2019 steht landauf, landab im Zeichen eines berühmten Brandenburgers: Theodor Fontane. Da versteht es sich von selbst, dass jene Institution vorangeht, die sein Erbe verwaltet – archivarisch und wissenschaftlich. Am Theodor-Fontane-Archiv an der Universität Potsdam herrscht anlässlich von fontane.200 Hochbetrieb. Aber nicht erst seit Beginn des Fontane-Jahres. Matthias Zimmermann sprach mit Prof. Dr. Peer Trilcke, dem Leiter des Archivs, über große und kleine Projekte, die Neuentdeckung Fontanes als Medienarbeiter und die Möglichkeiten der Fontane-Forschung im Zeitalter umfassender Digitalisierung.
Wissenschaftliches Herzstück des Fontane-Jahrs ist der viertägige Kongress „Fontanes Medien (1819–2019)“. Was hat es mit diesem Thema auf sich?
Das gesamte 19. Jahrhundert wird gegenwärtig als modernes Jahrhundert neu entdeckt, das geprägt ist durch Globalisierung und Medien-wandel – von der Eisenbahn bis zu den ersten Massenmedien. Früher betrachtete man Fontanes Romane ohne zu berücksichtigen, dass sie alle als Fortsetzungstexte in Zeitschriften und Zeitungen erschienen waren, ehe sie in Buchform gedruckt wurden. Dass nun literarische Texte in die journalistische Alltagskommunikation eingebettet werden und ein erhabener Literaturbegriff damit verabschiedet wird, ist nur auf den ersten Blick ein Verlust. Denn die Forschung gewinnt einen viel besseren Einblick in das Wesen der Texte dieser Zeit: ihre Serialität, ihre Orientierung am Zeitungspublikum und auch ihre journalistischen Schreibformen – Züge, die für Fontane besonders bedeutungsvoll sind, weil er selbst lange Zeit als Journalist tätig war. Es gibt das ikonische Fontane-Bild von einem alten Mann am Schreibtisch, umgeben von Medien: Stifte, Zeitungen, Zettel, Zeitschriften, Bilder, Bücher, Briefe, Kladden und vieles mehr Fontane saß eben nicht an einem leeren Tisch und ihm flog die Inspiration zu – er steckte im Dickicht der Medien und sammelte Reize, Materialien, die dann in seine Texte eingingen.
„Wie entstand die Literatur des 19. Jahrhunderts im Kontext der Medien?“ ist deshalb die zentrale Frage unserer Konferenz. Aber uns interessiert auch: Welche Bilder machen wir uns von Fontane, mit den Porträts, die wir immer wieder verwenden, aber auch in Filmen oder Theaterstücken? Das wollen wir bis in die Gegenwart treiben und fragen: Welches Fontane-Bild ermöglichen digitale Hilfsmittel?
Was erwartet die Teilnehmenden?
Sie können neue Perspektiven auf vermeintlich Bekanntes entdecken. Wir werden zwar über „Effi Briest“ sprechen, aber eben darü-ber, wie der Roman damals in einer Zeitschrift erschien. Wir schauen auf Fontanes Kritikertätigkeit, aber vor dem Hintergrund des Servicejournalismus im späten 19. Jahrhundert. Und wir schauen auf die „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“, aber als Medienpraxis der journalistischen Recherche.
Welche Tagungsbeiträge haben Sie besonders überrascht?
Vielleicht der Beitrag des US-amerikanischen Germanisten John B. Lyon über Anzeigen in Fontanes Texten. Anzeigen waren ein ganz wichtiges Element journalistischer Medien – und Lyon untersucht, wie Fontane die Sprache dieses Formats in seine Romane einbringt. Aber auch der Ansatz von Roland Berbig, das Vereinsleben, in dem Fontane sehr aktiv war, als Soziales Medium des 19. Jahrhunderts zu betrachten, ist für mich ein sehr interessanter Dreh.
Und was präsentiert das Archiv auf dem Kongress?
Wir werden unter anderem einige unserer aktuellen Digital-Projekte vorstellen, etwa eine mit Kolleginnen und Kollegen der Fachhochschule Potsdam entwickelte Visualisierung der Handbibliothek Fontanes und die in Kooperation mit der Universitätsbibliothek Potsdam durchgeführte Retrodigitalisierung der Zeitschrift „Fontane Blätter“.
Der Kongress richtet sich auch an Lehrerinnen und Lehrer. Warum?
Weil sich nicht zuletzt in der Schule entscheidet, ob Fontane – und überhaupt Literatur – auch in Zukunft eine Rolle in unserer Kultur spielen wird. Es ist eine besondere Herausforderung unserer Zeit, jungen Menschen den ästhetischen und intellektuellen Reiz von Literatur zu vermitteln. Deshalb haben wir in Zusammenarbeit mit den Kolleginnen und Kollegen von der germanistischen Fachdidaktik ein Workshop-Programm entwickelt, das Mittel und Wege auslotet, wie man Fontane im Deutschunterricht neu vermitteln kann.
Und was dürfen wir wissenschaftlich erwarten?
Ein Ziel ist, dass wir Fontanes Profil als Medienarbeiter schärfen – und damit meine ich sowohl den Journalisten als auch den Literaten. Dass also deutlich wird, wie sehr wir sein Werk und seine Autorschaft von den medialen Grundlagen aus denken müssen. Wir wollen jede Menge neue Fragen stellen. Konferenzen sind aber stets auch ein soziales Phänomen: Wir bringen gestandene Fontane-Kenner und viele junge Forschende aus den Literatur- und Medienwissenschaften zusammen. Auch von dem Austausch zwischen Fontane-Forschung und Digital Humanities erhoffen wir uns eine Dynamik, die nachwirkt. Nicht zuletzt soll der Kongress zeigen, dass die Universität Potsdam mit dem Theodor-Fontane-Archiv ein internationales Zentrum der Fontane- und Realismusforschung ist.
fontane.200 ist die vielleicht umfassendste und vielseitigste Auseinandersetzung mit Fontane. Was hätte Fontane selbst dazu gesagt?
Fontane hat zeitlebens unter zu wenig Aufmerksamkeit gelitten. Das kann jetzt nicht passieren – und dass man sich bis ins letzte brandenburgische Dorf um ihn kümmert, hätte seiner Autorenseele geschmeichelt. Den Kongress hätte er möglicherweise mit wohlwollendem Lächeln betrachtet, wäre aber ob der wissenschaftlichen Herangehensweise vielleicht den Kopf schüttelnd woanders hingegangen. Er hatte ein Faible für Museen. Vielleicht würde er die Ausstellung in Neuruppin besuchen. Außerdem denke ich, er hätte die vielen kleinen Initiativen in Brandenburg sehr charmant gefunden, denn sie sind ganz in seinem Geiste. Immerhin basieren die „Wanderungen“ darauf, dass Fontane an Orte ging und dort lokale Geschichtsschreiber traf.
fontane.200 bringt für das TFA aber auch selbst eine Veränderung, die man am ehesten als umfas-sende Digitalisierung bezeichnen könnte ...
Das Fontane-Archiv hat sich in den vergange-nen etwa 20 Jahren gewissermaßen verdoppelt.Neben den materiellen Archivkörper, die Handschriften und historischen Drucke, ist ein digitales Archiv getreten: Daten, Datenbanken oder etwa Digitalisate, die wir jetzt nach und nach online stellen. Seit Kurzem sind mehr als 400 Seiten Fontane-Handschriften und -Dokumente online, darunter ein Tagebuch Fontanes, ein Haushaltsbuch der Familie und das Schlusskapitel des „Stechlin“. Oder auch die Fontane-Bibliografie. Die gibt es zwar seit 2006 gedruckt, aber wir konnten die zugrunde liegende Datenbank reaktivieren und aktualisieren und somit jetzt insgesamt 16 000 Einträge bereitstellen. Und schließlich auch die „Fontane Blätter“: 50 Jahrgänge dieser für die Fontaneforschung zentralen Zeitschrift werden ab Mitte 2019 als Retrodigitalisat frei im Netz verfügbar sein. Als Archiv verwahren wir nicht nur, wir erforschen Fontanes Werk. Und mit der Digitalisierung haben sich ganz neue Zugänge ergeben.
Wie nutzen Sie die Digitalisierung für Ihre Forschung?
Wir können Fontanes Texte mit Verfahren der Netzwerkanalyse untersuchen, Metadaten algorithmisch auswerten und sein Werk mit computerphilologischen Methoden analysieren. Ein erster Vorgeschmack war der „Philologische Hackathon“, den wir im Sommer 2018 durchgeführt haben. Ein Workshop, bei dem wir in internationalen und interdisziplinären Teams digitale Analysen von Fontanes Werken durchgeführt haben. Dabei sind kleine Studien entstanden, im Geiste des sogenannten „Rapid Prototyping“. Unser neues TFA.lab soll Experimentier- und Arbeitsraum für diese digitalen Projekte sein, in dem wir mit Partnern interdisziplinär zusammenarbeiten.
Was versprechen Sie sich als Fontane-Forscher von dieser umfassenden Digitalisierung?
Mit mehr Open Access und Open Data fallen Zugangsschwellen. Außerdem wollen wir natürlich selbst forschen – einen vielleicht schrägen und verfremdenden Blick auf die Fontane-Texte werfen und Thesen kritisch überprüfen. Etwa indem wir die Textkorpora mit quantitativen Methoden untersuchen und möglicherweise Muster erkennen, die mit herkömmlichen Methoden nicht sichtbar sind.
In der Vielzahl digitaler Neuerungen tritt der von Ihnen herausgegebene text-kritik-Band zu Fontane fast ein bisschen in den Hintergrund. Was bringt die „Neufassung“ Neues?
Einen anderen Blick auf Fontane. Das zeigt schon das Cover, auf dem eben nicht der alte, gesetzte, sondern der eher jugendliche und etwas wild wirkende Fontane zu sehen ist. Der Band versucht, den Medienarbeiter und den journalistischen Fontane herauszuarbei-ten. Wir zeigen aber auch, dass Fontane noch im Alter nicht nur in der modernen Metropole Berlin lebte, sondern sich auch moderner ästhetischer Verfahren bediente.
Auf der Homepage steht, das TFA sei „ein Lite-raturarchiv, eine Forschungsinstitution und eine Kultureinrichtung“. Wie wird man diesen unterschiedlichen Ansprüchen gerecht?
Das Archiv ist unser Daseinsgrund, als solches wurde das Haus 1935 gegründet. Durch wissenschaftliche Mitarbeiter und zuletzt noch stärker durch meine Professur kommt ein deutlicher Forschungsanspruch hinzu. Das zeigt auch unsere wissenschaftliche Zeitschrift, die „Fontane-Blätter“. Und schließlich sind wir eben auch ein von der Bundesregierung „geadelter“ kultureller Gedächtnisort. Das heißt, wir kümmern uns um das kulturelle Erbe. Es gibt Lesungen und Gespräche, ein umfangreiches Führungsprogramm – für Schüler und Studierende, aber auch für Touristen – und ein wachsendes Programm der kulturellen Bildung wie archivdidaktische Workshops.
Text: Matthias Zimmermann
Online gestellt: Agnes Bressa
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