Skip to main content

Verstehen und entscheiden – Harding-Zentrum für Risikokompetenz forscht jetzt in Potsdam

Wer mehr über Risiken weiß, kann oft besser mit ihnen umgehen. | Foto: AdobeStock / zhukovvvlad
Photo : AdobeStock / zhukovvvlad
Wer mehr über Risiken weiß, kann oft besser mit ihnen umgehen.
Was sind die Risiken der elektronischen Patientenakte, der Diagnose mit künstlicher Intelligenz oder aber von Gesundheits-Apps? Mit solchen Fragen befasst sich das Harding-Zentrum für Risikokompetenz, das der renommierte Psychologe Gerd Gigerenzer am Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung gründete. Zu Jahresbeginn wechselte es an die Fakultät für Gesundheitswissenschaften nach Potsdam. Doch kaum waren die Umzugskisten ausgepackt, brach die Corona-Pandemie herein. Und plötzlich standen ganz andere Fragen im Raum …

Das Harding-Zentrum steht für Aufklärung. Es will Menschen helfen, die Risiken, mit denen sie sich täglich konfrontiert sehen, besser zu verstehen und kompetenter mit ihnen umzugehen. Es fasst die wissenschaftliche Evidenz über Nutzen und Schaden von Behandlungen, Impfungen und Früherkennung, auch von Medikamenten und Nahrungsergänzungsmitteln in einer für Laien verständlichen Form zusammen. Doch wie lässt sich die Gefahr eines neuartigen, noch kaum erforschten Virus richtig einschätzen? „Die Menschen müssen lernen, sich kritisch zu informieren“, sagt der Psychologe Dr. Felix Rebitschek, der das Zentrum leitet.

Um dazu beizutragen, hat sein Team bisher bekannte Fakten zu SARS-CoV-2 und COVID-19 in Grafiken und Tabellen aufbereitet. Die sogenannten Faktenboxen des Harding-Zentrums sind ein erprobtes und wirksames Mittel gegen Unkenntnis. Die Wissenschaftler haben sich darauf spezialisiert, analoge und digitale Werkzeuge zu entwickeln, mit denen Menschen gut informiert und effizient Entscheidungen treffen können.

Eine Herausforderung war es zunächst, die Corona-Infektion zu anderen Risiken ins Verhältnis zu setzen. Zur Veranschaulichung wurde ein Fußballstadion mit 10.000 Plätzen gewählt. Die Grafik vergleicht Fallzahlen von COVID-19 für 2020 – umgerechnet auf die 10.000 Stadionplätze – mit anderen Krankheiten, Alltagsgefahren wie Verkehrsunfällen und vergangenen Epidemien. Ganz bewusst ist hier auch die häufig zitierte Grippesaison 2017/2018 aufgeführt, in der ungewöhnlich viele Menschen erkrankten und starben. Doch selbst im Vergleich mit diesem extremen Influenza-Ausbruch besetzen die Corona-Fälle im „Fußballstadion“ deutlich mehr Plätze. Allerdings handelt es sich bei den Corona-Fällen noch um für das gesamte Jahr 2020 geschätzte Zahlen.

Um klar und unmissverständlich zu zeigen, was Menschen verschiedenen Alters passieren kann, wenn sie dem Virus SARS-CoV-2 begegnen oder was ihren Mitmenschen passieren kann, wenn sie selbst es verbreiten, hat das Harding-Zentrum verschiedene Infoboxen erstellt, die den direkten Vergleich mit der Grippe ermöglichen, aber auch die bestehende Unsicherheit verdeutlichen: Von 1.000 Erwachsenen unter 60 Jahren, die etwa bei einem gemeinsamen Essen in engen Kontakt mit einem Menschen kommen, der mit dem Influenza- oder Corona-Erreger infiziert ist, werden drei bis 70 Personen an Influenza erkranken, aber 90 bis 170 Personen an COVID-19. Zwischen sechs und 30 Corona-Patienten müssen mit schweren Symptomen im Krankenhaus behandelt werden, bei Influenza sind es maximal acht. Für Erwachsene unter 60 Jahren ohne Vorerkrankungen besteht zwar auch bei COVID-19 nur ein minimales Risiko, daran zu sterben, sie erkranken jedoch öfter und schwerwiegender als an Grippe, gegen die man sich zudem impfen lassen kann.

Noch extremer ist die Differenz bei Menschen über 60 Jahren. Von 1.000 Personen, die engen Kontakt zu Infizierten hatten, erkranken drei bis 70 an Influenza, aber 200 bis 330 an COVID-19. Während bei den Grippepatienten bis zu 40 mit schweren Symptomen ins Krankenhaus müssen, können es bei Corona doppelt so viele sein. Zudem sind tödliche Verläufe deutlich wahrscheinlicher. Von 1.000 Menschen, die engen Kontakt zu Infizierten hatten, sterben etwa zwei an Influenza, aber acht bis 30 an COVID-19.

Deutliche Zahlen, die trotz bestehender Unsicherheiten die Gefahr vor Augen führen, zugleich aber helfen sollen, die Risiken richtig einzuschätzen. Derzeit sind viele Menschen verunsichert, ob sie sich bereits infiziert haben, ohne es bemerkt zu haben, und so andere unwissentlich anstecken könnten. Gerade für die Menschen, welche die Corona-Warn-App nicht nutzen, hat das Harding-Zentrum einen „Entscheidungsbaum“ erstellt, der alle Eventualitäten Schritt für Schritt durchgeht: „Hatten Sie zusammengenommen mindestens 15 Minuten Kontakt zu einer nachweislich infizierten Person?“, lautet die erste Frage. Wer dies mit „Ja“ beantwortet, wird über einen Pfeil zu einem roten Kasten gelenkt, in dem mit einem Achtungszeichen zu  lesen ist: „Höheres Infektionsrisiko! Kontaktieren Sie Ihr Gesundheitsamt!“ Wer mit „Nein“ geantwortet hat, wird zur nächsten Frage geleitet: „Haben Sie sich im selben Raum wie eine nachweislich infizierte Person aufgehalten?“ Antwort „Ja“ führt wiederum zu einem roten Kasten: „Geringes Infektionsrisiko! Kontaktieren Sie im Fall von grippeähnlichen Symptomen das Gesundheitsamt!“ Diejenigen, die verneint haben, dürfen sich der nächsten Frage zuwenden und so weiter und so fort, bis am Ende ausgeschlossen werden kann, als Kontaktperson eingestuft zu werden. Ergänzend gibt das Harding-Zentrum allgemeinverständliche Erläuterungen zu Übertragungswegen und  Krankheitsanzeichen. Menschen mit Infektionsverdacht wird das Führen eines Tagebuchs empfohlen,  in dem sie aktuelle Symptome, Körpertemperatur, Aktivitäten und Kontaktpersonen festhalten. Wer erkrankt ist, bekommt klar formulierte Verhaltensregeln genannt.

Entscheidungsbaum, Erläuterungen und Empfehlungen – all das findet Platz auf einem einzigen Blatt Papier, übersichtlich, anschaulich, prägnant. Das ist die Stärke des Harding-Zentrums: ein Knäuel zusammenhängender Fakten zu entwirren, von Falschmeldungen zu trennen und grafisch so  anzuordnen, dass sie sich logisch nachvollziehen lassen.

Im Projekt „VisRisk“ hat das Harding-Zentrum gemeinsam mit dem Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) erforscht, wie sich Ergebnisse aus der gesundheitlichen Risikobewertung visualisieren lassen und dabei festgestellt, dass mit der Kombination von verbaler und grafischer Kommunikation Fehleinschätzungen verringert und risikokompetente Entscheidungen gefördert werden können. Ein Team aus Psychologen, Gesundheits- und Naturwissenschaftlern hat die wissenschaftlichen Aussagen für die Allgemeinheit übersetzt, sowohl sprachlich als auch bildhaft. Dank der Erkenntnisse und Methoden aus der kognitiven Entscheidungspsychologie gelang es, informative, transparente und evidenzbasierte Visualisierungen zu erstellen, mit denen Laien schnell und unkompliziert das Risikopotenzial etwa von Lebensmitteln oder Bedarfsgegenständen abschätzen können.

Neben solchen Forschungsprojekten führt das Harding-Zentrum auch Expertenbefragungen und Umfragen in der Bevölkerung durch. „Besonders wichtig ist uns die Fort- und Weiterbildung von Ärzten, Journalisten und Verbraucherschützern. Die Patienten, die Verbraucher und die allgemeine Öffentlichkeit sind darauf angewiesen, dass diese Multiplikatoren Risiken richtig interpretieren und verständlich vermitteln“, betont Felix Rebitschek. „Gerade in einer Pandemie ist eine verzerrte Berichterstattung ein Problem, denn ohne persönliche Erfahrungen mit seltenen Risiken zu haben, gewinnen Beiträge aus jeglichen anderen Quellen, seriösen und unseriösen, für den Einzelnen an Gewicht.“

Der Forscher

Dr. Felix Rebitschek studierte Medienwirtschaft und Psychologie, in der er 2014 promoviert wurde. Seit 2020 leitet er das Harding-Zentrum für Risikokompetenz.
E-Mail: felix.rebitschekfgw-brandenburgde

Gerd Gigerenzer und das Hardingzentrum für Risikokompetenz

„Wir wünschen uns eine Gesellschaft, die Risiken einzuschätzen und mit ihnen zu leben weiß. Mit unserer Arbeit können wir dazu einen Beitrag leisten“, sagt der Gründer des Harding- Zentrums für Risikokompetenz, Prof. Dr. Gerd Gigerenzer. Der ehemalige Direktor des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung (MPIB) ist Psychologe und Autor zahlreicher Bücher, darunter „Bauchentscheidungen“ und „Das Einmaleins der Skepsis“, die jeweils zum „Wissenschaftsbuch des Jahres“ (2007 und 2002) gekürt wurden. Darin beschäftigt er sich mit der Frage, wie man rationale Entscheidungen treffen kann, wenn Zeit und Information begrenzt sind und die Zukunft ungewiss ist. David Harding, Global Investment Manager und Chef von Winton Capital, wurde auf die Arbeit Gigerenzers aufmerksam, nachdem „Das Einmaleins der Skepsis“ von der Royal Society zum Science Book des Jahres nominiert worden war. Die gemeinsame Vision einer informierten Gesellschaft führte 2009 zur offiziellen Eröffnung des Harding-Zentrums in Berlin. Im Zuge der Emeritierung Gerd Gigerenzer endete 2019 die Zeit des Harding-Zentrums am MPIB. Dank der weiteren Finanzierung durch den Namensgeber und Mäzen David Harding und der Unterstützung der Universität Potsdam kann das Zentrum nun seine Arbeit an der Fakultät für Gesundheitswissenschaften fortsetzen, einer gemeinsamen Fakultät mit der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg und der Medizinischen Hochschule Brandenburg.

https://hardingcenter.de/

 

Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal Wissen - Zwei 2020 „Gesundheit“.