Über ihren literarischen Wert hinaus stellt die umfangreiche Textproduktion Theodor Fontanes als Romanautor, Journalist, Theaterkritiker und Kriegsberichterstatter eine immense Quelle zur Kulturgeschichte des 19. Jahrhunderts dar. So ist es reizvoll, auch Fontanes Näherungen an die Architektur Aufmerksamkeit zu widmen. Wie nahm ein so historisch interessierter und ironisch gestimmter Beobachter, ein vielfach vernetzter und äußerst produktiver Schriftsteller die tiefgreifenden Veränderungen wahr, die Brandenburg und Berlin, Landschaft und Stadtlandschaft, im Prozess der Industrialisierung und Modernisierung erfuhren?
Die lange Regierungszeit Wilhelms I. von 1858 bis 1888 bedeutete für Preußen eine lange Periode politischer Stabilität und wirtschaftlicher Prosperität, gipfelnd im glanzvollen Auftritt der Kaiserstadt Berlin, die unter dem Nachfolger Wilhelm II. London und Paris als europäische Metropole in die Schranken forderte. Für Berlin und Brandenburg ergab sich hieraus eine sehr weitgehende Umgestaltung der Landschaft, der Ökologie, der technischen Infrastruktur: die Bevölkerung Berlins wuchs von 450.000 im Jahr 1856 auf annähernd zwei Millionen im Jahr 1900. Aber auch ein märkisches Städtchen wie Eberswalde erfuhr in diesem Zeitraum, begünstigt durch den Ausbau des Finowkanals, einen Bevölkerungsgewinn von 6.000 auf 22.000 Einwohnern. Industrieanlagen und Mietskasernen, Kommunalbauten für Verwaltung und Bildung, Energie- und Abfallwirtschaft, Banken, Kasernen und Museen – die neuartigen fotografischen Alben bewahren das Abbild des fundamentalen Wandels, mit dem die „Generation Fontane“ konfrontiert war.
Sichtbar wurde diese Veränderung der gebauten Umwelt auch auf dem Lande und an der Nahtstelle zwischen Mark und Metropole, im städtisch-ländlichen Übergangsraum. Man denke an den Chausseebau, den Ausbau der Eisenbahn, die Randwanderung der Industrie und die märkische „Militärlandschaft“ aus Kasernen, Militäreisenbahn, Truppenübungsgelände und Schießbahnen, man denke aber auch an die Sommerfrischen und Ausflugslokale, an Gartenstädte und Villenkolonien. Die Dynamik des Neuen brachte zugleich eine veränderte Haltung zum gebauten Erbe mit sich, das in dem Maße als bewahrenswert erkannt wurde, in dem es dem allgemeinen Fortschritt zum Opfer zu fallen drohte.
Und hier sind wir bei Theodor Fontane, der insbesondere in den „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ aus der hauptstädtischen Perspektive und für ein hauptstädtisches Publikum eine Region, die bis dato eher nicht zu den literarischen Sehnsuchtsorten zählte, schreibend zum Geschichtsraum aufwertete. Diese Poetisierung Brandenburgs als Kulturlandschaft war so durchschlagend erfolgreich, dass sie bis heute die Wahrnehmung Brandenburgs, die „Marke Brandenburg“ prägt, und dies sogar bei Menschen, die nie einen Satz von Fontane gelesen haben.
In den – nicht zahlreichen – Referenzen auf Architektur in Fontanes Texten spiegeln sich diese Vorgänge wieder, in der literarischen Aufladung der (gebauten) Kulturlandschaft, im Verhältnis zum kunsthistorischen Diskurs der Zeit, als oftmals ironisch gebrochene Charakterisierung der Stadtsoziologie und nicht zuletzt auch als Dokument von Fontanes eigener Biografie und gesellschaftlicher Stellung als freiberuflicher Autor.
Als Londoner Korrespondent der Neuen Preußischen Zeitung veröffentlichte Fontane 1857 einen Bericht über den Besuch der nahe London gelegenen Abtei Waltham Abbey. Die Beschreibung der romanisch-gotischen Klosterkirche, „eine Musterkarte aller Baustile seit Anfang dieses Jahrtausends“, ist eingebettet in die anekdotische Schilderung der Reiseerlebnisse, darunter die Begegnung mit der Frau des Kirchendieners, die darauf hinweist, dass man hier, im Vollbesitz des historischen Mythos, Touristen mit ausschließlich kunsthistorischen Interessen nicht sonderlich schätzte. Denn Waltham Abbey ist die Grablege des letzten anglosächsischen Königs Harald II., der 1066 in der Schlacht von Hastings fiel und hier von seiner Geliebten Edith Schwanenhals beigesetzt wurde, eine Geschichte, die Heinrich Heine zu der Ballade „Schlachtfeld bei Hastings“ von 1851 inspirierte und die Fontane im 25. Kapitel des Romans „Stechlin“ seiner Heldin Melusine in den Mund legt.
Sowohl im Romanwerk als auch in den „Wanderungen“ lassen sich zahllose Belege dafür finden, wie Fontane nach diesem Muster die Schilderung alter Kirchen und traditionsreicher Herrenhäuser in seine Reportagen und historischen Tableaus einbaut, sie weit über bloße Architekturanalyse hinaus zum Zeugnis und Spielort einer Erzählung macht. So findet sich schon auf den ersten Seiten von „Vor dem Sturm“ eine Schilderung der Kirche des fiktionalen Gutes Hohen-Vietz, einer lokalen Auslegung zufolge eine poetische Melange der reizvollen Lage des Fleckens Reitwein im Oderbruch und der alten Patronatskirche der Familie von der Marwitz in Friedersdorf:
„Die mehrgenannte Hügelkirche, der sie zuschritten, war ein alter Feldsteinbau aus der ersten christlichen Zeit, aus den Kolonisationstagen der Cistercienser her; dafür sprachen die sauber behauenen Steine, die Chornische und vor allem die kleinen hochgelegenen Rundbogenfenster, die dieser Kirche, wie allen vorgothischen Gotteshäusern der Mark, den Charakter einer Burg gaben. [...] War nun aber das Aeußere der Kirche so gut wie unverändert geblieben, so hatte das Innere derselben alle Wandlungen eines halben Jahrtausends durchgemacht.“
Fontane lässt hier seine kunsthistorischen Kenntnisse anklingen, aber nicht, ohne gleichzeitig über die Stilanalyse hinaus das kulturhistorische Zeugnis zu würdigen. Mit der um die Jahrhundertmitte entstehenden akademischen Disziplin der Kunstgeschichte war Fontane bestens vertraut. Mit Franz Kugler, Karl Schnaase, Wilhelm Lübke, schon bei den Zeitgenossen als führende Köpfe der „Berliner Schule“ der Kunstgeschichte anerkannt, war Fontane nicht nur aus den literarischen Klubs „Tunnel über der Spree“ und „Rütli“ bekannt, Kugler und Schnaase hatten Fontane auch immer wieder gefördert und dessen Unternehmungen unterstützt. Mit Wilhelm Lübke unternahm Fontane im Sommer 1859 eine gemeinsame Studienreise zu den gotischen Schnitzaltären der Altmark; mehrfach verfasste er Rezensionen zu dessen kunsthistorischen Büchern. Aber ebenso, wie Fontane die „Ödheiten“ und „Ledernheiten“ der Geschichtsvereine und historischen Gelehrtenzirkel verabscheute, wahrte er auch Distanz zur Fachdisziplin der Kunstgeschichte. Dagegen setzt er seine mal ironisch distanzierte, mal emphatische Erzählung. So sind es in Brandenburg die Baudenkmale zurückliegender Zeiten, denen das Interesse gilt. Zwar nutzte der Autor der „Wanderungen“ bei seinen Recherchefahrten selbstverständlich die moderne Infrastruktur, die in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts die ländliche Welt verwandelte, die Dampfschiffe, Eisenbahnen und Mietkutschen. Doch er zeichnet das Bild einer historisch empfundenen Kulturlandschaft, die geprägt ist von dörflichen Strukturen, von adeliger Gutswirtschaft, von mittelalterlichen Städtchen, von Domen, Klöstern und Kirchen.
Anders die Wahrnehmung der Stadt. Zu Fontanes Lebzeiten wandelte sich Berlin von der biedermeierlichen Residenz zur Industriemetropole, zur Handels- und Industriestadt der Gründerjahre, zur repräsentativen Hauptstadt des Kaiserreichs. Seine Londoner Jahre hatten Fontane mitten hinein gestellt in die dynamischste Metropole auf dem europäischen Kontinent, und vor dieser Folie musste er die Zeichen der Zeit auch an Spree und Havel wahrnehmen. Ja er war als Journalist und Autor selbst Teil dieser Prozesse. Von einem kurzen Ausflug in den Staatsdienst abgesehen war Fontane Zeit seines Lebens Freiberufler. Er bezahlte dieses keineswegs selbst gewählte Berufsschicksal mit ökonomischer Unsicherheit und mit dem Zwang zu unablässigem Schreiben. Er profitierte aber von dieser „modernen“ Stellung durch berufliche Netzwerke, durch Aktualität und Flexibilität in der literarischen Produktion. Dies hatte er mit dem Typus eines anderen Freiberuflers gemein, mit dem Beruf des Architekten.
Zur Architektenwelt hatte Fontane durchaus Verbindungen. Zu seinen Förderern zählte der Architekt Richard Lucae, der an der Berufung Fontanes zum Akademiesekretär wesentlichen Anteil hatte. Die Familie Fontane verkehrte im Haus des erfolgreichen Architekten und Herausgebers des Wochenblatts des Architektenvereins Karl Emil Otto Fritsch, der 1899 in dritter Ehe Fontanes Tochter Martha ehelichte. Auch mit Paul Wallot, dem Erbauer des Reichstagsgebäudes, verkehrte Fontane auf gesellschaftlichem Fuße.
Die Architekturkritik war ein eigenes Genre mit eigenen Publikationsorganen, die Fontane nicht offen standen. So finden sich nur wenige Hinweise darauf, wie er die Architektur der eigenen Zeit einschätzte. Ein Bericht über den Besuch des Museums der Nordischen Altertümer in Kopenhagen enthält folgenden Seitenhieb auf Friedrich August Stüler:
„Man hat dabei [in Kopenhagen] die Putzsucht vermieden, die bei Aufführung mehrerer anderer Museen, z.B. des ‚Neuen Museums‘ in Berlin, eine solche Rolle gespielt und zu allerhand Ausschmückungen geführt hat, die nur dazu da zu sein scheinen, um die Aufmerksamkeit der Besucher von Gipsabgüssen und alten Lanzenspitzen abzuziehen und den bunten Bildern an Fries und Decke zuzuwenden.“
Eine anerkennende Beschreibung der Neuen Börse in der Burgstraße von Baurat Georg Hitzig veröffentliche Fontane am 1863 in der Neuen Preußischen Zeitung. Und an gleicher Stelle erschien am 1865 unter dem Pseudonym „von einem Kunstverständigen“ eine Würdigung des Neubaus der Berliner Synagoge in der Oranienburger Straße von Eduard Knoblauch und Stüler.
Damit hat es, was die eigentliche Architekturkritik betrifft, schon sein Bewenden. Scharf beobachtete und zugleich poetisch überformte Bilder der Metropole finden sich hingegen in den Berlinromanen. So lässt Fontane im „Stechlin“ das Panorama der werdenden Weltstadt an den Leserinnen und Lesern vorüber ziehen. Eine Ausflugsgesellschaft begibt sich mit Kutschen zur Dampfschiffstation Jannowitzbrücke und schifft sich zum beliebten Ausflugslokal „Eierhäuschen“ an der Oberspree ein:
„Der Dampfer, gleich nachdem er das Brückenjoch passiert hatte, setzte sich in ein rascheres Tempo, dabei die linke Flußseite haltend, so daß immer nur eine geringe Entfernung zwischen dem Schiff und den sich dicht am Ufer hinziehenden Stadtbahnbögen war. Jeder Bogen schuf den Rahmen für ein dahinter gelegenes Bild, das natürlich die Form einer Lunette hatte. Mauerwerk jeglicher Art, Schuppen, Zäune zogen in buntem Wechsel vorüber, aber in Front aller dieser der Alltäglichkeit und der Arbeit dienenden Dinge zeigte sich immer wieder ein Stück Gartenland, darin ein paar verspätete Malven oder Sonnenblumen blühten. Erst als man die zweitfolgende Brücke passiert hatte, traten die Stadtbahnbögen so weit zurück, daß von einer Ufereinfassung nicht mehr die Rede sein konnte; statt ihrer aber wurden jetzt Wiesen und pappelbesetzte Wege sichtbar, und wo das Ufer kaiartig abfiel, lagen mit Sand beladene Kähne, große Zillen, aus deren Innerem eine baggerartige Vorrichtung die Kies- und Sandmassen in die dicht am Ufer hin etablierten Kalkgruben schüttete. Es waren dies die Berliner Mörtelwerke, die hier die Herrschaft behaupteten und das Uferbild bestimmten.“
Das Weichbild der Stadt kommt in den Blick. Zwischen den Bögen der Stadtbahn, des damals modernsten Verkehrsmittels, scheint für einen Moment märkische Landschaft auf, um dann der „Herrschaft“ jener Mörtelwerke zu weichen, aus deren rastloser Arbeit und unaufhaltsamer Kraft die Metropole des kommenden, des zwanzigsten Jahrhunderts erwächst.
Der Autor ist Direktor des Hauses der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte in Potsdam.
Entstehung und Wirkung der „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ sind Thema der Ausstellung „fontane.200/Brandenburg – Bilder und Geschichten“, die das Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte vom 7. Juni bis 30. Dezember 2019 im Potsdamer Kutschstall zeigt. Nähere Informationen unter: www.hbpg.de, www.fontane-200.de
Text: Dr. Kurt Winkler
Online gestellt: Jana Scholz
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