Derzeit herrscht weltweit Ausnahmesituation. Kaum etwas ist noch so wie vor drei Monaten. Gilt das auch für die Menschenrechte?
Andreas Zimmermann: Menschenrechte, wie sie durch das Grundgesetz, aber auch durch völkerrechtliche Verträge wie der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) garantiert werden, gelten nicht schrankenlos; sie enden dort, wo die Freiheit des Anderen beginnt. Darüber hinaus sind sie in der Regel und bis auf bestimmte Kerngarantien wie etwa das Folterverbot beschränkbar, wenn dies aus übergeordneten Gemeinwohlinteressen notwendig ist. All dies ist bereits Teil der rechtlichen „Normallage“. Tatsächlich sehen internationale Menschenrechtsverträge aber auch die Möglichkeit vor, einen Ausnahmezustand zu erklären, so etwa wenn Krieg herrscht oder „das Leben der Nation bedroht“ ist. Dann sind bestimmte – aber nicht alle – Menschenrechte über das Maß hinaus beschränkbar, wie dies bereits in der „Normallage“ möglich ist.
Amnesty International warnt, dass „die Corona-Krise auch eine Gefahr für die Menschenrechte ist“. Stimmt das?
Norman Weiß: Die Gefahr besteht darin, dass Regierungen versucht sein können, die Pandemiesituation auszunutzen, um Einschränkungen von Grund- und Menschenrechten in Kraft zu setzen, für die es sonst keine politischen Mehrheiten gäbe. Zudem besteht die Gefahr, dass sich Regierungen, auch zum Teil in Europa, durch ihre Parlamente die Befugnis einräumen lassen, durch Regierungsdekrete zu handeln und so die parlamentarische Kontrolle der Regierung einzuschränken oder ganz außer Kraft zu setzen.
Derzeit werden etliche Rechte beschränkt, um ein anderes – das Recht auf Gesundheit – zu schützen. Ist das zulässig?
Andreas Zimmermann: Gegenwärtig ist die Frage mit Blick auf die Maßnahmen in Deutschland zu bejahen. Die Einschränkungen erfolgen auf gesetzlicher Grundlage, dem Infektionsschutzgesetz, und dienen dem Schutz der Gesundheit und des Lebens anderer, verfolgen also ein anerkanntes Gemeinwohlziel. Sie sind überdies auch verhältnismäßig, da die Einschränkungen Ausnahmen zulassen und nur befristet gelten.
Wie löst man das Dilemma, die einen Rechte nur wahren zu können, indem man andere beschneidet?
Andreas Zimmermann: Hier gilt es, einen Ausgleich zu schaffen, der in möglichst weitem Umfang eine Balance zwischen den einzelnen Rechten herstellt – ein im Einzelfall nicht immer leichtes Unterfangen.
Die WHO hat schon im Januar den Notstand ausgerufen – inzwischen folgen immer weitere Nationalstaaten und gehen denselben Schritt. Welche Auswirkungen hat das auf die Rechte der Menschen?
Norman Weiß: Wie gesagt erlaubt der menschenrechtliche Ausnahmezustand weitergehende Einschränkungen von Rechten. Tatsächlich haben aber derzeit nur einige wenige Staaten des Europarates, die an die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) gebunden sind, wie etwa zuletzt Norwegen solche Erklärungen abgegeben. Frankreich, Italien, das Vereinigte Königreich und die Bundesrepublik Deutschland sind jedenfalls bislang noch nicht darunter. Alle dort verhängten Beschränkungen bewegen sich aus unserer Sicht noch im Rahmen der menschenrechtlichen „Normallage“. Einer solchen sogenannten Derogationserklärung bedürfte es erst dann, wenn noch weiter gehende Beschränkungen notwendig würden.
Wie weit dürfen Regierungen in Ausnahmesituationen in die Menschenrechte eingreifen? Sind etwa Zwangsverpflichtungen für medizinische Hilfsdienste oder etwa im Ernteeinsatz – wiein Brandenburg für die Spargelernte oder im Gemüseanbau diskutiert, da Pendler und Saisonarbeiter ausbleiben – zulässig?
Andreas Zimmermann: Die EMRK oder auch der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte (Zivilpakt) schließen Zwangs- und Pflichtarbeit grundsätzlich aus. Als solche gelten beispielsweise nicht der Wehr- oder Ersatzdienst, aber auch, und das interessiert uns aktuell, „jede Dienstleistung im Falle von Notständen oder Katastrophen, die das Leben oder das Wohl der Gemeinschaft bedrohen“ (Art. 8 Abs. 3 Buchstabe c III Zivilpakt, Art. 4 Abs. 3 Buchstabe c EMRK). Daraus ließe sich jedenfalls eine Verpflichtung von medizinischem Personal herleiten, so etwa solches, das bereits in Rente ist.
Was halten Sie noch für möglich, wenn die derzeitige Ausnahmesituation länger anhält?
Norman Weiß: Wie erwähnt ist bereits jetzt vieles ohne Abgabe einer Notstandserklärung zulässig. Sollte sich die Lage, wovon eigentlich nicht auszugehen sein dürfte, weiter verschärfen, könnte man, gegebenenfalls nach Abgabe einer Notstandserklärung nach Art. 15 EMRK, an Einschränkungen der Privatsphäre denken, um den Aufenthaltsort von Personen etwa über deren Handy zu bestimmen, oder an weitergehende Beschränkungen. Grundsätzlich möglich wären auch Freiheitsbeschränkungen infizierter Personen, so wie dies Art. 5 EMRK bereits für die „Normallage“, also ohne vorherige Notstanderklärung, ermöglicht.
Die Maßnahmen werden immer als temporär beschrieben, während manch einer mahnt, die Regierungen würden die in Notzeiten eingeräumten Sonderkompetenzen nicht wieder hergeben. Sehen Sie die Gefahr, dass – mit Blick auf die Menschenrechte – hinterher nicht mehr alles so ist wie vorher?
Andreas Zimmermann: Mit Blick auf Deutschland ist es derzeit so, dass die Einschränkungen auf der Grundlage bestehender Rechtsvorschriften, dem Infektionsschutzgesetz, erlassen wurden; der Staat hat sich also nichts zusätzlich eingeräumt. Die getroffenen Maßnahmen wären ohne das Vorliegen einer Pandemie des derzeitigen Ausmaßes natürlich unverhältnismäßig und müssten sofort beendet werden. Insofern besteht hier auf der rechtlichen Seite keine Gefahr.
Problematischer für die Grundrechte könnte es hingegen sein, dass die Bürgerinnen und Bürger weitgehende Grundrechtseinschränkungen als probates Mittel zur Lösung von politischen Problemen auffassen. Hieraus könnte, insbesondere bei geänderten politischen Machtkonstellationen, eine politische Gefahr erwachsen. Derzeit sehen wir diese Gefahr jedenfalls für Deutschland aber nicht. Anders könnte es in solchen, durchaus ja leider auch europäischen, Staaten sein, in denen sich bereits vor der Corona-Krise solche Tendenzen abzeichneten.
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