefeindliche Tendenzen vorhanden.
„Das wird gerade heute wieder sichtbarer“, erklärt der Forscher. Während sich das Problem in den 1990er Jahren vor allem in Gewaltkonflikten zeigte, sind es gegenwärtig eher psychische Gewalt, Beleidigungen und eine latente Demokratiefeindlichkeit. „Es ist viel schwieriger, auf so etwas zu reagieren als zum Beispiel auf eine Prügelei“, so Dannemann. „Starke Lehrer*innen – starke Schüler*innen“ soll nun eine von vielen möglichen Antworten auf diese Entwicklung sein.
Ein Vorläuferprojekt der TU Dresden und der Robert Bosch Stiftung fand bereits von 2015 bis 2018 in Dresden statt. Dieses konzentrierte sich vor allem auf Rechtsextremismus als Form der Demokratiefeindlichkeit. Es folgte ein zweites Modellprojekt in Niedersachsen, nun ein drittes in Brandenburg. Diesmal blicken die Forscherinnen und Forscher auf antidemokratische Positionen und Einstellungen allgemein und berücksichtigen dabei auch die gesellschaftlichen, ökonomischen und sozialen Ursachen solchen Denkens. Auf antidemokratische Positionen und Einstellungen könne nur dann adäquat eingegangen werden, wenn ein soziologisch-politikwissenschaftlicher Blick bei den beteiligten Lehrkräften geschult werde, beschreibt Udo Dannemann.
Für viele Lehrerinnen und Lehrer sind die Workshops wohl die erste Gelegenheit, mit anderen intensiv über ihre Erfahrungen mit antidemokratischen Vorfällen an ihren Schulen zu sprechen. Im vollgepackten Schulalltag ist dafür kaum Zeit. Hier können sie erzählen, Fragen stellen und anhand von konkreten Fallbeispielen ausprobieren, welche Strategien bei bestimmten Situationen helfen. Konflikte richtig zu managen oder ein Argumentationstraining zu absolvieren, sind eine Säule des Programms. Eine zweite ist, die Lehrkräfte dafür zu sensibilisieren, wie man diskriminierende und antidemokratische Positionen überhaupt als solche erkennt.
Vernetzung als Schlüssel zum Erfolg
„Das erste halbe Jahr ist erst einmal dafür da, die Probleme überhaupt zu sehen“, erzählt Udo Dannemann. Manchmal kämen Lehrerinnen und Lehrer in die Workshops mit der Überzeugung: „Demokratiefeindlichkeit? Das gibt es bei uns nicht.“ Wenn man dann darüber etwas ausführlicher spreche, und Beispiele für Diskriminierungsformen nenne, sei die Überraschung groß: „Doch, das kennen wir auch.“
Anfangs gehe es deshalb um die Frage, welche antidemokratischen Einstellungen es gibt und wie man sie erkennt. Was stecken für Ideologien dahinter und wie sind sie sozialwissenschaftlich zu erklären? „Das kann sich keine Lehrerin und kein Lehrer in der Freizeit und allein aneignen“, betont Udo Dannemann. Gerade bei unterschwelligen Aussagen ist das Wissen darüber jedoch wichtig, um die Situation einschätzen zu können und mit den Schülerinnen und Schülern ins Gespräch zu kommen. Dabei ist Fingerspitzengefühlgefragt: Mitunter vermag ein vorsichtiges Gespräch, in dem über Fakten, Motivation und Hintergründe gesprochen wird, mehr auszurichten, als die klare Kante zu zeigen. Manchmal ist es aber auch umgekehrt. Nicht selten gerät das zu einer Gratwanderung für die Lehrkräfte.
Die Kollegiale Fallberatung ist eine weitere wichtige Ebene des Projekts, die auf externe Beraterinnen und Berater der Regionalen Arbeitsstelle für Bildung, Integration und Demokratie (RAA) Brandenburg setzt. Schon seit den 1990er Jahren unterstützt die RAA Schulen bei konkreten Problemen. Im Modellprojektgehen die Beraterinnen und Berater fünf Mal pro Jahr an die teilnehmenden Schulen und gebenden Lehrkräften in einem kleinen, geschützten Raum Hilfestellung zu aktuellen Fällen. Diese regelmäßige, professionelle Begleitung wüssten die Schulen sehr zu schätzen, sagt Udo Dannemann. Die Beratenden wiederum werden ebenfalls durch Qualifizierungsmaßnahmeninnerhalb des Modellprojekts unterstützt. Vernetzungsworkshops stärken außerdem die Brücken zwischen Schulen und außerschulischen Vereinen, Initiativen und Stiftungen, um die bereits vorhandene Expertise dorthin zu lenken, wo sie benötigt wird.
Die Erfahrungen aus dem sächsischen Vorläuferprojektzeigen: Lehrkräfte, die das Modellvorhabendurchlaufen haben, fühlen sich sicherer im Umgang mit antidemokratischen Positionen, können Situationen besser einschätzen und sind handlungsfähig. Auch das Brandenburger Projekt wird wissenschaftliche valuiert: Das Forschungsteam erfragt vor und nach den Workshops den Wissensstand der Lehrkräfte zu demokratiefeindlichen Einstellungen, was sie als besonders hilfreich wahrnehmen und wie sich ihre Argumentations- und Handlungssicherheit verändert hat. Ein Team der Universität Eichstätt, das die Workshops begleitet, evaluiert ebenfalls alle aktuellen Standorte des Projekts mit Fragebögen und Gruppeninterviews.
Diskursverschiebung nach rechts
Das Projekt in Brandenburg hat gerade erst begonnen. Doch für Udo Dannemann steht schon jetzt fest: „Nach drei Jahren ist das nicht vorbei.“ Aussagen, die Menschenrechte verletzen – das finde man nicht nur in der Schule, sondern zunehmend auch in der allgemeinen Gesellschaft. Wer solchen Positionen widerspreche, gelte schnell als Gegner der Meinungsfreiheit. Eine Diskursverschiebung nach rechts beobachten Forscherinnen und Forscher tatsächlich schon seit einigen Jahren. Extreme rechte Positionen werden nach und nach in der „Mitte der Gesellschaft“ salonfähig. „Was macht das mit Werten und Normen einer demokratischen Gesellschaft?“, fragt Dannemann. „Was passiert gerade im Schulalltag und wie kann man intervenieren? Damit müssen sich Gesellschaft und Wissenschaft langfristig befassen.“
„Starke Lehrer*innen – starke Schüler*innen“ solldeshalb auch über das Projektende hinauswirken. Die Forschenden entwickeln aus den Projektergebnissen Bausteine für Fortbildungen, planen die Herausgabeeiner Broschüre mit Ansprechpartnern für die Oberstufenzentren sowie eines „Werkzeugkoffers“ und bereiten analysierte Fallbeispiele in einer Sammlung auf. Hilfreiche Strukturen, die es schon jetzt an den Schulen gibt, sollen ergänzt und gestärkt werden. Denn niemand sollte mit diesen Problemen alleingelassen werden, findet Dannemann. Er hofft, dass einige der Projektteilnehmerinnen und -teilnehmerin ihren Schulen zu Multiplikatoren werden, die ihren Kolleginnen und Kollegen künftig dabei helfen, sich Diskriminierung und Demokratiefeindlichkeit entgegenzustellen. „Es gibt dabei kein Patentrezept“, betont der Forscher. „Aber es kommt auf die Haltung an, die man mitbringt oder sich erarbeitet.“
Das Projekt
„Starke Lehrer*innen – starke Schüler*innen“ ist ein Modellprojekt in Brandenburg, das teilnehmenden Lehrkräften das notwendige fachliche und methodische Basis- und Hintergrundwissen vermittelt, um auf diskriminierende und demokratiefeindliche Positionen an Berufsschulen reagieren zu können. Kooperationspartner und Förderer des Projekts sind neben dem Lehrstuhl für Politische Bildung der Universität Potsdam das Ministerium für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg (MBJS), die Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) und die Robert-Bosch-Stiftung (RBS).
Laufzeit: 2021–2023
www.uni-potsdam.de/de/politische-bildung/1/modellprojekt-starke-lehrerinnen-starke-schuelerinnen-in-brandenburg
Der Forscher
Udo Dannemann hat Politik und Mathematik auf Lehramt an der Universität Oldenburg und der Universität Bremen studiert. Er arbeitete als Lehrer in Lissabon und Berlin und promoviert derzeit an der Universität Potsdam zur sozialwissenschaftlichen Bildung in der Schulpraxis im Modellprojekt „Starke Lehrer*innen – starke Schüler*innen“.
E-Mail: dannemannuuni-potsdampde
Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal Wissen - Eins 2022 „Zusammen“.