Maxi legt ihren Kopf auf dem Tisch ab und schließt die Augen, während Juliane und Tim sich unterhalten, Paul mit Papierkugeln wirft und Sarah einen Apfel isst. Die Schülerinnen und Schüler im Virtuellen Klassenzimmer verhalten sich nicht gerade vorbildlich. Und die Studierenden im Lehramt an der Universität Potsdam müssen damit umgehen. Mit einer Virtual Reality-Brille und zwei Controllern in den Händen gehen sie durch den virtuellen Raum und versuchen, die Aufmerksamkeit der Störenfriede zurückzugewinnen.
„Klassenmanagement in Theorie und Praxis“ nennt sich das Seminar für angehende Lehrerinnen und Lehrer, das seit dem vergangenen Wintersemester angeboten wird. „Gerade Novizen sind von Störungen im Unterricht oft überfordert“, sagt Dirk Richter, Professor für Erziehungswissenschaftliche Bildungsforschung. „Denn die besten didaktischen Ideen nützen mir nichts, wenn ich das Klassenmanagement nicht beherrsche.“ Was darunter zu verstehen ist, erklärt der akademische Mitarbeiter Eric Richter. „Ein gutes Klassenmanagement bedeutet, die Lernzeit hoch zu halten, Störungen vorzubeugen und angemessen zu intervenieren, wenn sie dennoch auftreten.“
Diese Fähigkeit könnten die Studierenden zwar auch mit Rollenspielen erlernen. Die Vorteile des virtuellen Klassenraumes sind jedoch, dass sich die angehenden Lehrerinnen und Lehrer an standardisierten Situationen ausprobieren können. Und sie tauchen stärker in die Lehrendenrolle ein, als dies mit Kommilitonen möglich wäre.
Das weiß auch Dr. Raphael Zender vom Institut für Informatik und Computational Science, der das virtuelle Klassenzimmer mit seinem Team entwickelt hat. „Für ausgewählte Bildungsszenarien ist Virtual Reality sinnvoll, weil sie uns Erfahrungen erlaubt, die wir in der Realität nicht machen könnten“, sagt Zender, der sich auf Bildungstechnologien spezialisiert hat. „Gleichzeitig erzeugen virtuelle Räume Emotionen: Wir fühlen uns in der Regel tatsächlich physisch beteiligt.“ Die angehenden Lehrerinnen und Lehrer sind dadurch auf Stresssituationen besser vorbereitet. „Einzelne Studierende sagten uns nach dem ersten Versuch: Ach, so fühlt es sich also an, vor einer Klasse zu stehen!“
Fünf Mal im Semester nutzen Professor Richter und sein Mitarbeiter Eric Richter in insgesamt drei Seminaren die VR-Brillen, in der restlichen Zeit erarbeiten sie mit den Studierenden die dazugehörige Theorie. Eine Studentin oder ein Student erhält eine Aufgabe für den virtuellen Klassenraum, während die anderen zuschauen. Anschließend reflektiert die angehende Lehrperson den eigenen Umgang mit den Schülern, dann geben die Kommilitoninnen und Kommilitonen Feedback. So schlüpfen die Seminarteilnehmenden in die Rolle professioneller Beobachter. „Wir wollen vor allem, dass die Studierenden ihre eigene Performance reflektieren lernen. Es gibt schließlich kein Patentrezept für richtiges Verhalten.“
Bei den angehenden Lehrkräften kommt die interaktive Anwendung gut an – schließlich können sie vor einer Klasse stehen, ohne den Campus zu verlassen. Auch für sie ist das virtuelle Lernen eine neue Erfahrung. Gleichzeitig sehen sie, wie die beiden Seminarleiter, das Entwicklungspotenzial. So könnte das Klassenzimmer noch realistischer gestaltet sein und mehr Interaktionsmöglichkeiten mit den virtuellen Schülern wären wünschenswert.
Für Professor Dirk Richter und sein Team dient das Seminar auch Forschungszwecken. Den ersten Durchgang im vergangenen Wintersemester haben sie bereits ausgewertet. Denn sie wollen sowohl das Seminarkonzept als auch die Anwendung selbst zusammen mit den Informatikern um Raphael Zender weiterentwickeln. Außerdem wird Dirk Richters Mitarbeiterin Yizhen Huang ein Eyetracking-Modul entwickeln, um anhand von Blickbewegungen die Lehrkompetenzen der Studierenden zu untersuchen. Vielleicht stehen Studierende dann künftig häufiger vor einer Klasse – zumindest vor einer virtuellen.
Video zum VR-Projekt: https://mediaup.uni-potsdam.de/Play/10600
Dieser Artikel erschien im Universitätsmagazin Portal.
Text: Dr. Jana Scholz
Online gestellt: Sabine Schwarz
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