Es ist eine Reise an die Anfänge unseres Seins. Die Jagd nach Galaxien im jungen Universum ist in vollem Gange. Mit ihr die Suche nach dem, was diese Himmelswelten umgibt. Bislang weiß die Wissenschaft nur wenig darüber. Doch der Raum um die Sternensysteme herum ist durchaus nicht leer. Er enthält große Mengen an sogenanntem zirkumgalaktischen Gas. Aber wie ist es verteilt? Wie erstreckt es sich? Welche Unterschiede zwischen den Galaxien gibt es? Lutz Wisotzki untersucht gemeinsam mit seinem Team vom Leibniz-Institut für Astrophysik Potsdam (AIP) und der Universität Potsdam solche Phänomene. Sie zu entschlüsseln, ist wichtig, um besser verstehen zu können, wie Galaxien geboren werden und sich entwickeln.
Mit bloßem Auge sieht man sie nicht, auch große Teleskope lieferten bisher kaum oder nur sehr unscharfe Bilder von ihnen: Galaxien in unvorstellbarer Ferne. Sternensysteme des jungen Universums, deren Licht Milliarden von Jahren benötigte, um uns zu erreichen. Jetzt scheint die Tür zu ihnen weit aufgetan. Der Durchbruch ist einer technologischen Innovation zu verdanken, die in einem Gerät namens MUSE – Multi Unit Spectroscopic Explorer – steckt, das 2014 am Very Large Telescope (VLT) in der Atacama-Wüste in Chile installiert wurde. Dieser 3D-Integralfeldspektrograf, der mit wiederum 24 identischen Spektrografen ausgerüstet ist, ermöglicht es, fast bis in den Ursprung des Universums zu blicken. Das Teleskop kann mit ihm nun viel mehr als nur schöne Bilder aus dem Weltall liefern. Denn MUSE nimmt mit einer einzigen Aufnahme gleichzeitig über 90 000 Spektren von astronomischen Objekten auf. Er spaltet dabei Licht in Farben beziehungsweise Wellenlängen, sodass sich dessen Intensität bei allen Frequenzen gleichzeitig messen lässt. Für Lutz Wisotzki ist dies ein Glücksfall. Denn die Spektren interessieren ihn, besonders die sogenannten Lyman-alpha-Linien darin, die viel über das zirkumgalaktische Medium verraten, das die jungen Galaxien umgibt. Das Medium emittiert wie die Galaxien selbst einen wesentlichen Teil seines Lichts in diesen Linien, die im Farbspektrum einen schmalen Bereich einnehmen. Die Linien stammen von Wasserstoffatomen, also von Atomen des häufigsten Elements im Kosmos.
Gemeinsam mit einem Konsortium von Wissenschaftlern aus sechs weiteren europäischen Instituten haben Wisotzki und seine Potsdamer Kollegen vom AIP „die Wundermaschine“ entwickelt. Das AIP sorgte dabei speziell für die Datenreduktions-Software, die das wissenschaftliche Signal vom Rauschen filtert, den Einfluss von Instrumenteneigenschaften sowie der Erdatmosphäre ausschaltet und die komplexen Daten schließlich zusammensetzt, sowie – als Hardware-Beitrag – die Kalibriereinheit. „MUSE ist derzeit weltweit einzigartig und konkurrenzlos in seiner Leistungsfähigkeit“, schwärmt Wisotzki. Der Spektrograf kombiniere detaillierte Bildaufnahmen, Spektren über einen großen Bereich und eine hohe Empfindlichkeit. „Anstatt wie früher üblich zuerst ein Bild der Region zu erstellen und darin Objekte auszuwählen, die anschließend einzeln aufwändig spektroskopiert werden, liefert das Gerät in einem Rutsch vollständige und überdies sehr empfindliche Spektraldaten über alle Objekte im Gesichtsfeld“, erklärt der Forscher. Damit gibt es nun eine Beobachtungsmethode, die den ganz tiefen Blick ins All und eine Zeitreise zu Galaxien kurz nach dem Urknall ermöglicht. Bisher von großen Apparaturen wie dem Hubble-Teleskop nur als Lichtklumpen aufgenommene Sternengebilde oder noch gar nicht entdeckte Sternenwelten sind so erstmals vom VLT differenzierter zu erkennen.
Die beobachteten jungen Galaxien sind von Wasserstoffhüllen umgeben
Lutz Wisotzki, der auch Professor für Beobachtende Kosmologie an der Universität Potsdam ist, hat inzwischen mit seinem Team viele Spektren von Galaxien im jungen Universum untersucht. Sie stammen von Regionen aus den „Hubble Deep Fields“, von denen das Hubble-Teleskop hoch empfindliche Bilder zur Erde geschickt hat. „Wir belichteten die Stellen so lange wie irgend möglich“, berichtet Wisotzki. „Das Endergebnis wurde dann am Computer zusammengebaut.“ Zwei der Felder vereinigten allein Daten von 30 Stunden Belichtungszeit. Die Arbeit hat sich gelohnt. In jedem davon konnten die Wissenschaftler Rotverschiebungen von fast 300 Galaxien messen. Ein riesiger Fortschritt! Immerhin waren zuvor lediglich 10 bis 20 pro Feld bekannt. Da die Rotverschiebungen direkt in Entfernungen umgerechnet werden können, ergab sich zum ersten Mal ihre wirklich dreidimensionale Rekonstruktion, die neben den beiden Positionen am Himmel nun auch die Tiefe einschließt. Und nicht nur das: Die Astrophysiker vom AIP und der Uni Potsdam konnten die Galaxien damit in kosmische Epochen einordnen. MUSE sei Dank.
Die Forschenden erzielten auch hinsichtlich dessen, was ihnen die sogenannten Lyman-alpha-Spektrallinien der am weitesten entfernten Galaxien verraten, einen Durchbruch: Sie konnten zeigen, dass alle beobachteten Sternensysteme dieses Alters von sehr weit ausgedehnten Wasserstoffhüllen umgeben sind. Diese besitzen ein Vielfaches der Größe der Galaxien selbst. Kein Beobachtungsinstrument vor MUSE hatte diese Lymanalpha-Hüllen je zuvor nachgewiesen. Es existierten zwar statistisch gemittelte Werte dazu, aber nicht mehr. Was war passiert? „Wir hatten zuvor festgestellt, dass die mit MUSE im Lyman-alpha-Licht betrachteten Systeme leicht diffus und eindeutig größer als in den Hubble-Bildern waren. Nach diesem zunächst nur visuellen Eindruck führten wir Analysen der Lichtverteilung, gekoppelt mit statistischen Verfahren, durch, die das bestätigten“, erläutert Wisotzki. „Uns wurde klar, dass wir nicht nur innerhalb der Galaxien erzeugte Strahlung gesehen hatten, sondern auch solche aus dem zirkumgalaktischen Medium.“ Diese Erkenntnis wird wohl nicht ohne Folgen für die Astrophysik bleiben. Gängige Vorstellungen zum Ökosystem von Galaxien müssen nun erst einmal auf den Prüfstand.
Die Tatsache, dass das Leuchten der Gashüllen trotz ihrer extrem geringen Dichte überhaupt nachweisbar ist, lässt sich laut Wisotzki nur erklären, wenn die bisherigen Annahmen zur Struktur des zirkumgalaktischen Gases revidiert werden. „Vermutlich ist das Gas in der Umgebung von Galaxien sehr viel weniger gleichförmig verteilt als angenommen“, so der Potsdamer Astrophysiker. Das zirkumgalaktische Gas scheint demnach aus vielen kleinen Klümpchen oder Filamenten zu bestehen, in denen die Strahlung aus der zentralen Galaxie reprozessiert wird. Ob das tatsächlich so ist, steht fest, wenn diese Effekte genauer durchgerechnet sind.
Die gewonnenen Erkenntnisse fließen nun erst einmal in die nächste Generation numerischer Simulationen ein, die die neu entdeckten Eigenschaften der zirkumgalaktischen Nebel berücksichtigen. Schon in etwa fünf Jahren könnten Theorie und Beobachtungen übereinstimmen. Es wäre ein großer Schritt im Verständnis der Umgebungseigenschaften junger Galaxien – und im Verständnis der Entstehung von Galaxien. Denn das zirkumgalaktische Gas ist Reservoire und Auffangbecken zugleich. Es liefert einerseits neues Gas von außen nach, aus dem in der Galaxie neue Sterne entstehen, es nimmt aber auch aus den Galaxien ausgestoßene Teilchen auf – von denen viele dann wieder in die Galaxien zurückfallen. Eines der größten ungelösten Probleme der Astrophysik besteht in der Frage, wie sich dieses komplizierte Durcheinander so vieler Vorgänge selbst reguliert. Die neuen Beobachtungsergebnisse mit MUSE liefern hierzu einen wesentlichen Baustein.
Das Riesenteleskop in der Atacama ist ein ganz besonderer Ort
Den Forschungserfolgen des Teams um Wisotzki sind zahlreiche Beobachtungsnächte am VLT vorausgegangen. Insgesamt stehen den Potsdamern und ihren Kollegen 255 davon im Projekt zu, als „Bezahlung“ für die Arbeit an MUSE, für den die Eigentumsrechte inzwischen an die Europäische Sternwarte ESO übergegangen sind. Etwa 100 Nächte bleiben den Wissenschaftlern derzeit noch für ihre Untersuchungen. Die Aufenthalte in Chile dauern in der Regel eine Woche. Im Schnitt fahren jeweils drei Wissenschaftler nach Südamerika. Vor Ort verschieben sich für sie dann nicht nur die Arbeitszeiten, sie verlängern sich auch. Acht bis elf Stunden sind der Normalfall. „Es geht nachmittags los mit den Vorbereitungen“, berichtet Wisotzki. Sobald es dunkel werde, beginne die Tätigkeit am Teleskop, das eigentlich aus vier einzelnen Türmen – Teleskopen – bestehe.
Im Kontrollraum am Rande der Plattform sitzen in diesen langen Nächten nicht nur die Experten aus Brandenburg, hier beobachten Astrophysiker aus der ganzen Welt das All. „Es herrscht dort eine eigentümlich nüchterne Atmosphäre mit gedämpftem Licht – und einem strikten Musikverbot“, beschreibt der vielgereiste Physik-Professor die Situation. „Nur einzelne Raumteiler trennen die Arbeitsbereiche.“ Für Wisotzki ist der Ort trotzdem etwas ganz Besonderes. Vor allem dann, wenn die Sonne untergeht. „Wenn sie tief steht und die Landschaft in ein beeindruckendes Orange taucht, glaubt man nicht, dass es so etwas gibt“, sagt er. Die Gegend sei in ihrer Kargheit und Einsamkeit großartig.
Lutz Wisotzki wird wohl noch oft nach Chile fahren. Auch wenn die aktuelle Projektförderung 2019 endet, die Fragen bleiben: Woher bekommen die Wasserstoffhüllen ihre Energie, die sie zum Leuchten bringen? Welche Quellen für die Lyman-alpha-Strahlung kommen infrage? Sind es die jungen, heißen Sterne, die hier eine Rolle spielen, oder vielleicht externe Objekte? Jede Entdeckung wirft neue Fragen auf. „Wir haben uns mit MUSE in die wissenschaftliche Spitze auf dem Gebiet der Erforschung des jungen Universums katapultiert“, so Wisotzki. „Da wollen wir uns weiter behaupten.“ Die Jagd nach dem Unbekannten geht weiter.
SPEKTRALLINIEN
Ein Himmelskörper leuchtet nur dann, wenn in seinem Inneren Energie erzeugt wird oder wenn er angestrahlt wird. Gaswolken geringer Dichte reflektieren zwar kein Licht, können aber durch Einstrahlung von Energie zum Selbstleuchten angeregt werden. Entscheidend hierfür ist der in ihnen enthaltene Wasserstoff, das weitaus häufigste chemische Element im Kosmos überhaupt. In einem Wasserstoffatom umkreist im Grundzustand das Elektron auf der innersten Bahn den Atomkern, also das Proton. Trifft hinreichend energiereiche Strahlung auf das Elektron, wird es auf eine höhere Bahn befördert oder ganz herauskatapultiert. Dann gibt es ein freies Elektron und ein freies Proton. Treffen beide aufeinander, entsteht wieder ein Atom. Mit einer Kaskadenbewegung begibt sich das Elektron in dem Fall über verschiedene Bahnen wieder auf die innerste Ebene. Dabei wird Energie in Form von Strahlung abgegeben (Emission). So entstehen die Spektrallinien des Wasserstoffs, die Gasnebel zum Leuchten bringen. Die Emission, die beim Sprung von der zweitinnersten zur innersten Bahn entsteht, bezeichnen Fachleute als Lyman-alpha-Linie. Sie ist die hellste der Spektrallinien einer Galaxie.
ENTFERNUNGEN ZU GALAXIEN
Die Entfernung zu einer Galaxie kann grundsätzlich nicht direkt gemessen, sondern nur indirekt bestimmt oder geschätzt werden. Je weiter eine Galaxie entfernt ist, desto schneller scheint sie sich von uns wegzubewegen. Das ist jedoch keine echte Bewegung im Raum, es ist lediglich die unmittelbare Konsequenz aus der Expansion des Universums.
Für weit entfernte Galaxien gibt das Universum den Wissenschaftlern aber einen Trick in die Hand, der auf einer Entdeckung von Edwin Hubble vor 90 Jahren beruht und die Bestimmung der Entfernung ermöglicht. Denn die durch den expandierenden Raum laufenden Lichtwellen nehmen an der Ausdehnung teil. Das führt dazu, dass sich die Strahlung zu größeren Wellenlängen verschiebt. Experten bezeichnen den Vorgang als kosmologische Rotverschiebung. Um Entfernungen zu bestimmen, messen sie die Rotverschiebung zunächst in einem Spektrum der Galaxie und können daraus nach einer von Hubble aufgestellten Beziehung den gesuchten Wert errechnen.
KOSMISCHE ZEITMASCHINE
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler beobachten aufgrund der Endlichkeit der Lichtgeschwindigkeit jede der weit entfernten Galaxien so, wie sie zum Zeitpunkt des Aussendens ihres Lichtes aussahen. Das beobachtbare Universum ist sozusagen eine perfekte Zeitmaschine, allerdings nur in Richtung Vergangenheit. Dieses Phänomen bildet die Voraussetzung dafür, dass Astrophysiker mit einer einzigen Beobachtung den Zustand des Universums zu ganz verschiedenen kosmischen Zeiten erforschen können. Und dies bis hin in die Frühphasen, als ein Großteil der heutigen Sterne und Galaxien noch gar nicht existierte oder gerade entstand.
DER WISSENSCHAFTLER
Prof. Dr. Lutz Wisotzki studierte Physik und Astronomie an der Universität Hamburg. Seit 2009 ist er in gemeinsamer Berufung mit dem Leibniz Institut für Astrophysik Potsdam (AIP) Professor für Beobachtende Kosmologie an der Universität Potsdam. Der Wissenschaftler leitet am AIP den Programmbereich „Galaxien und Quasare“. Er ist außerdem wissenschaftlicher Koordinator des Gesamtprojekts „MUSE“.
DAS PROJEKT
The infancy of normal galaxies revealed with MUSE
Förderung: Leibniz-Gemeinschaft
Mittel: ca. 1 Million Euro
Laufzeit: 2015–2019
Das Projekt MUSE wird von sieben großen europäischen Forschungseinrichtungen getragen. Die beteiligten Institute sind: Centre de Recherche Astrophysique de Lyon (Frankreich), Leibniz-Institut für Astrophysik Potsdam (AIP) und Institut für Astrophysik Göttingen (Deutschland), Sternwarte Leiden (Niederlande), Laboratoire d’Astrophysique de Tarbes-Toulouse (Frankreich), Institut für Astronomie der ETH Zürich (Schweiz), europäische Südsternwarte (ESO).
Text: Petra Görlich
Online gestellt: Alina Grünky
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