Es ist eine sternenklare Nacht. Eine junge Frau läuft allein die Straße entlang. Von der Diskothek bis nach Hause sind es nur ein paar Schritte. Doch da geschieht es: Ein Mann bedrängt sie, wird aggressiv. Jetzt gilt es, die eigene Angst zu überwinden und den Angreifer in die Flucht zu schlagen. Die zugegeben fiktive Situation ist nur eine von zahlreichen möglichen Szenarien, die vor vielen Jahren dazu führten, dass das Zentrum für Hochschulsport (ZfH) der Universität Potsdam den Kurs „Realistische Selbstverteidigung“ in sein Angebot aufnahm. Seither trainieren Semester für Semester junge Studentinnen und Studenten, wie sie sich im Falle eines tätlichen Angriffs am besten wehren können. Sophia Scholz ist eine von ihnen. In den Übungseinheiten schenkt sie sich nichts: weder bei den Liegestützen, noch bei der „Schubkarre“ oder beim Befreien aus einem simulierten Würgegriff. Was daran so besonders ist? Ihr fehlt die linke Hand. Für die junge Frau kein Hindernis, Herausforderungen wie diese anzunehmen. Die Gruppe hat sie auf ihrer Seite – und den Trainer erst recht.
„Sophia macht ihre Sache toll“, sagt Olaf Wiechmann, der seit rund sechs Jahren den Kurs leitet. „Sie bringt viel Selbstvertrauen mit.“ Mehr Lob geht kaum. Doch die Fragen bleiben: Welche Schritte sind dringend erforderlich, um den Umgang der Gesellschaft mit behinderten Menschen auf allen Ebenen deutlich zu verbessern? Und wie können Universitäten dazu beitragen? Warum klappt im Sport, was anderswo unmöglich scheint?
Ein Mittwochabend im Judoraum der Universität. Draußen ist es immer noch heiß. Drinnen stehen acht junge Leute auf der Matte, vier Frauen und vier Männer. Sie beginnen, sich aufzuwärmen, mit Läufen im Hallenrund. Mal vorwärts, mal rückwärts, die Beine nach hinten schlagend oder abwechselnd anhebend. Spätestens beim Entengang kommt der Letzte ins Schwitzen. Vergeblich hoffen die Aktiven auf einen Windhauch, der durch das weit geöffnete Fenster strömt. Schon wird die nächste Übung angesagt: Liegestütze, bei denen man dem Gegenüber die Hand reicht. Mittendrin im Gewusel ist Sophia. Die anderen gehen ganz selbstverständlich mit ihr um und sie mit ihnen. Keine Berührungsängste, keine falsche Rücksichtnahme und doch achtet jeder auf jeden. Dass Sophia ein körperliches Handicap hat, scheint fast vergessen. Endlich, nach einer halben Stunde die erste kurze Pause. Später folgen Partnerübungen, in denen die Studierenden erlernen, wie sie sich aus einem bestimmten Griff befreien und dabei die Arme und Beine geschickt einsetzen können. Der Kurs ist der dritte an diesem Tag, in dem die realistische Selbstverteidigung gelehrt wird. Jetzt, abends, trainieren die Fortgeschrittenen. Davor gibt es einen für Anfänger und einen, der sich ausschließlich an Frauen richtet.
„Ich glaube“, erzählt Sophia später, „meine Kommilitoninnen und Kommilitonen nehmen aus dem Training mehr als lediglich die körperliche Fitness mit. Unser gemeinsames Training beeinflusst hoffentlich auch ihr Verhalten außerhalb des Sports, was das Miteinander von Menschen mit und ohne körperliche Einschränkung angeht.“
Gerade hat die 22-Jährige ihren Bachelor in Sporttherapie und Prävention gemacht – und den Master in Integrativer Sport-, Bewegungs- und Gesundheitswissenschaft in Angriff genommen. Was genau sie später tun möchte, weiß sie noch nicht. Klar dagegen ist, dass der Sport auf absehbare Zeit ganz oben auf ihrer Prioritätenliste steht. Der Uni-Kurs ist allerdings nur ihre zweite Leidenschaft. An erster Stelle rangiert der Handball. Den nämlich betreibt sie schon seit 13 Jahren, ab kommender Saison nun beim HV Grün-Weiß Werder. Den Selbstverteidigungskurs an der Uni will sie trotzdem nicht so schnell aufgeben. „Auch weil der Trainer total offen ist. Er denkt sich immer etwas aus, damit ich es hinkriege.“
Dass die Studentin ihm ein so gutes Zeugnis ausstellt, freut Olaf Wiechmann. Selbst jahrelang vor allem im Judo aktiv, weiß er um die Wirkungsmöglichkeiten von Sport. Er will den Teilnehmenden am Kurs nicht nur zu vermitteln, wie sie sich in gefährlichen Situationen verhalten müssen. Es geht ihm auch darum, ihr Selbstbewusstsein zu stärken. Und Kampfsport eignet sich dafür gut. Wiechmann baut in das Training Elemente aus Karate, Judo, Kickboxen, Aikido und Kyusho, Jiu Jitsu und anderen Kampfsportarten ein. Diejenigen, die zu ihm in den Judoraum kommen, lernen, wie man fällt, ohne sich weh zu tun, wie man sich vor gegnerischen Umklammerungen schützt, Schlägen ausweicht. Das Handwerk der Selbstverteidigung eben. Bis zu 20 Personen pro Kurs dürfen mitmachen. Auch uniexterne Interessierte werden aufgenommen. Bisher war die jüngste Teilnehmerin 16, die älteste 63.“
Das Zentrum für Hochschulsport bietet seit Jahren Kurse für Menschen mit und ohne körperliche Beeinträchtigungen an – und unterstützt sogar bei der Suche nach der passenden Sportart. „Eine intensive Beratung kann helfen, dass wir einen geeigneten Sportkurs finden“, so Annette Guzman vom Zentrum. „Manchmal empfehlen wir aber auch ein individuelles Training im Fitnessclub oder vermitteln zu Vereinen. Das hängt von der Art der Behinderung, den Wünschen der jeweiligen Personen, den Grenzen und Möglichkeiten der Sportarten und der Übungsleitenden ab.“
Text: Petra Görlich
Online gestellt: Agnes Bressa
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