Im Trainingsraum der Potsdamer Hochschulambulanz: Eine junge Frau und ein Mann mittleren Alters befinden sich vor einem Wandspiegel – im Seitstütz. Sie stemmen die Hüfte hoch, halten kurz die Position, und lassen sie wieder sinken. Die Mühe ist ihnen ins Gesicht geschrieben. Mitten in der Bewegung rollen sie einen faustgroßen Ball gegen die Wand und nehmen ihn von dort, wo er zurückrollt, wieder auf. Die Übung im Trainingsraum der Potsdamer Hochschulambulanz ist Teil des Trainingsprogramms, das Forschende des Netzwerks „MiSpEx“ entwickelt haben und das sich als besonders wirkungsvoll bei Rückenschmerzen erwiesen hat.
„Das Erfolgsrezept ist, in ein Training Störreize, sogenannte Perturbationen, einzubauen. Denn damit simulieren und trainieren wir genau die Situationen, in denen Rückenschmerzen überhaupt entstehen – wenn überraschend Kräfte auf unseren Körper einwirken, die wir nicht erwartet haben“, erklärt Prof. Dr. Frank Mayer. Der Sportmediziner leitet die Hochschulambulanz und auch „MiSpEx“, das von Potsdam aus koordiniert wird. Ins Leben gerufen wurde das Netzwerk, weil Rückenschmerzen längst Volkskrankheit Nummer eins sind. „Gerade in den westlichen Industrienationen nehmen sie zu. Neun von zehn Menschen haben hierzulande im Laufe ihres Lebens Rückenschmerzen“, so Mayer. „Vor allem aber sind chronische Rückenschmerzen auf dem Vormarsch, was dramatische Konsequenzen hat.“ Immer mehr Menschen seien lange vor dem Rentenalter arbeitsunfähig, aber auch durchtrainierte Spitzensportler müssten ihre Karrieren frühzeitig beenden – weil der Rücken nicht mehr mitmacht.
Die Forschung des Netzwerks soll helfen gegenzusteuern. Seit 2011 wurden unter dem Titel „Ran Rücken“ rund 8.000 Gesunde sowie Patientinnen und Patienten mit Rückenschmerzen aus der Allgemeinbevölkerung und dem Spitzensport in 34 Projekten wissenschaftlich und klinisch betreut. Ein gewaltiges Projekt, an dem Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zahlreicher Disziplinen beteiligt sind. „Es war ein großer Erfolg, dass die Beteiligten sämtliche Fachgrenzen überwunden haben, um gemeinsam ein wirksames Training gegen Rückenschmerzen zu entwickeln.“
Dafür wurden in einem ersten Schritt neue Übungen entwickelt und getestet. Diese sollten zum einen typische Belastungssituationen abbilden. Zum anderen galt es, jene Störreize einzubauen, die, wenn sie trainiert werden, den Rücken letztlich fit machen und Rückenschmerzen mildern und sogar vorbeugen. Rudern im Einbeinstand, Kniebeuge auf wackligem Grund oder Seitstütz mit Ballspiel. Das Besondere: Die Forschenden hatten dabei stets Spitzensportler und die Allgemeinbevölkerung im Blick. Denn nicht nur sind beide gleichermaßen betroffen und damit Zielgruppen für eine Behandlung. Die „MiSpEx“-Forschung zum Rückenschmerz profitiert auch davon, wenn sie die Erkenntnisse aus der regulären Gesundheitsversorgung und der Spitzensportbetreuung zusammenführt, wie Sportmediziner Mayer erklärt: „Aus der Forschung zum Spitzensport wissen wir viel darüber, wie ein Körper mit extremen Belastungen trainiert werden kann, ohne überlastet zu werden. Genau das brauchen wir für den Alltag, denn dort gibt es ständig extreme Belastungen: Schon wenn wir die Treppe zügig hinuntergehen, lastet bis zum 2,5-fachen unseres Körpergewichts auf uns!“
In der zweiten Phase des Projekts wurde das Trainingsprogramm unter realen Bedingungen auf Herz und Nieren geprüft. Mit Erfolg, wie Projektleiter Mayer nicht ohne Stolz sagt. „Natürlich wussten wir, dass nicht Schonung, sondern Bewegung hilft. Aber dass sich unsere Annahme, man müsse genau jenen Reiz trainieren, der für den Schmerz verantwortlich ist, derart deutlich bestätigt, hat uns schon ein wenig überrascht. Positiv natürlich!“
Das Fazit aus acht Jahren „Ran Rücken“ fällt entsprechend gut aus. „Wir konnten zeigen, dass ein Training, das Pertubationen enthält, wirkt. Und zwar für alle mit leichten bis mittleren Rückenschmerzen. Das sind immerhin 80 Prozent“, so Mayer. Zudem lasse sich mit relativ geringem Aufwand viel erreichen: Zwölf Wochen Training mit zwei 30-minütigen Einheiten pro Woche reichten aus, um eine deutliche Verbesserung zu erreichen. „Dass man mit dem Umfang derart weit runtergehen kann, hatten wir nicht unbedingt erwartet. Gleiches gilt für die Effektivität des Trainings, das sich auch nach Ende des Trainings noch einige Zeit positiv auswirkt.“ Bis zu sechs Monate lang. Spätestens dann sei es nötig, das Training wieder anzupassen – mit anderen Störreizen.
Allerdings sei Training nicht gleich Training, betont der Sportmediziner. Für „Otto Normalverbraucher“ sei es empfehlenswert, ein Programm aus einigen Übungen zusammenzustellen, die Alltagssituationen ähneln – Treppensteigen, eine Wasserkiste schleppen, Dinge aufheben –, und mit Pertubationen „anzureichern“. Diese Übungen sollten drei Wochen lang unter Anleitung eines Physio- oder Trainingstherapeuten eingeübt und anschließend über neun Wochen hinweg zu Hause fortgesetzt werden. Bei Spitzensportlern sei ein anderes Vorgehen sinnvoll: Hier müsse der Störreiz in typische Trainingsabläufe integriert werden, etwa indem eine sportartspezifische Übung angepasst oder im Kraftraum neu entwickelt wird. Das gehe natürlich nur in enger Zusammenarbeit mit den jeweiligen Trainern. Dabei kam den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zugute, dass sie an den verschiedenen Standorten des Netzwerkes oft schon lange Spitzenathleten unterschiedlichster Disziplinen betreuen. Rudern, Fußball, Kanu, Rugby, Hockey oder Volleyball – die Anpassung des Trainings hat sich bewährt.
Umso wichtiger ist nun, da die Projektlaufzeit von „Ran Rücken“ dem Ende zugeht, auch jene zu überzeugen, die für Gesundheitsversorgung und -vorsorge zuständig sind. „Wir sind derzeit im engen Kontakt mit vielen Partnern und Einrichtungen, damit unsere Erkenntnisse auch in die Regelversorgung übergehen“, so Mayer. Aufklären, informieren, schulen. Schon jetzt tragen Krankenkassen die Kosten für die entwickelten Kurse, große Bundesbehörden wie das Innenministerium oder die brandenburgische Landespolizei integrieren das neue Rückentraining in ihre betriebliche Gesundheitsvorsorge, zahlreiche Spitzensportverbände nehmen die Erkenntnisse in ihre Trainerausbildung auf. Aber auch zahlreiche Arzt- und Physiotherapiepraxen überall im Land erhalten Materialien, die eigens für sie entwickelt wurden. Nicht zuletzt entsteht derzeit als bleibendes Ergebnis der jahrelangen Forschung ein großes „Rücken-Buch“. „Es enthält den Stand der Forschung, aber auch ganz konkrete Anleitungen für Kurse und Studios. Mit dem Buch wollen wir als ‚MiSpEx‘ schon einen bleibenden ‚Fußabdruck‘ hinterlassen“, sagt Frank Mayer. Er selbst hat übrigens sein persönliches Rückentraining auch um ein paar Störreize ergänzt. Erfolg überzeugt.
Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal 2/2019.
Text: Matthias Zimmermann
Online gestellt: Sabine Schwarz
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