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Vom Trotz und der Liebe zur slavischen Literatur – Alexander Wöll hat seine Leidenschaft zum Beruf gemacht

Prof. Alexander Wöll | Foto: Tobias Hopfgarten
Photo : Tobias Hopfgarten
Prof. Alexander Wöll
Alexander Wöll sitzt vor dem Rechner. Interviews sind für ihn nicht neu – Fragen via Zoom zu beantworten schon, aber das macht ihm nichts aus. Interviews hat er während seiner Zeit als Präsident der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) häufiger gegeben und er erinnert sich gerne an diese Zeit. Insbesondere die engagierten Studierenden sind ihm in guter Erinnerung geblieben. „Es war eine lehrreiche Zeit und ich bin sehr dankbar, dass ich die Möglichkeit hatte, in diesem Amt so viel Neues zu lernen“, sagt Wöll, der 2018 die Europa-Universität verließ, um wieder forschen und lehren zu können. „Das hat mir in der Zeit gefehlt. Ich habe ja promoviert und habilitiert. Ich forsche gerne und ich lehre gerne.“ Also folgte er dem Ruf an die Universität Potsdam.

Doppelgänger und Traumprosa

Promoviert hat Wöll an der Ludwig-Maximilians-Universität München, über „Doppelgänger. Steinmonument, Spiegelschrift und Usurpation in der russischen Literatur“, so der Titel seiner Dissertation. Der Doppelgänger ist ein wichtiges Moment der russischen Geschichte und damit für Slavisten nicht unwesentlich. So hatte Zar Peter III. Fjodorovič viele Samozvanzen, selbsternannte falsche Zaren, die sich nach seiner Ermordung in den 1760er und 1770er Jahren zwischen Sibirien und dem Balkan bis hin nach Mitteleuropa auf ihn beriefen. „Die Samozvanzen behaupteten, dass sie der Zar seien, der zu diesem Zeitpunkt jedoch bereits ermordet war“, erklärt Wöll. In seiner Dissertation hat er Texte von zahlreichen russischen Autoren – von Aleksandr Puškin und Nikolaj Gogol über Fjodor Dostojevskij bis hin zu Osip Mandelˈštam und Vladimir Nabokov – analysiert und verschiedene Doppelgängermotive herausgearbeitet.

Es blieb nicht bei der Promotion. Wöll, der eigentlich auf Lehramt studiert hat, fühlte sich in der Wissenschaft wohl. Er habilitierte in Regensburg zu Leben und Werk Jakub Demls, einem tschechischen Autor, der von 1878 bis 1961 gelebt hatte und als Wegbereiter des tschechischen Surrealismus gilt. Seine Traumprosa – im Mittelpunkt seiner Werke stehen seine eigenen Träume – fasziniert Alexander Wöll bis heute. Die bis 1989 verbotenen Handschriften und Selbstdrucke in böhmischen und mährischen Archiven und Bibliotheken zu suchen, war ein detektivisches Abenteuer. Nach intensiver Lektüre von Texten Teresa von Avilas oder Meister Eckharts erschafft Deml in mystisch-ekstatischen Hymnen sprachliche Bilder von einer innovativen Kraft und Schönheit, die in vielem schon weltberühmte Texte wie Die Bibliothek von Babel des Jorge Luis Borges oder James Joyce’ Ulysses vorwegnehmen. „Gerade erscheint eine dreizehnbändige Gesamtausgabe Demls in Tschechien und ich möchte sehr gerne meine Habilitation in tschechischer Sprache herausbringen und aktualisieren.“

Wöll beschäftigt sich mit der Vielfalt der Kulturen und Literaturen slavischer Gemeinschaften im Zusammenspiel mit anderen Kulturen in den von ihnen bevölkerten Staaten. „Ich glaube, ich könnte mich nicht nur mit einer Sprache und z.B. nur mit Russland beschäftigen. Die Vielfalt reizt mich und auch, komparatistisch zu arbeiten“, so der Vollslavist, der die Abwechslung liebt. So überrascht es wenig, dass zu seinen vielen Forschungsinteressen das Thema Gender und „Masculinity Studies“ in Russland und Ostmitteleuropa gehört – auch wenn es eher zufällig dazu kam. „Ich wollte das eigentlich gar nicht machen, aber als der Herausgeber zum wiederholten Male anrief, habe ich zugesagt und das war richtiges Glück. Das Feld ist sehr spannend.“ Und beinahe unbestellt, wie der Forscher bald herausfand. Bislang hatte nur der russische Menschenrechtler Igor Kon dazu publiziert und daraufhin enorme politische Probleme bekommen. Wöll forschte als einer der ersten deutschen Slavisten auf diesem Gebiet und stieß damit eine wichtige Debatte an. „Das Russland von heute ist ohne diese Männlichkeitsidealisierung nicht zu verstehen. Es ist vielleicht die einzige stabile Ideologie, die es in Russland noch gibt.“ Mittlerweile hätten sehr viele Forschende das Thema aufgegriffen, da es einen wichtigen Zugang zum heutigen Russland eröffne, so der Slavist.

Von und mit Studierenden lernen

Nach Potsdam zog es Alexander Wöll aus verschiedenen Gründen. Obwohl nicht das größte, sei das Slavistik-Institut verglichen mit anderen Universitäten recht gut aufgestellt. Ihm gefällt, dass er auch Lehramtsstudierende betreuen kann, die Russisch und Polnisch studieren, denn ihm liegt die Ausbildung von Lehrkräften besonders am Herzen. Und er schätzt den Studiengang Interdisziplinäre Russlandstudien, der einzigartig in Deutschland ist. „So etwas habe ich mir seit Jahren gewünscht: Die Verzahnung der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften mit der Slavistik.“ Auch der Master Osteuropäische Kulturstudien wird gerade zu einem Double Degree mit der Higher School of Economics in Moskau und mit der Universität Warschau ausgebaut. Das Thema Ukraine soll in diesem Studienprogramm in Zukunft eine noch gewichtigere Rolle spielen.

Wöll unterrichtet gern und schätzt den Austausch mit seinen Studierenden. „Ganz allein in Archiven und Bibliotheken? Das wäre nichts für mich. Ich finde es spannend, wenn Studierende auf Ideen kommen, die ich vielleicht gar nicht hätte. An einem reinen Forschungsinstitut, wo ich nicht lehren könnte, wäre ich nicht glücklich. Aber das liegt vielleicht auch daran, dass die Slavistik ein überschaubares Fach ist, es keine Massenveranstaltungen gibt und die Studierenden sich ganz bewusst dafür entschieden haben.“

Eine frühe Leidenschaft wurde zur Berufung

Alexander Wöll hat Osteuropa schon als Kind und Jugendlicher fasziniert, obwohl er selbst keine slavischen Wurzeln hatte. Jeden Samstag saß er vor dem Fernseher und schaute einen russischen Sprachkurs im österreichischen Fernsehen. Heute spricht er Russisch, Tschechisch, Polnisch sowie Ukrainisch und versteht Belarussisch. Außerdem hat er sich während seiner Zeit als Universitätsassistent in Regensburg Jiddisch und Bibelhebräisch beigebracht. Er ist begeistert von der Literatur, Musik und Kultur der slavischen Länder. „Sie sind mir nah, vielleicht weil ich selbst in einer ländlichen Gegend aufgewachsen bin. Wer Amerikanistik studiert, studiert letztlich Großstädte. Slavisten beschäftigen sich oft mit ländlichen Gebieten, auch Urvölkern in, in Sibirien zum Beispiel, und dem ländlichen Alltagsleben ganz allgemein.“

Obwohl er es als Slavist von Berufs wegen tut, hat Wöll nie den Spaß an literarischer Lektüre verloren – privater wie beruflicher. „Ich fühle mich immer sehr privilegiert, dass ich diese Arbeit machen darf“, sagt er. Dabei wurde er, als er sein Studium begann, in seiner Heimat im Allgäu für seine Wahl auch schon mal kritisch beäugt: „Ich fuhr immer montags zur Uni und der Bahnhofswärter fragte mich einmal, wohin ich immer fahre. Als er erfuhr, was ich studiere, fragte er: ‚Und wer zwingt dich dazu?‘“, erzählt Wöll. „Vielleicht habe ich angesichts der wenig rosigen Berufsaussichten fast aus Trotz weiterstudiert“, sagt er schmunzelnd.

Wöll liebt die Literatur, nicht nur die slavische. „Leider komme ich seltener als ich möchte dazu, auch
fachfremde Autoren zu lesen. Die Werke von Tolstoj, Dostojevskij oder Ivan Franko – das sind dicke Bücher. Da hat man nebenbei nicht viel Zeit für anderes.“ Er sieht sich selbst als Büchernarr und träumt davon, einmal einen Roman zu schreiben. „Aber die Muse hat mich noch nicht geküsst.“ Wöll bewundert Autoren wie Peter Bieri alias Pascal Mercier und Umberto Eco. „Das wäre mein Ideal. Ein genialer Schriftsteller und Wissenschaftler zu sein.“

Der Forscher

Prof. Dr. Alexander Wöll studierte Deutsche Philologie, Geschichtswissenschaften und Slavische Philologie in München, Moskau und Berlin. Seit 2018 ist er Professor für Kultur und Literatur Mittel- und Osteuropas an der Universität Potsdam.
E-Mail: awoelluni-potsdamde

 

Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal Wissen - Zwei 2020 „Gesundheit“.