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„Auch die Wissenschaft ist nicht wertfrei“ – Der Medizinethiker Robert Ranisch gehört zu den ersten Neuberufenen der Fakultät für Gesundheitswissenschaften Brandenburg

Genomchirurgie im Diskurs: Robert Ranisch bei einer Veranstaltung von „Wissenschaft im Dialog“ | Foto: M. Scholz/WiD
Photo : M. Scholz/WiD
Genomchirurgie im Diskurs: Robert Ranisch bei einer Veranstaltung von „Wissenschaft im Dialog“

Als im Frühjahr 2020 die Corona-Infektionen und damit auch die schweren Covid-Fälle sprunghaft anstiegen, lernten die medizinischen Laien – also der Großteil der Bevölkerung – einen Begriff kennen, der ursprünglich aus dem Militär kommt und im Französischen nicht halb so bedrohlich klingt wie im Deutschen: Triage. Die Menschen mochten sich nicht vorstellen, was es bedeutet, Patienten nach dem Schweregrad ihrer Erkrankung und ihren Überlebenschancen zu sortieren, um bei begrenzten Kapazitäten eine Auswahl treffen zu können, wer eine Intensiv-Behandlung erhält und wer nicht. Plötzlich waren Fragen der Medizinethik in aller Munde.

Im Winterurlaub, Anfang 2020, hatte Robert Ranisch noch geglaubt, dass Corona in ein, zwei Monaten vorbei sein werde. Doch nach seiner Rückkehr nach Tübingen, wo er an der Universität theoretisch und am Klinikum praktisch als Medizinethiker arbeitete, wurde ihm schnell das Ausmaß der Katastrophe klar. „In unserer Fachgesellschaft haben wir medizinethische Herausforderungen der Pandemie früh diskutiert und auch das Thema Triage aufgegriffen“, berichtet er. Die dramatischen Bilder aus Bergamo taten ihr Übriges. „Wir begaben uns in Habachtstellung: Was wären verantwortbare Triagierungen? Wie könnten zukünftige Impfstoffe gerecht verteilt werden? Welche Privilegien sollten Geimpfte erhalten?“ Für die Antworten darauf gab es wenig Lob. „So etwas wollte keiner hören“, sagt Robert Ranisch, der sich mit seinen Berufskolleginnen und -kollegen den Vorwurf der Schwarzmalerei gefallen lassen musste. Doch sie wussten, wovon sie sprachen. Bereits im Zusammenhang mit der Ebola- Epidemie in Zentralafrika hatte sich Ranisch mit ähnlichen Themen beschäftigt. „Die Frage war damals, wie sich die wenigen Ressourcen vor Ort richtig einsetzen lassen, um möglichst viele Menschen zu retten. Zudem musste das medizinische Personal zu den ethischen Konflikten solcher Entscheidungen geschult werden“, berichtet Ranisch.

Auch wenn in Deutschland die befürchtete Überlastung der Intensivstationen ausgeblieben ist, so war es doch wichtig, vorbereitet zu sein. Eine Erfahrung, die Ranisch gemeinsam mit seinen Kollegen in medizinethischen Netzwerken veranlasste, die mit der Coronapandemie vorhersehbaren Probleme rechtzeitig auf den Tisch zu legen. Als dann im Herbst die zweite Welle anrollte, konnten sie bereits einiges aus der Schublade ziehen, zum Beispiel Ethik-Richtlinien für die Verteilung von Impfstoffen oder die digitale Kontaktverfolgung unter Einhaltung des Datenschutzes. Es sollten jedoch noch Monate vergehen, ehe darauf zugegriffen wurde. „Das frustriert, weil einige Entwicklungen nicht ganz überraschend kamen“, sagt der Ethiker, der seine besondere Affinität zu allen Fragen der Digitalisierung nicht verleugnet.

Über die Philosophie zur Medizinethik

Eigentlich hatte Robert Ranisch Informatik studieren wollen. Nachdem seine Schwester das Fach bereits gewählt hatte, orientierte sich der in Thüringen Geborene nach Weimar, um sich im künstlerischen Bereich ausbilden zu lassen. Zunächst aber absolvierte er an der Universität in Jena ein Studium Generale und entwickelte, um Geld zu verdienen, für das dortige Ethikinstitut ein neues Logo. „Was die machten, fand ich spannend, und habe mich im Nebenfach eingeschrieben“, erzählt Ranisch, der für das Fach sofort Feuer fing und schließlich Philosophie studierte. Nach Stationen an den Universitäten Warwick und Oxford kam er nach Deutschland zurück, um sich während seiner Promotion mit ethischen Fragen neuer Technologien, etwa in der Genetik und der Digitalisierung, zu befassen. Zwei Wissensfelder mit ähnlicher Mentalität, meint Ranisch. „Ob Gentechniker oder Programmierer – beide gehen in einen Code hinein, um dessen Informationen zu verändern“, so der Wissenschaftler, der seit 2017 in Tübingen die Forschungsstelle „Ethik der Genom-Editierung“ am Institut für Ethik und Geschichte der Medizin leitet.

Eine der zentralen Fragen, die ihn seither beschäftigt, ist die nach den langfristigen Konsequenzen so genannter Keimbahninterventionen, wenn der Mensch, um Erbkrankheiten zu verhindern, in den Zeugungsprozess und damit in die Evolution eingreift. „Immerhin werden die genetischen Veränderungen an die späteren Kinder und Enkel des noch Ungeborenen vererbt, nicht nur mit den gewünschten Effekten, sondern auch mit möglichen Nebenwirkungen. Das ist eine Menschheitsfrage, die wir breit diskutieren müssen“, fordert Ranisch. Als in China 2018 die ersten genetisch veränderten Babys, die Zwillinge „Lulu“ und „Nana“, geboren wurden, war der Schock groß und die Büchse der Pandora geöffnet. Lässt sie sich wieder schließen? „Ohne die Forschungsfreiheit begrenzen zu wollen, müssen wir doch immer die Folgen unserer Erfindungen bedenken“, mahnt der Ethiker. Auf anderen Gebieten, wie etwa der Atomenergie oder des Verbrennungsmotors, sei ein Zurückrollen möglich gewesen. Andererseits könne und wolle niemand den wissenschaftlichen Fortschritt aufhalten. In der ethischen Diskussion neuer Technologien plädiert Ranisch deshalb für einen Wechsel der grundlegenden Fragestellung, vom „Dürfen wir das überhaupt?“ hin zum „Wie können wir das gut machen?“ Denn hier werde die Verantwortung der Handelnden gefordert.

Über Fächergrenzen lehren, die Praxis unterstützen

In diesem Frühjahr, mitten im dritten Lockdown, ist Robert Ranisch zum Juniorprofessor für Medizinische Ethik an der Universität Potsdam ernannt worden. Er ist damit der erste Neuberufene der im Aufbau befindlichen Fakultät für Gesundheitswissenschaften, die die Uni Potsdam gemeinsam mit der Medizinischen Hochschule Brandenburg und der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg betreibt. Hier in Potsdam wird er sich insbesondere mit ethischen Aspekten einer digitalisierten Gesundheitsversorgung beschäftigen, „ein Gebiet, in dem Chancen und Risiken miteinander verwoben sind, sich unreflektierte Technikeuphorie ebenso verbietet wie ein angstgetriebener Angriff auf neue rechnergestützte Möglichkeiten“, sagt der Gründungsdekan der Fakultät, Prof. Dr. med. Cornelius Frömmel. Auch eine „digitale Medizin“ werde eine dem Menschen zugewandte Medizin sein müssen.

„Über Handy oder Smartwatch können wir schon jetzt wertvolle Gesundheitsdaten erfassen und das birgt große Potenziale“, sagt Robert Ranisch. „Die permanente Gesundheitsvermessung kann jedoch unser Selbstbild oder unser Verhältnis zu Heilberufen verändern“, gibt er zu bedenken. Solchen Themen will er künftig in Forschung und Lehre, aber auch in der Ethikberatung nachgehen, um zu einer verantwortungsvollen Entwicklung neuer Versorgungskonzepte und -strukturen beizutragen. Brandenburg könne zu einem zukunftsweisenden Modellstandort einer guten und gerechten Gesundheitsversorgung werden, so der Medizinethiker, der auch für andere Fächer jenseits der Gesundheitswissenschaften Lehrveranstaltungen anbieten möchte, um mit den Studierenden interdisziplinär über Werte diskutieren zu können.

Auch seine Arbeit in der Ethikberatung will Robert Ranisch in Brandenburg fortsetzen. Als Geschäftsführer des Klinischen Ethik-Komitees am Universitätsklinikum Tübingen hatte er im Krankenhaus unterstützt, ethische Herausforderungen zu bewältigen. „Der Arztberuf ist mit hoher Verantwortung und besonderem Einsatz verbunden, mit der Pflicht zu helfen, zu heilen und Verschwiegenheit zu wahren. All das stellt Ärztinnen und Ärzte nicht selten vor ethische Konflikte“, weiß Ranisch. So kann beispielsweise bei nichteinwilligungsfähigen Patienten die Frage aufkommen, welche Behandlung in ihrem Interesse wäre. An dieser Stelle setzt die klinische Ethikberatung an. Gemeinsam mit dem medizinischen Team und Angehörigen versucht sie dann Empfehlungen zu geben. „Vielleicht kann ein solches Angebot auch im Flächenland Brandenburg gestärkt werden, in den Kliniken, aber gerade auch im ambulanten Bereich“, fragt Ranisch, der sich für die Gründung eines entsprechenden Netzwerkes für das Land einsetzen möchte.

Dafür ein größeres Bewusstsein zu schaffen und medizinethisches Denken in die Bevölkerung zu tragen, liegt ihm besonders am Herzen. Gerade erst ist er mit seiner Kollegin Julia Diekämper mit dem Tübinger Nachwuchspreis für Wissenschaftskommunikation ausgezeichnet worden. Gemeinsam mit dem Berliner Museum für Naturkunde hatten sie im Projekt „ZukunftMensch“ ethische Fragen thematisiert, die sich aus den zunehmenden Möglichkeiten ergeben, in das Erbgut einzugreifen. Sie nahmen die Geburt der gentechnisch veränderten Zwillinge „Lulu“ und „Nana“ zum Anlass, um mit einer breiten Öffentlichkeit über die potenziellen Folgen eines Eingriffs in die menschliche Keimbahn zu diskutieren. „Wir sind in Kinos und Kneipen gegangen, haben die Leute gebeten, Grußkarten an die beiden Kinder zu schreiben oder auch an den verantwortlichen Wissenschaftler“, erzählt Robert Ranisch. Solche öffentlichkeitswirksamen Formate will der neuberufene Professor hier in Potsdam weiterverfolgen, etwa zu Fragen der „Planetaren Gesundheit“, die sich gerade jetzt in der Pandemie besonders eindrücklich stellen: Wo kommt das Coronavirus her? Fleischkonsum, Urbanisierung, Waldrodung, Klimawandel und Pandemie – wie hängt das alles zusammen? „Wir in der Wissenschaft müssen die Hand ausstrecken, die Menschen ernst nehmen und komplizierte Dinge allgemeinverständlich erklären“, meint Ranisch und ergänzt: „Auch wenn wir mit den Medien und der Politik kommunizieren.“ Innerhalb einer Legislaturperiode seien heute Dinge zu entscheiden, die weit in die Zukunft wirken. „Vielleicht brauchen Parlamente Ombudspersonen, die auch die Langfristigkeit heutiger Entscheidungen immer im Blick haben“, meint der Wissenschaftler. Eine schwierige Aufgabe sei es zudem, die Unsicherheit von Wissenschaft zu vermitteln: Warum kommt so viel scheinbar Widersprüchliches aus der Forschung, wie gerade jetzt während der Pandemie? Wie können wir mit der permanenten Ungewissheit umgehen? „Es muss ins Bewusstsein, dass es immer eine Vielzahl von Hypothesen gibt, dass es lange dauert, bis etwas Neues entsteht, dass es Fehlschläge und Irrungen gibt, aber dass die Wissenschaft trotzdem Vertrauen verdient“, meint Ranisch, fest davon überzeugt, dass sich die Probleme nur lösen lassen, wenn alle gemeinsam agieren und Verantwortung übernehmen. „Auch die Wissenschaft ist nicht wertfrei!“

Der Forscher

Prof. Dr. Robert Ranisch studierte in Warwick, Jena und Oxford Philosophie und promovierte in Düsseldorf und Tübingen auf dem Gebiet der biomedizinischen Ethik. Seit 2021 bekleidet er an der Universität Potsdam eine Tenure Track-Professur für Medizinische Ethik mit dem Schwerpunkt auf Digitalisierung.
E-Mail: robert.ranischuni-potsdamde

Die Fakultät für Gesundheitswissenschaften Brandenburg wurde 2018 als gemeinsame Fakultät der Universität Potsdam, der Medizinischen Hochschule Brandenburg Theodor Fontane und der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg gegründet. Sie bildet den Kern des Gesundheitscampus Brandenburg. Ziel ist es, neuartige medizinische, pflegerische und medizin-technische Versorgungsangebote sowie innovative Studiengänge zu entwickeln. In Kooperation mit weiteren Hochschulen und Forschungseinrichtungen soll die Fakultät zur Verbesserung der medizinischen Versorgung im Flächenland Brandenburg beitragen.
https://www.fgw-brandenburg.de/

 

Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal Wissen - Zwei 2021 „Aufbruch“ (PDF).