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„Demokratie verteidigt man mit Demokratie“ – Der Rechtsextremismus-Forscher Gideon Botsch spricht über den Rechtsruck in Deutschland

Apl Prof. Gideon Botsch im Interview. | Foto: Tobias Hopfgarten
Photo : Tobias Hopfgarten
Apl Prof. Gideon Botsch im Interview.
Gideon Botsch hat viel zu tun. Seit Monaten gibt er zahlreiche Interviews für Zeitungen, Radio- und TV-Sender. Doch der Grund dafür ist ihm selbst ein Dorn im Auge: Die Zahl rechtsextremistisch motivierter Anschläge, Übergriffe und Gewalttaten in Deutschland steigt. Vor allem aber erstarken Parteien in Parlamenten auf allen politischen Ebenen des Landes, die mehr oder weniger unverhohlen rechte Positionen vertreten. Ist Deutschland – 75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und dem Untergang des NS-Regimes – auf dem Weg „nach rechts“? Matthias Zimmermann sprach mit Botsch, der am Moses Mendelssohn Zentrum die Emil Julius Gumbel Forschungsstelle Antisemitismus und Rechtsextremismus (EJGF) leitet.

Herr Botsch, gibt es einen Rechtsruck in Deutschland?

Wir können schlecht behaupten, es gebe keinen. Immerhin ist erstmals in allen deutschen Kommunalparlamenten eine rechtsdominierte Partei vertreten, teilweise sogar als stärkste oppositionelle Fraktion. Das ist ein Rechtsruck. Manche Politikwissenschaftler sagen, Ursache dafür seine eine Mitte-links-Orientierung der ehemals konservativen Parteien. Dem schließe ich mich nicht an. Das Schlagwort von der Sozialdemokratisierung der CDU betrifft meines Erachtens nur Teile der Politik unter der Bundeskanzlerin Angela Merkel. Vielmehr würde ich sagen: Wir haben eine formiertere extreme Rechte. Eine politische Landschaft, in der die Sagbarkeitsgrenzen anderswo liegen als noch vor fünf bis zehn Jahren.

Einige Jahre schien es ruhig um rechts – stimmt das?

Nein. Es gab im Laufe der Jahre Auf- und Abwärtsbewegungen bei der politischen Rechten. So waren die 2000er Jahre für die NPD als eigentlich einzige rechtsextreme Akteurin von einiger Geschlossenheit ein Erfolgsjahrzehnt. Sie war über längere Zeit in zwei Landtagen vertreten, in anderen Bundesländern war es die DVU. Mitte der 2000er gab es zudem ein Peak an rechtsextremer Gewalt. Dazwischen gab es immer wieder Formierungsphasen, in denen Netzwerke gebildet und ausgebaut werden. Aber von Ruhe kann keine Rede sein. Ich würde zwar nicht von einer stetigen Erfolgsgeschichte seit 1990 sprechen, aber schon von einer dauernden Präsenz des rechtsextremen Basismilieus – und einer Ausweitung der Wirkungsmöglichkeiten.

Wie zeigt sich das jenseits der politischen Sphäre?

In intensiver Milieubildung. Wir haben das für Brandenburg mal am Beispiel Rechtsrock untersucht und dessen Entwicklung der vergangenen 30 bis 35 Jahre in einem 2019 erschienenen Sammelband dokumentiert. Da kann man deutlich sehen, wie ein politisch-ideologisches und zunehmend verfestigtes Milieu aus einer Jugendkultur herauswächst. Heute befinden sich die Protagonisten in gesetzten Positionen, verdienen gut Geld damit und sind regional sehr anerkannt. Wir beobachten eine Versäulung im rechtsextremen Milieu: Dessen Akteure verdichten ihre Beziehungen und sind nicht darauf angewiesen, Beziehungen nach außerhalb zu knüpfen. Ein Phänomen, das sich im Osten stark beobachten lässt, aber auch im Westen relevant ist.

Warum ist rechts jetzt wieder so präsent?

Dafür kommt eine ganze Reihe unterschiedlicher Gründe und Faktoren zusammen. Der Politologe Cas Mudde, einer der führenden Rechtspopulismus-Experten hat für deren Unterscheidung drei Kategorien vorgeschlagen: Erstens die Nachfrageseite, was im Wesentlichen die Einstellung zum Ausdruck bringt. Hier haben wir ein festes Einstellungsbild, das grob gesagt so groß ist wie die Wählerschaft der AfD – was nicht bedeutet, dass alle Wählerinnen und Wähler der AfD ein rechtsextremes Weltbild haben und alle Menschen mit rechtsextremer Einstellung die AfD wählen. Das wissen wir seit Langem und das ist auch relativ stabil. In anderen Punkten haben wir, das zeigt die Einstellungsforschung, eine andere Tendenz: mehr Toleranz, weniger Feindlichkeit gegenüber Randgruppen. Der differenzierte Blick auf die Gesamtbevölkerung erlaubt kein dramatisches Bild.

Die zweite Seite betrifft die Frage: Wie sind die rechtsextremen Akteure aufgestellt? Und das ist das Element, in dem in den vergangenen zehn bis 15 Jahren der entscheidende Wandel stattgefunden hat. Hier hat man gelernt, sich neu formiert und Dinge ausprobiert – die teilweise gescheitert sind, aber teilweise auch sehr erfolgreich waren. Verantwortlich dafür ist die Kraft des Wechselspiels aus Neonazi-Szene, rechtsextremen und ausländerfeindlichen Straßenprotesten, einer medialen Landschaft und der Radikalisierung der AfD hin zu einer rechtsextremen Bewegungspartei.
Zwischen Nachfrage- und Angebotsseite gibt es eine dritte Ebene, die man als Gelegenheitsstrukturen bezeichnen kann. Das meint Situationen und Gelegenheiten, die es rechtsextremen Akteuren ermöglichen, ihre Einstellungen wirkungsvoll  in der Gesellschaft zu platzieren. Das lässt sich anhand einiger Ereignisse in der jüngeren deutschen Geschichte erklären und interpretieren. Dazu zählen zweifellos die Eurokrise, die viele Menschen an der Stabilität der westlichen Strukturen zweifeln ließ, oder auch die Migrationsereignisse – den Begriff Flüchtlingskrise schätze ich nicht – der vergangenen Jahre. Ein weiterer Anlass wird entstehen, wenn die Debatten um Klimapolitik sich verschärfen. Jegliche Krisen in der parlamentarischen Demokratie nutzen rechtsextreme Akteure aus. Sie leben stark von der Schwäche der etablierten Parteien.

Parlamentarische Demokratie versucht, für Probleme Kompromisslösungen zu finden. Doch das wird schwieriger – auch angesichts neuer Medienstrukturen und -prozesse, die mitentscheidend sind. Der Erfolg von Akteuren, die gerade in Medienprozessen einseitig polarisieren – Trump, Johnson, Bolsonaro –, und auch die Form der Steuerung der öffentlichen Meinung in Russland oder der Türkei offenbaren Tendenzen, die dazu führen, dass gesellschaftliche Spaltungen sich vertiefen.

Ich will keinen Untergang der Demokratie herbeireden. Ich denke, demokratische Systeme können sich verändern und sind dadurch autoritären Regimes überlegen. Aber unsere Verfassung ist auf einige Herausforderungen derzeit nicht optimal vorbereitet. Das über Jahrzehnte gewachsene Verfassungswerk braucht neue Antworten. Da ist auch die Politwissenschaft gefordert. Ich persönlich bin – auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse – kein Freund von stärker plebiszitären Lösungen. Aber das ist das Versprechen der Rechtspopulisten: „Wenn wir die Macht von ‚denen da oben‘ begrenzen, können wir zu besseren Ergebnissen kommen.“ Doch die Hoffnung, dass durch plebiszitäre Elemente eine Erneuerung unserer Demokratie entstehen kann, teile ich nicht. Die Erfahrung mit dem Volksentscheid zum Brexit in Großbritannien stimmt wenig optimistisch.

Wie lässt sich das lösen?

Ein stärker partizipatorisches Element ist wichtig. Aber nicht in Form des Plebiszits. Bisher erfolgte politische Teilhabe vor allem durch ein Engagement in den Parteien, in Deutschland auch in Form betrieblicher Mitbestimmung, über politisch relevante Vereine, Kirchen u.a. Der Potsdamer Politikwissenschaftler Heinz Kleger hat sich viele Gedanken darüber gemacht und vieles auch ausprobiert – vor allem in Sachen Teilhabe auf kommunaler Ebene. Ich meine, wir lösen diese Probleme nicht, wenn wir sagen: weiter so! Ich sehe Potenzial, sie zu lösen. Aber auch die Gefahr ihrer Zerschlagung durch autoritäre Formen – es kann in beide Richtungen gehen.

Ist Rechtspopulismus der neue Rechtsextremismus?

Rechtspopulismus kann rechtsextrem sein, muss es aber nicht. Ich halte nichts von einer begrifflichen Ersetzung, nur weil man sich nicht traut, Rechtsextremismus auch so zu nennen. In Europa haben viele, die in der rechtsextremen Ecke anfingen, auf die „Populismus-Karte“ gesetzt und sich deradikalisert. Bei der AfD ist es genau umgekehrt. Sie ist als nicht rechtsextreme Formation gestartet, auch wenn es in ihr immer starke rechtsextreme Tendenzen gab – und bewegt sich auf einer schiefen Ebene nach rechts unten. In vielen europäischen Ländern wählten rechte politische Kräfte den Weg der Mäßigung – in Deutschland nicht. Die AfD ging den umgekehrten Weg. Ab 2015 entwickelte sie sich zur rechtspopulistischen Protestpartei. Seit 2017/18 wird sie, so muss man sagen, rechtsextrem dominiert. Der Parteitag von Braunschweig Ende 2019 hat dies dramatisch bestätigt. Der Brandenburger Landesverband war indes immer schon ein rechtsextremer. Im Unterschied zur ersten Landtagsfraktion ist bei der jetzigen rund ein Drittel der Abgeordneten über die Schiene der Straßenproteste in die Partei eingezogen, ein weiteres Drittel steht diesen Kräften nah. Das ist schwer zu mäßigen und drängt immer wieder an die Oberfläche.

Gibt es noch alte und neue Rechte?

Als neue Rechte bezeichnen wir einen bestimmten Kontinuitätsstrang im europäischen Rechtsextremismus, der bemüht ist, in seiner Ideologieproduktion vormals konkurrierende Nationalismen in einen europäischen Rahmen zu integrieren. Damit steht sie im Konflikt zur „alten Rechten“, die ausschließlich im nationalen Rahmen dachten. Die neue Rechte bemüht sich entsprechend, keinen Bezug zum deutschen Nationalsozialismus herzustellen, tritt von NS-Symbolen zurück und stellt einige nationale Widersprüche bewusst zurück.

Schlagzeilen machen ja rechte Bewegungen wie die Reichsbürger, Identitäre, AfD. Was verbindet diese, was trennt sie?

Was sie verbindet: ein radikaler Nationalismus auf der Grundlage des Herkunftsprinzips. Abgeleitet davon das Bild, Feinde von außen wollten das deutsche Volk absichtsvoll beseitigen und ersetzen. Verantwortlich dafür ist, und hier setzt der gemeinsame Verschwörungsmythos ein, eine volksverräterische Elite, die diese Ersetzung durchziehen will. Damit sind auch die Feindgruppen schnell benannt; derzeitige Lieblingsfeinde sind die Grünen, aber das ist relativ austauschbar.

Die AfD hat in Brandenburg und Sachsen erreicht, wovon NPD & Co. jahrelang geträumt haben. Was ist das Geheimnis ihres Erfolges?

Von diesem Erfolg haben auch ganz andere Parteien geträumt. 25 Prozent der Brandenburger haben die AfD gewählt, das sind nicht nur Abgehängte. Dafür gibt es komplexe Erklärungen. Neu und bemerkenswert ist, dass es ihnen dank ihrer kommunikativen Strategien gelungen ist, sich gegen bestimmte Formen der politischen Auseinandersetzung zu immunisieren. Dass jemand wie Brandenburgs AfD-Chef Andreas Kalbitz durch seine rechtsextreme Vergangenheit und stabile Verbindungen in die Szene so gar nicht unter gesellschaftlichen Druck gerät, zeigt, dass sich kommunikativ in diesem Land einiges geändert hat. Wenn – wie es die AfD im Wahlkampf im August 2019 im Osten tat – das aktuelle Deutschland mit der DDR gleichgesetzt wird, bewirkt das keinen lautstarken Protest, sondern breite Debatten in den Feuilletons angesehener Zeitungen. Der Ruf nach einer Wende 2.0 und die Behauptung, eine Beobachtung der AfD durch den Verfassungsschutz sei „Stasi 2.0“ zeigt, wie sehr sich Debatten unwidersprochen von Fakten entkoppeln können. Es ist durchaus möglich, dass Teile der Bevölkerung vergessen haben, was eine Diktatur bedeutet. Auf jeden Fall offenbaren diese Beispiele einen Mangel an politischer Bildung – und zeigen, vor welchen Herausforderungen auch wir als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler stehen.

Gibt es ein Kraut gegen den Erfolg der Rechten?

Demokratie! Für ein Land wie Brandenburg müssen wir feststellen, dass der demokratische Verfassungsstaat – als positive Größe –, der Partizipationsmöglichkeiten nicht nur erlaubt, sondern will und generiert, von der Lebenswirklichkeit vieler Bürgerinnen und Bürger sehr weit weg ist. Und nun haben wir die AfD, die sagt, sie kümmert sich. Dabei ist die AfD, die im Landtag sitzt, nicht die Partei, die sich um die Probleme der Menschen kümmert. Der Rückzug der Parteien aus der Fläche wurde in Brandenburg schon sehr früh diskutiert. Nur passiert ist wenig. Demokratie verteidigt man mit Demokratie. Indem man sie belebt. Die Potenziale, die die AfD an sich bindet, werden das hemmen. Das merkt man bereits auf kommunaler Ebene, wenn Sitze der Vertretungsorgane besetzt sind durch Kräfte, die an konstruktiver demokratischer Politik kein Interesse haben. Das ist ja das AfD-Verständnis: nicht eine vermittelte strukturierte demokratische Gesellschaft, sondern Agitation und Hetze gegen vermeintliche Funktionäre. Das ist keine Belebung der Demokratie. Wir haben die Chance, die Demokratie ernsthaft zu erneuern. Und ich würde mir wünschen, dass es getan wird.

 

Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal - Eins 2020 „Bioökonomie“.