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Tinder mit Sprachenlernen für ältere Leute – Das Projekt „Digital Language Learning“ hat eine Mobile-App fürs sprachliche Miteinander entwickelt

Screenshot der App „SprachenTanz“ | Foto: Projekt „Digital Language Learning“
Image : Projekt „Digital Language Learning“
Screenshot der App „SprachenTanz“

Birgit S. hat kürzlich ihren 70. Geburtstag gefeiert und wohnt allein in Berlin-Charlottenburg. Der pensionierten Lehrerin fehlen der rege Kontakt und Austausch mit Schülerinnen und Schülern sowie dem Kollegium. Ihre Tochter wohnt mit dem Schwiegersohn und den Enkelkindern 600 Kilometer entfernt in Frankfurt am Main, ihr Mann ist kürzlich verstorben. Birgit hat vielerlei Interessen und ist körperlich wie geistig fit. Sie liest seit Jahrzehnten den Tagesspiegel und verbringt die Wochenenden am liebsten im Segelclub am Wannsee. Mit der stabilen Witwenrente möchte die ehemalige Beamtin gerne reisen, fremde Kulturen und neue Sprachen lernen. Aber nicht allein. So in etwa lesen sich die Charakteristika der Zielgruppe, auf die eine neue Mobile-App abzielt. Sie nennt sich „SprachenTanz“ und möchte Menschen erreichen, die nicht mehr berufstätig, aber noch fit sind und Interesse am Sprachlernen haben.

„Wir haben eine große Befragung übers Web gemacht, um herauszufinden, was Senioren eigentlich wollen“, erklärt Prof. Dr. Harald Clahsen sein Anliegen. „Dabei kam heraus, dass es viele Menschen im Alter Ü-65 gibt, die zwar Zeit und Lust haben, die Welt zu erkunden, es aber als einen Mangel empfinden, keine Fremdsprache (insb. Englisch) zu sprechen bzw. – falls sie eine Fremdsprache sprechen – diese nicht ausreichend praktizieren zu können.“ Da die Senioren von heute zwar keine Digital Natives sind, aber dennoch in der Mehrzahl aktiv den PC bzw. ein Smartphone nutzen, entwickeln die Forschenden des Potsdam Research Institute for Multilingualism (PRIM) an der Uni Potsdam derzeit eine Mobile-App, die diese speziellen Bedürfnisse und Interessen bedienen könnte.

Das Projekt „Digital Language Learning“ zielt darauf ab, bestehende digitale Werkzeuge, mit denen sich Fremdsprachen erlernen und anwenden lassen, zu verbessern. Auf der Grundlage qualitativer und quantitativer Forschung möchten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler rund um den Linguisten und Projektleiter Harald Clahsen dazu beitragen, neue Produkte im Bereich des mobil unterstützten Sprachenlernens zu entwickeln. So kam das Team auf die mobile App „SprachenTanz“, eine kollaborative L2-Lernplattform für ältere Erwachsene mit dem Claim „Treffen. Teilen. Üben. SprachenTanz“.

Soziale Kontakte mit sprachlernen kombinieren

Sich auf Bedürfnisse spezifischer Gruppen von Lernenden zu fokussieren und diese in digitalen Lösungen anzusprechen, stieß auch bei Langenscheidt Digital und Babbel auf großes Interesse. Zu beiden konnte das „Digital Language Learning“-Projekt wichtige Kooperationen aufbauen. So entwickelte das Team zusammen mit Langenscheidt Digital – und der Design Thinking Methode – den Produktprototypen und evaluierte die App. Eignet sie sich tatsächlich für das Lernen von Englisch als Fremdsprache im fortgeschrittenen Alter? Konnte die App ihren Wünschen gerecht werden? Und bot sie ihnen eine authentische Lernerfahrung?

„Ältere Menschen sind bislang von der digitalen Sprachlernindustrie vernachlässigt worden, dabei haben sie ein großes Interesse bzw. Bedürfnis, Sprachen zu lernen“, sagt Clahsen. „Aktuelle Apps sind für Studis und Teenager gemacht. Aber wir fragen: Was wollen eigentlich ältere Menschen?“ Was der Zielgruppe an existierenden Produkten bislang fehlt, ist eine soziale bzw. interaktive Komponente, so die wichtigste Erkenntnis der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Deshalb orientierten sie sich an sozialen Plattformen und nutzten Matching-Tools für ihre Zwecke, um Überschneidungen bzw. Schnittmengen bei Angaben zur Person und zu Interessen zu identifizieren und so erfolgreiches Sprachlernen in realen Kontexten zu ermöglichen.

Entwicklung von der Theorie in die Praxis

„‚SprachenTanz‘ hat keine Lernkomponente wie ein Sprachkurs“, erklärt Cecilia Puebla. Die Linguistin ist schon seit dem Beginn des Projekts 2018 dabei. „Es handelt sich vielmehr um eine Plattform, die Menschen mit unterschiedlicher Muttersprache auf der Basis ihrer allgemeinen Interessen sowie ihrer speziellen Vorliebe für eine bestimmte Sprache zusammenbringt.“ „SprachenTanz“ sei auch kein Tandem, da sich die Menschen nicht einander unterschiedliche Sprachen beibringen würden, ergänzt sie. „Vielmehr üben sie z.B. ein gemeinsames Hobby aus – sie gehen vielleicht zu einer Weinprobe oder besuchen eine Sportveranstaltung und sprechen dabei Französisch!“ Das heißt: „SprachenTanz“ fördert das Sprachenlernen in einem realen Kontext. Die App-Nutzer gestalten ihre Sprachlernerfahrung auf kollaborative und soziale Weise. Neue Nutzer legen zunächst einen Account an und erstellen ein individuelles Profil, indem sie Fragen zu ihrer Biografie und ihrem Sprachniveau sowie zu Hobbies und ihrer Motivation zur Teilnahme beantworten. Anschließend werden ihnen Matches angezeigt: andere Nutzer mit ähnlichen, passenden Vorlieben und Sprachinteressen. Dank einer Filterfunkton können die Nutzerinnen und Nutzer außerdem individuelle Matches entdecken, bspw. nach Sprachen, bestehenden Gruppen oder räumlicher Nähe. „Im Prinzip ist ‚SprachenTanz‘ Tinder zum Sprachlernen für ältere Leute“, macht Clahsen schmunzelnd deutlich. Dabei dürften beide Facetten der App – die sozialen Kontakte und das Sprachlernen – gleichermaßen wichtig sein. Während viele im Alter Kontakte suchen, die sie mithilfe der App leichter finden, könnte ihnen die Lernkomponente sogar gesundheitlich zugutekommen. Denn ein mehrsprachiger Alltag soll Studien zufolge dem Auftreten von Altersdemenz signifikant entgegenwirken.
Derzeit werden Feedback-Daten zum Sprachen- Tanz-Prototyp von einer Gruppe älterer Erwachsener erhoben. Darauf basierend wird das Team einen zweiten Prototyp entwickeln. Anschließend soll es weitere vier bis fünf Feedbackschleifen geben. „Bis unsere Senioren meinen, jetzt ist es gut!“, sagt Projektleiter Clahsen.

Langenscheidt sei von Beginn an Feuer und Flamme gewesen, erklärt der Forscher. Das Unternehmen habe dem Team der Uni Potsdam geholfen, „Sprachen- Tanz“ zu entwickeln, und konnte im Gegenzug auf die erhobenen User-Daten zugreifen. Eine Win-Win-Situation und ein – für eine gewisse Zeit – erfolgreiches Modell der Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Digitalwirtschaft. Doch infolge einer Übernahme wurde Langenscheidt Digital ersatzlos gestrichen und auch das DLL-Projekt an der Uni Potsdam läuft zum Jahresende 2021 aus. Der Fokus „Digitales Sprachlernen“ aber bleibt und wird vom PRIM im Rahmen eines Teilprojekts des Sonderforschungsbereichs 1287, der zu den „Grenzen der Variabilität von Sprache“ forscht, fortgeführt.

Das Projekt

Design Thinking ist eine in der Industrie weit verbreitete Methode zur Produktentwicklung, die besonders die Bedürfnisse und Anforderungen der Endnutzer berücksichtigt. Ein entscheidender Aspekt der Methode ist, dass sie eine Gruppe potenzieller Nutzer während des gesamten Entwicklungsprozesses einbezieht, um den tatsächlichen Nutzen des neuen Produkts sicherzustellen.

Die Forschenden

Prof. Dr. Harald Clahsen studierte Germanistik, Soziologie und Mathematik an den Universitäten Wuppertal und Hamburg. Nach fast 20-jähriger Tätigkeit als Professor für Linguistik an der University of Essex in Grossbritannien kam er 2011 mit einer Alexander von Humboldt- Professur nach Potsdam, um das neue Forschungsinstitut für Mehrsprachigkeit aufzubauen.
E-Mail: Harald.clahsenuni-potsdamde

Cecilia Puebla studierte slawische Philologie und Linguistik an der Universität Complutense. Derzeit ist sie Doktorandin im Internationalen Programm für experimentelle und klinische Linguistik und forscht im Projekt „Digital Language Learning“ am Potsdamer Forschungsinstitut für Mehrsprachigkeit an der Universität Potsdam.
E-Mail: cecilia.puebla.antunesuni-potsdamde

 

Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal Wissen - Zwei 2021 „Aufbruch“ (PDF).