500 Meter Fußweg liegen zwischen Hotel und Schule. 500 Meter, auf denen Miriam Vock viele Fragen durch den Kopf gehen: Ist das Konzept stimmig? Wird der gute Eindruck, den die Otfried-Preußler-Schule in ihrer Bewerbung für den Deutschen Schulpreis gemacht hat, in der Praxis bestätigt? Voller Erwartung und auch ein wenig aufgeregt betritt sie wenige Minuten später den Neubau der Grundschule.
Es ist erst ihr zweiter Schulbesuch, bei dem sie selbst als Jurorin dabei ist. Seit diesem Jahr gehört die Professorin für Empirische Unterrichts- und Interventionsforschung an der Universität Potsdam zur Jury des Deutschen Schulpreises, der seit 2006 jedes Jahr von der Robert Bosch Stiftung und der Heidehof Stiftung verliehen wird. Die Aufgabe der Jury ist es, aus allen Bewerbungen zunächst die TOP-20- Schulen zu identifizieren. Diese werden dann jeweils zwei Tage lang von einem Team – bestehend aus Expertinnen und Experten aus Wissenschaft und Praxis – besucht. Im März einigt sich die Jury ausgehend von den Bewertungen der Besuchsteams auf bis zu 15 Schulen, die für den Deutschen Schulpreis nominiert werden. Die Auszeichnungen werden dann am 20. Mai in Berlin verliehen.
Im vergangenen Jahr hat Miriam Vock bereits einen Schulbesuch als Gast begleitet, um sich schon mal einzuarbeiten. In diesem Jahr durchlebt sie nun den Prozess aktiv – von der Sichtung der Bewerbungsunterlagen bis zur Preisverleihung. „Es ist spannend, sich so intensiv mit einer Schule zu befassen und so tiefe Einblicke in ihre Strukturen und in die Arbeit des Teams zu bekommen“, sagt sie.
Die Otfried-Preußler-Schule, eine teilgebundene Ganztagsgrundschule, liegt in der Südstadt Hannovers. Der Stadtteil ist besonders bei Familien aus einem bildungsnahen Umfeld beliebt. Die Schule hat vor zehn Jahren mit der Entwicklung zur Inklusionsschule begonnen. Vor vier Jahren zog sie in einen Neubau. Heute gehen hier rund 400 Kinder zur Schule, mehr als zehn Prozent mit teils umfangreichen Förderbedarfen.
Zwei Tage dauert der Besuch an der Otfried-Preußler-Schule
Der zweitägige Schulbesuch ist ein wesentliches Instrument des Auswahlverfahrens für den Deutschen Schulpreis. In den zwei Tagen, die immer nach demselben Muster ablaufen, sind ein bis zwei Mitglieder der Jury und zwei bis vier Mitglieder der Vorjury dabei. Begleitet werden sie von einem Vertreter der Robert Bosch Stiftung oder der Heidehof Stiftung, der nicht an der Bewertung beteiligt ist. Die Jurorinnen und Juroren, die immer mindestens zwei Schulen besuchen, um Vergleiche ziehen zu können, schauen sich die verschiedenen Unterrichtsangebote an, sprechen mit dem Schulleitungsteam, dem Kollegium, den Eltern, den Schülerinnen und Schülern sowie den Kooperationspartnern. „Und wir versuchen Antworten auf die Fragen zu finden, die möglicherweise bei der Durchsicht der Bewerbungen noch offengeblieben sind“, erklärt Miriam Vock.
Die Bewertung erfolgt anhand von sechs Qualitätsbereichen. Nur wenn die Schule in allen Bereichen überzeugt, hat sie Chancen auf einen der sechs Preise.
Auch wenn die Aufregung bei den Jurybesuchen in den Schulen groß ist, ist es für die Jurorinnen und Juroren besonders wichtig, einen möglichst authentischen Einblick in den Schulalltag und den Unterricht zu bekommen. Als das Team am Nachmittag die Otfried-Preußler-Schule betritt, hört man ein Kind rufen: „Sie kommen!“ Und schon hat sich ein kleines Empfangskomitee am Eingang versammelt. Die Schulleiterin Alexandra Vanin begrüßt die Gäste und übergibt sie dann gleich den Kindern Caja, Rika und Enno, die die Schulführung übernehmen. Zusammen gehen sie die Treppe rauf und runter, den Gang nach rechts, durch das nächste Haus links, schauen in alle Räume, und Miriam Vock fragt, was denn Inklusion für sie heiße. Enno hat da eine klare Antwort: „Das bedeutet, dass alle Kinder auf eine Schule können.“
Im ausführlichen Gespräch mit dem Schulleitungsteam der Otfried-Preußler-Schule lassen sich Miriam Vock und ihre Kollegen Hermann Veith und Monika Buhl von der Vorjury den Entwicklungsweg der Schule und ihre Konzepte beschreiben. Miriam Vock macht sich viele Notizen, hakt nach: „Wie sieht es mit dem Übergang in die weiterführende Schule nach der vierten Klasse aus?“ Sie will wissen, wie viele Kinder dann aufs Gymnasium wechseln und inwieweit ihre inklusive Beschulung dann fortgesetzt werden kann. Und ob es denn auch Dinge gebe, die vielleicht nicht so gut laufen, wo die Leitung möglicherweise selbst noch Verbesserungsbedarf sieht.
Hier ist viel Fingerspitzengefühl gefragt. Denn Ziel ist ja nicht, das Haar in der Suppe zu finden. „Wir wollen den Schulen mit Offenheit und Wertschätzung begegnen“, erklärt sie die Haltung, mit der die Jury die Schulen besucht. „Eher kritische Freunde als Kritiker“, bringt sie es auf den Punkt.
Nach weiteren Gesprächen mit den Eltern und Kooperationspartnern der Otfried-Preußler-Schule ist für diesen Tag genug gesprochen. Die Jury zieht sich ins Hotel zurück. Es geht ja am nächsten Tag schon wieder um 7.30 Uhr los. Dann ist zwar noch kein Unterricht, aber die drei Jurymitglieder wollen sich ein Bild von der Atmosphäre am Morgen machen. Auch das sind für sie wichtige Beobachtungen.
Viele Unterrichtssituationen erleben
„Jetzt bin ich gespannt auf den Unterricht“, sagt Miriam Vock und betritt um 8 Uhr zunächst den Klassenraum einer dritten Klasse. Die Lehrerinnen Johanna Ewerlin und Doris Nähler beginnen mit dem Morgenkreis, zum Teil in Englisch. Vock beobachtet alles genau, lässt sich von den Lehrerinnen erklären, wie die Zusammenarbeit zwischen Kindern mit und ohne Förderbedarf konkret läuft, und von den Kindern die Matheaufgaben, die sie in Kleingruppen lösen. Am Vormittag des zweiten Besuchstages geht es darum, möglichst viele Unterrichtssituationen zu sehen. Darum teilt sich die Jury hier auf und wechselt etwa alle 20 bis 30 Minuten den Raum. In einer späteren Runde mit mehreren Schülerinnen und Schülern fragt Miriam Vock auch, was ihnen bei den Lehrkräften wichtig ist, und muss lächeln bei der Antwort: „Dass die Lehrer hier nicht nur den ganzen Tag bla bla bla sagen, sondern wir auch selbst bestimmen können, was wir lernen.“
Erst am Nachmittag, als der Unterricht vorbei ist und alle Gespräche geführt sind, ziehen sich Vock, Veith und Buhl wieder in einen Besprechungsraum zurück. Nun tauschen sie ihre Eindrücke aus den Hospitationen aus, klopfen anhand eines Bewertungsrasters noch mal alle Punkte ab, um dann schließlich zu einer Einschätzung zu kommen, ob sie die Schule für eine Nominierung der besten 15 Schulen oder sogar für einen Preis empfehlen wollen.
Keine Hinweise zur Bewertung während des Schulbesuchs
Sind sonst die Türen in der Schule meist geöffnet – die Tür zum Besprechungsraum ist in diesem Moment geschlossen. Nichts von der Bewertung soll nach außen dringen. Auch als sich das Team dann für ein abschließendes Gespräch mit der Schulleitung trifft, gibt es keine Hinweise zur Bewertung. Erst im Anschluss an die Preisverleihung erhält jede der TOP-20 Schulen ein ausführliches Feedback. Aber in diesem Moment ist ja tatsächlich noch nicht klar, wohin die Reise geht: welche Eindrücke die anderen Jurymitglieder von ihren Schulbesuchen in die Jurysitzung am 18. März tragen, wie eng das Rennen am Schluss wird.
Nach insgesamt fast 14 Stunden an der Otfried-Preußler-Schule packt Miriam Vock wieder ihre Sachen ein und macht sich auf zum Bahnhof. Dabei hat die neue Jurorin viele Eindrücke und vor sich eine schwierige Frage: Welche Schulen sollen in diesem Jahr den Deutschen Schulpreis bekommen?
Text: Annette Kuhn (Deutsches Schulportal)
Foto: Miriam Vock_privat/Hoffototgrafen
Internet: „Kritische Freunde“ beim Schulbesuch