Seit drei Monaten ist Sebastian Griemes Herd kaputt. Eine E-Mail an die Hausverwaltung zu schreiben, hat er seither nicht geschafft. Der 19-Jährige arbeitet oft mehr als zehn Stunden am Tag und schläft seit vielen Monaten nur wenig. Schuld ist der Klimawandel. „Die Zeit rennt uns davon“, sagt der Student. „Aber wir können nicht aufhören, ehe die Regierung aufs 1,5-Grad-Ziel hinarbeitet.“ Sebastian Grieme ist einer der Köpfe von Fridays for Future. Er war führend an der Ausarbeitung des wissenschaftlich basierten Forderungskatalogs der Bewegung beteiligt und hat diesen gemeinsam mit drei anderen Schülerinnen und Schülern im April 2019 der versammelten Hauptstadtpresse vorgestellt. Seitdem hat er darüber mit etlichen Vertretern aus Presse, Politik, Wissenschaft und Wirtschaft diskutiert.
Fragt man den Studenten, der an der Universität Potsdam Physik studiert, auf wessen Handeln es in Zeiten der rasanten Klimaerwärmung ankomme, erhält man schnell eine eindeutige Antwort: die Politik. „Wenn die Bundesregierung und letztendlich der Steuerzahler den Verbrauch fossiler Energien mit 46 Milliarden und darunter den Flugverkehr mit zwölf Milliarden Euro subventioniert und gleichzeitig die volle Mehrwertsteuer auf das Bahnfahren erhoben wird – wie kann der Einzelne dagegen ankommen?“ Grieme findet außerdem, dass es Bürgerinnen und Bürgern zu schwer gemacht wird, sich über die klimafreundliche Varianten zu informieren. „Die Politik muss für Transparenz sorgen“, sagt der 19-Jährige.
Monatelang arbeitete er an den Forderungen, mit denen die Aktivistinnen und Aktivisten im April an die Öffentlichkeit gingen. Sechs Ziele gehören dazu: Bis 2035 soll Deutschland nicht mehr CO2 produzieren, als durch die Natur ausgeglichen werden kann, sich zu 100 Prozent aus erneuerbaren Energien versorgen und bis 2030 vollständig aus der Kohleverstromung aussteigen. Die drei weiteren Forderungen sind kurzfristiger Art: Bis Ende des Jahres 2019 soll Deutschland fossile Energieträger nicht mehr subventionieren, ein Viertel der Kohlekraft abschalten und Treibhausgasemissionen besteuern; der Preis für den Ausstoß von CO2 soll dabei sehr schnell auf 180 Euro pro Tonne CO2 steigen, denn dieser Schaden wird durch die Treibhausgase angerichtet. Dass diese Ziele noch bis Jahresende erreicht werden, bezweifelt Grieme jedoch.
Das Problem ist, so der Student, dass sich die Menschen, und gerade auch die Politikerinnen und Politiker, der Tragweite des Problems noch immer nicht bewusst seien. „Es ist das wichtigste Thema unserer Zeit, aber die Führungskräfte im Land machen dicht.“ Zugleich sei es ein komplexes Thema, dessen physikalische Mechanismen nicht leicht zu verstehen seien. Sebastian Grieme glaubt, viele Politikerinnen würden sich einfach nicht gründlich informieren. Und das, obwohl die Wissenschaft seit Jahrzehnten über den Klimawandel auf den dringenden Handlungsbedarf hinweist. Aus seiner Sicht hat bislang keine Partei einen Plan entwickelt, wie die Klimaerwärmung auf unter 1,5 Grad Celsius einzudämmen ist. „Die Große Koalition steuert derzeit auf eine Erderwärmung um die drei Grad Celsius zu“, sagt Grieme. Dann würden in wenigen Jahrzehnten sämtliche Korallenriffe absterben, ein Lebensraum, der eine halbe Milliarde Menschen ernährt. Wie dramatisch die Situation für das Leben auf der Erde ist, zeigt auch eine kürzlich veröffentlichte Science-Studie. Vor 15 Millionen Jahren waren die Kohlendioxid-Konzentrationen in der Atmosphäre ähnlich hoch wie heute. Doch damals gab es kein Arktiseis und der Meeresspiegel lag 30 Meter höher.
Zeitgleich mit der Veröffentlichung des Forderungskatalogs zog Grieme von zu Hause aus und verließ seine Heimatstadt Mainz, um an der Universität Potsdam Physik zu studieren. Da er schon während des Abiturs ein Frühstudium an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz absolviert hat, kommt er jetzt ins dritte Fachsemester. Auf Potsdam fiel die Studienwahl nicht zuletzt, weil hier das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) sitzt. Bei Stefan Rahmstorf, gemeinsam berufener Professor für die Physik der Ozeane an der Universität Potsdam und am PIK, besuchte er schon ein erstes Seminar. Aber eine Hausarbeit schreiben wird er dieses Jahr wohl nicht mehr. „Ich muss viele Abstriche machen, was Studium und Freizeit betrifft, und wälze stattdessen Klima-Studien.“
In der Woche, als wir uns für das Interview treffen, jagt gerade ein Termin den nächsten. Am Montag hat er in der Landespressekonferenz die Forderungen von Fridays for Future Brandenburg vorgestellt und am Dienstag war er für Filmaufnahmen beim Südwestdeutschen Rundfunk. Am Tag nach unserem Interview ist er mit Guido Kerkhoff verabredet, dem Vorstandsvorsitzenden des Industriekonzerns Thyssenkrupp, der ihn über das soziale Netzwerk Twitter zum Gespräch eingeladen hatte.
Ein bisschen mulmig ist ihm schon vor Terminen wie dem beim Thyssenkrupp-Konzern-Chef. „Wir machen Jobs, die wir in unserem Alter eigentlich gar nicht machen sollten. Es ist eine Riesenherausforderung, den Konzernchefinnen und -chefs sowie teilweise auch den Politikern den Klimawandel zu vermitteln. Und wir können jederzeit instrumentalisiert werden.“ Alles, was Grieme und seine Mitstreiter tun, tun sie ehrenamtlich. Und dabei sind sie auf sich selbst gestellt. „Unsere Bewegung hat keine Vorbilder, wir haben keine Strukturen, an denen wir uns orientieren könnten wie Vereine oder Parteien.“ Ein historisches Vorbild fehle auch deshalb, da es eine Jugendbewegung in dieser Größenordnung und Stetigkeit seit Jahrzehnten nicht gegeben habe: Am globalen Klimastreik am 24. Mai 2019 nahmen allein in Deutschland 320.000 Demonstrierende teil.
„Wir haben eine enorme Reichweite“, sagt Grieme. Auf Twitter hat Fridays for Future Germany rund 70.000 Follower, auf Instagram sind es an die 200.000. Die Bewegung organisiert sich über 600 Ortsgruppen, welche die Streiks in den Städten organisieren und ein bis vier Delegierte, sogenannte „Delis“, auf die Bundesebene entsenden. An der wöchentlichen Deligierten-Telefonkonferenz nehmen rund 100 Menschen teil. Die Bewegung organisiert sich in Arbeitsgruppen, etwa zu den Forderungen, zur Pressearbeit oder der Kommunikation mit den „Parents for Future“, den Eltern, die die Jugendbewegung unterstützen. Inzwischen haben sich viele Studierende der Schülerbewegung angeschlossen. Umgekehrt sind einige der Aktivisten der Schule entwachsen und haben ein Studium begonnen. Diese Entwicklung befürwortet der Physik-Student. Wenn am 20. September 2019 der nächste globale Klimastreik stattfindet, sollen nicht nur Schülerinnen und Schüler demonstrieren, sondern das ganze Land. „Wir brauchen den Druck von der Straße.“
Wann er angefangen hat, den Klimawandel wahrzunehmen, weiß Grieme gar nicht mehr genau. Es liegt auf jeden Fall schon viele Jahre zurück. Er wurde Vegetarier, fuhr öfter als bisher Fahrrad und begann, Plastikmüll zu vermeiden. Das politische Engagement entstand vor rund einem Jahr, Ende 2018, als er sich mitten im Abiturstress Fridays for Future anschloss. Dass die Schülerbewegung in kürzester Zeit großen Einfluss gewonnen hat, liegt Grieme zufolge auch am Klima selbst. Die Dürre und Hitze der vergangenen fünf Jahre, die global die heißesten seit Beginn der Wetteraufzeichnungen waren, hätten vielen Menschen den Klimawandel erst richtig vor Augen geführt. Wir alle, die Menschheit unserer Zeit, seien nun in einer „historischen Verantwortung“, betont er. „Alle zukünftigen Generationen hängen davon ab, ob wir gehandelt haben.“
Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal 2/2019.
Text: Jana Scholz
Online gestellt: Jana Scholz
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