Salam alaikum, abi! Alaikum salam. İki tane Aubergine. Bitteschön, yenge! Auf einem Wochenmarkt in Berlin-Neukölln geht es laut und geschäftig zu, selbst bei ungemütlichem Nieselwetter. Am Landwehrkanal tummeln sich jeden Dienstag und Freitag Menschen aus aller Welt. Nicht nur Deutsch ist zu hören. Auch Türkisch, Arabisch oder Kurdisch, Muttersprachen von vielen hier. Und dazwischen Englisch, Spanisch, Französisch, Schwedisch, Hindi, Bengali ... Ganz zu schweigen von Dialekten wie Berlinisch, Schwäbisch oder Bayrisch. Von dieser ungeheuren Vielfalt zeugen auch die Schilder: Da heißt es „Honey pomelo“, „Sultanas“ oder „Birne Forelle“. Angesichts dieser babylonischen Sprachverwirrung stellt sich die Frage: Wie gelingt die Kommunikation auf dem Markt? Und wann gelingt sie nicht?
Das wollen Heike Wiese und Ulrike Freywald herausfinden. Die Germanistinnen und ihr Team erforschen die sprachliche Ökologie des Marktes – und besuchen dafür mehrere Wochen lang einen Gemüsestand. Um die Begegnungen am Verkaufstisch später auswerten zu können, dürfen sie das Geschehen mit Kamera und Mikrofon aufzeichnen. Zwei der Verkäufer haben sich auch bereit erklärt, den Sprachwissenschaftlerinnen in Interviews Rede und Antwort zu stehen. Die Männer sind in der Türkei geboren, leben aber seit Jahren in Berlin und arbeiten schon lange auf dem Markt. „Es war ein großes Glück, dass wir die beiden gefunden haben“, sagen die Forscherinnen.
Zwar geben die Verkäufer an, Türkisch und Deutsch zu sprechen. Doch in der Praxis bedienen sie sich einer weitaus größeren Zahl von Sprachen: Wörter aus dem Arabischen, Englischen oder Spanischen kommen in verschiedenen Kombinationen täglich zum Einsatz. Ähnliche Phänomene haben auch Studien im asiatischen Raum belegt. Bei diesen beobachteten Forschende die Mehrsprachigkeit am Arbeitsplatz. Mit einem bemerkenswerten Ergebnis: Obwohl viele Befragte angeben, nur eine oder zwei Sprachen zu sprechen, nutzen sie während ihrer Arbeit – im Imbiss oder beim Friseur – tatsächlich weitaus mehr Sprachen. Gelernt haben sie diese vermutlich unbewusst im Alltag.
Die Menschen auf dem Markt wissen wenig über die Sprachkenntnisse ihres Gegenübers
„Viele Touristinnen und Touristen sprechen andere Sprachen als die Community im Kiez“, sagt Freywald. Ein Kunde habe Zucchini für einen Euro gekauft und mit einem Fünfzig-Euro-Schein bezahlt, berichtet die studentische Mitarbeiterin İrem Duman. „Die 49 Euro gebe ich dir nächste Woche wieder“, hätte der Verkäufer daraufhin auf Deutsch gescherzt. Der Amerikaner habe diesen Witz allerdings nicht verstanden, er sprach kein Deutsch. Um solche Situationen zu erfassen, führen die Projektbeteiligten anschließend Mini-Interviews. Sie befragen die Menschen auf dem Markt zu ihren Sprachkenntnissen und ihrer sprachlichen Biografie. Eine Mitarbeiterin bleibt als „stille Beobachterin“ am Stand: Sie notiert Gesprächssituationen und Atmosphären, ohne selbst zu interagieren. Diese ethnografische Feldforschung wird anschließend durch grammatische Analysen ergänzt.
„Viele Interaktionen kommen auch ganz ohne Sprache aus“, so die Forscherinnen. Die Leute zeigen auf das Gemüse, erfühlen den Reifegrad, reichen es dem Verkäufer, der es abwiegt und in eine Tüte packt. Spätestens die Bezahlung erfordert aber eine sprachliche Kommunikation, denn es gibt keine Kasse, die den Preis anzeigt: Dann müssen sich die Beteiligten für eine Sprache entscheiden. Notfalls wird mit Händen und Füßen kommuniziert. „Eigentlich klappt das alles prächtig“, sagt Projektmitarbeiterin Kathleen Schumann. „Aber wie und warum es funktioniert, ist bisher nicht detailliert untersucht worden.“
Gibt es eine eigene Marktgrammatik?
Im Zentrum der Studie stehen grammatische Strukturen. Beim Wechsel zwischen den verschiedenen Sprachen werde zwar viel kombiniert, aber beliebig sei das nicht. Eine Hypothese der Forscherinnen ist, dass Nominalphrasen jeweils in der Grammatik einer Sprache formuliert werden, selbst wenn innerhalb dieser Wortgruppe verschiedene Sprachen zum Einsatz kommen. Die nächste Substantivgruppe aus Artikel oder Zahlwort, Nomen sowie gegebenenfalls Adjektiven kann dann in der Grammatik einer anderen Sprache ausgedrückt werden. Wie etwa „iki tane Aubergine, bitte“ – auf Deutsch wörtlich: „Zwei Stück Aubergine, bitte“. Der Satz folgt der türkischen Grammatik, die den Plural hier nicht über eine Endung am Substantiv kenntlich macht, sondern ein Funktionswort wie „Stück“ hinter das Zahlwort stellt, erläutert Mitarbeiter Serkan Yüksel. Solche morphologischen Strukturen untersucht das Projekt.
Aber auch die Lexik, das heißt der Wortschatz, spielt eine wichtige Rolle. So heißt es auf einem Schild „Çıtır Gurke“. Gemeint sind „knackige Gurken“, aber für gewöhnlich wird „çıtır“ im Türkischen nicht für Gemüse verwendet. Ist diese Ausdrucksweise typisch für eine bestimmte Region der Türkei? Oder ist sie marktspezifisch? Oder im Türkischen in Deutschland generell verbreitet? Um solche Fragen beantworten zu können, kommen Expertinnen und Experten zum Einsatz. So ist Türkisch für zwei der Forschenden im Projekt Muttersprache, weitere Sprachexpertinnen und -experten sollen später die Analysephase unterstützen. Außerdem befragt das Team im Anschluss an die Datenerhebung verschiedene Verkäuferinnen und Verkäufer auf dem Markt nach ihrer Einschätzung zu bestimmten sprachlichen Phänomenen.
Die Frage nach einer eigenen Marktgrammatik interessiert die Germanistinnen und ihr Team besonders. Könnten auf dem Markt lokal gebundene Sprechweisen entstehen? Eine eigene Sprache der Menschen, die dort regelmäßig kommunizieren? „Das Verhalten der Sprecherinnen und Sprecher zeigt, dass sie sich systematisch für bestimmte Strukturen entscheiden“, erklärt Heike Wiese. Doch nach welchen Regeln funktioniert das? Und was sagen diese Regeln aus über die Organisation von Sprache im Allgemeinen? „Womöglich gibt es hier Parallelen zu Kreolsprachen“, sagt Ulrike Freywald. Solche Sprachen bilden sich im intensiven Kontakt von Menschen mit verschiedenen Muttersprachen heraus und verfügen über eine eigene Grammatik. Im Potsdamer Projekt soll nun der Frage nachgegangen werden, ob sich auf den Berliner Wochenmärkten eine solche explizite „Marktsprache“ gebildet hat.
Seit Langem erforschen die Germanistinnen urbane Sprachkontakte
Die Forscherinnen kaufen nicht nur selbst regelmäßig auf dem Markt ein, sie interessieren sich auch seit Jahren für das Thema Mehrsprachigkeit im Kiez. Im Projekt „Kiezdeutsch“ untersuchten sie die Sprechweisen von Kreuzberger Jugendlichen. Diese sind vorwiegend bilingual aufgewachsen und sprechen neben Deutsch auch Türkisch, Arabisch, Kurdisch oder slawische Sprachen als Muttersprachen. Diese besondere Situation nahmen die Germanistinnen genauer unter die Lupe: Wie entwickelt sich das Deutsche in einem solchen mehrsprachigen Kontext? Und welche neuen umgangssprachlichen und dialektalen Ressourcen entstehen hier unter Jugendlichen?
Auf dem Wochenmarkt sieht die Situation etwas anders aus. Denn hier kommen weitaus mehr Sprachen zum Einsatz. „Es ist eine Begegnung mit wenig Vorwissen über die Beteiligten“, sagt der studentische Mitarbeiter Henrik Willun. „Wonach wird also entschieden, welche Sprache gesprochen wird?“ Wer über den Markt geht, weiß schließlich nichts über die Sprachkenntnisse der Verkäuferinnen und Verkäufer. Diese wissen wiederum nicht, welche Sprachen ihre Kundinnen und Kunden sprechen – es sei denn, sie kommen regelmäßig. Eine wichtige Beobachtung hat das Team bereits gemacht: Gehen die Händler davon aus, dass ihre Kundinnen und Kunden Türkisch sprechen, sprechen sie sie mit „abla“, „abi“, „yenge“ oder „baba“ an. „Auf Deutsch heißt das ältere Schwester, älterer Bruder, Tante oder Vater“, erklären Yüksel und Duman. Frauen, die als deutsche Muttersprachlerinnen identifiziert werden, werden wiederum mit „Madame“ angeredet. „Es könnte sein, dass Faktoren wie Aussehen, Geschlecht oder Alter eine Rolle bei der Sprachwahl spielen“, vermuten Wiese und Freywald. Ob das stimmt, können sie jedoch erst nach der Analyse ihres Materials sicher beurteilen.
Die Daten der Kiezdeutsch-Studie sind auch für das aktuelle Forschungsprojekt nützlich. Sie können Aufschluss über die Frage nach marktspezifischen Sprechweisen geben und zeigen, ob sich die sprachlichen Strukturen der Jugendlichen von der Marktsprache unterscheiden. In Zukunft würden die Germanistinnen gern einen weiteren Markt untersuchen, wie das vietnamesische Dong Xuang Center in Berlin-Lichtenberg. Dann könnten sie die sprachlichen Eigenheiten beider Märkte miteinander vergleichen und Erkenntnisse über die Möglichkeit einer eigenen Marktsprache gewinnen. In jedem Fall wollen sie die Ergebnisse mit den anderen Projekten des Sonderforschungsbereichs abgleichen. So erwarten die Germanistinnen einen regen Austausch mit dem Teilprojekt „Variabilität in der bilingualen Sprachverarbeitung“, das deutsch-türkische Sprecherinnen und Sprecher besonders in den Blick nimmt.
„In einem hochdiversen, urbanen Setting wie dem Neuköllner Wochenmarkt sind Menschen daran gewöhnt, sich sprachlich auf ihr Gegenüber einzustellen“, erklärt Wiese. Viele Menschen hier hätten auch selbst Migrationserfahrungen gemacht und an mehreren Orten auf der ganzen Welt gelebt. „Sie haben oft eine bewegte Geschichte hinter sich“, sagt Freywald. Und das kann man hören.
Die Sprachenvielfalt auf einem Berliner Wochenmarkt erforscht in den kommenden vier Jahren das Projekt „Integration sprachlicher Ressource n in hochdiversen urbanen Kontexten, die die Grenzen der Variabilität ausloten“. Es ist Teil des Sonderforschungsbereichs 1287 „Die Grenzen der Variabilität in der Sprache: Kognitive, grammatische und soziale Aspekte“. Neben den Leiterinnen Prof. Dr. Heike Wiese und Dr. Ulrike Freywald sind im Projekt die beiden Promovierenden Kathleen Schumann und Serkan Yüksel sowie die studentische Mitarbeiterin İrem Duman und der studentische Mitarbeiter Henrik Willun tätig.
www.uni-potsdam.de/en/sfb1287/subprojects/cluster-a.html
DIE WISSENSCHAFTERINNEN
Prof. Dr. Heike Wiese studierte Germanistik und Philosophie. Seit 2006 ist sie Professorin für Deutsche Sprache der Gegenwart an der Universität Potsdam.
E-Mail: heike.wieseuuni-potsdampde
Dr. Ulrike Freywald studierte Germanistische Linguistik, Historische Linguistik und Publizistik- und Kommunikationswissenschaft. Seit 2007 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Germanistik der Universität Potsdam.
E-Mail: ulrike.freywalduuni-potsdampde
Text: Jana Scholz
Online gestellt: Alina Grünky
Kontakt zur Online-Redaktion: onlineredaktionuuni-potsdampde