Skip to main content

Mit allen Sinnen forschen – Eva Kimminich über Rap, Flow und Filterblasen

Prof. Dr. Eva Kimminich. Foto: Thomas Roese.
Photo :
Prof. Dr. Eva Kimminich. Foto: Thomas Roese.

Mächtige und Marginalisierte, Massen und Eliten, Popkultur und Hochkultur: Eva Kimminich interessieren die kulturellen Gegensätze. Die Kulturwissenschaftlerin und Romanistin untersucht neben historischen Fragen vor allem brisante Phänomene unserer Gegenwart. Seit sieben Jahren ist sie Professorin für Kulturen romanischer Länder in Potsdam. 2017 ist Kimminich 60 geworden – Anlass, mit ihr über ihre vielseitigen Forschungen zu sprechen. Die reichen von Volkslied und Chanson über Hip Hop und Break Dance bis zu Verschwörungstheorien und Rechtspopulismus.

Es waren Lieder, die Eva Kimminich nach ihrer Promotion in den 1980er-Jahren besonders beschäftigten. Eines ihrer frühen Forschungsprojekte untersuchte Volkslieder des 19. Jahrhunderts aus Elsass- Lothringen, die von den Sängerinnen und Sängern handschriftlich aufgezeichnet worden waren. „Das regionale Liedgut hatten sie jeweils an ihre persönlichen Lebenserfahrungen angepasst“, erklärt Kimminich. Die Liedtexte bewegten sich damit zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit, Volkskultur und Individuum. Die Analyse dieser Liederbücher führte Kimminich zu anderen, eher subversiven Liedtexten: Ihre Habilitationsschrift von 1993 untersuchte zensierte Chansons aus dem Paris des 19. Jahrhunderts. „Damals formierte sich die Arbeiterbewegung“, sagt die Kulturwissenschaftlerin. „Die Chansons deuteten negative Bezeichnungen des Bürgertums für die Arbeiter um. Es ging den Sängern darum, die Figur des Arbeiters aufzuwerten.“
Solche sozialen Reibungsflächen faszinieren die Wissenschaftlerin. Dabei bewegt sie sich oft über die Grenzen konventioneller Forschungsfelder hinaus. „Wenn man sich mit zensierten Chansons befasst, findet man auch Rap spannend“, erklärt sie. Ende der 1990er-Jahre war die Forscherin eine der ersten, die sich mit dem französischsprachigen Sprechgesang beschäftigten. „Le rap, c’est ma thérapie“, heißt es in einem der Songs: „Rap ist meine Therapie.“ Vor allem junge Männer mit Migrationshintergrund sahen im Rap eine Perspektive, waren sie doch häufig von Arbeitslosigkeit, tristen Vorstädten und Fremdenfeindlichkeit umgeben. „Die Rapkultur verhinderte damals noch größere soziale Spannungen in Frankreich“, sagt Kimminich. In vielen Texten identifizieren sich die Rapper mit den republikanischen Werten der Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit. 
„Vom Rap bin ich zum Breakdance gekommen“, fährt sie fort. Selbst getanzt habe sie aber nicht. Das fordere schließlich jahrelanges Training, das sie damals, mit Anfang 40, nicht mehr hätte nachholen können. Doch wenn man der Wissenschaftlerin zuhört, meint man dennoch eine Insiderin vor sich zu haben. „Bei einer Jam können Sie beobachten, wie sich die Tänzer gegenseitig Impulse geben. Ein BBoy fängt mit Flips an, der nächste macht mit Freeze weiter und ein anderer mit Robot Style.“ Diese Dynamik begreift Kimminich als „Flow“. Oder in der Wissenschaftssprache: Autotelie. Jeden Monat ist Kimminich damals nach Straßburg gefahren, um Feldforschung in der dortigen Breakdance-Szene zu betreiben. Die Jams zeichnete sie mit einer Kamera auf. Bis dahin hatte sie allerdings noch nie eine Kamera in der Hand gehabt und war entsprechend ungeübt. „Eines Tages begriff ich am eigenen Leib, was Flow bedeutet“, erinnert sie sich. „Plötzlich war die Kamera immer am richtigen Fleck. Ich war ganz auf meine Umwelt und zugleich auf mich selbst eingestellt.“

Mit ihren Studierenden reist Kimminich in ferne Länder

Für Kimminich, die neben Romanistik auch Ethnologie, Volkskunde und Kunstgeschichte studiert hat,ist Feldforschung selbstverständlich. Auf Exkursionen vermittelt sie das auch ihren Studierenden. Regelmäßig führt sie sie in ferne Länder, nach Italien, Tunesien oder Mali. Diesen Sommer betrieb sie mit den Studierenden Feldforschung im Piemont und fragte nach dem Umgang mit Lebensraum und Lebensqualität in der italienischen Provinz. 2013 erkundeten Kimminich und ihre Studierenden die Funktionen der Street Art während der Tunesischen Revolution in Tunis und Sfax. Und 2011 besuchten sie Rapper in Mali und sprachen mit ihnen über das sozialkritische Potenzial des Hip Hop. Theorien müssen auf festen Füßen stehen, sagt Kimminich. Und dafür sollen die Studierenden ihren Gegenstand sinnlich erleben. Das gilt auch für den von ihr angeregten neuen Master-Studiengang „Angewandte Kulturwissenschaft und Kultursemiotik“, der den künftigen Uni-Absolventen mit seiner praxisorientierten Ausrichtung den Einstieg in das Arbeitsleben erleichtern soll.

Den Bezug zur Praxis pflegt Kimminich genauso als Semiotikerin. Seit 15 Jahren ist sie Mitglied in der Deutschen Gesellschaft für Semiotik und begründete hier den Bereich Jugend- und Subkulturen. Die Semiotik befasst sich mit Zeichensystemen: „Ohne Zeichen könnten wir nicht kommunizieren“, sagt Kimminich. Wie konstruieren wir mit Zeichen Wirklichkeit? Wie konstruieren sich soziale Identitäten über Zeichen? Das sind Fragen, die Kimminich seit Langem begleiten. Ihr Internet- Portal „Kulturen im Fokus“ nimmt die Zeichenwelten gegenwärtiger Subkulturen in den Blick. Die Studierenden erklären dort in kurzen Texten zeitgenössische Phänomene wie Flashmobs, Graffiti oder Urban Gardening. „Solche subversiven Bewegungen können zur Reflexion unserer Wirklichkeitssicht anregen“, sagt die Semiotikerin. „Zeichen können Herrschaft bestätigen, aber auch unterlaufen.“ Dies zeige sich schon beim sogenannten Verkehrszeichen- Hacking, bei dem Aktivisten die gängigen Schilder verändern. Eines ihrer vielen studentischen Projekte nahm solche subkulturellen städtischen Phänomene in den Blick: die Ausstellung „Stadt und Zeichen“, die dieses Jahr im Bildungsforum Potsdam zu sehen war.

Verschwörungstheorien sind ein Spezialgebiet der Romanistin

Kimminich ist sowohl Lehrerin als Forscherin aus Leidenschaft. Oft befruchten sich beide Bereiche. So entstand ihr aktuelles Forschungsprojekt über Verschwörungstheorien und Rechtspopulismus im Internet aus einem Seminar der Professorin. Noch bis 2020 untersucht sie zusammen mit Kollegen der Universitäten Potsdam und Turin das brisante Thema. „Die Geisteswissenschaften greifen zu selten ganz aktuelle Phänomene auf“, kritisiert Kimminich. „Mir ist es wichtig zu ergründen, was in meiner Zeit geschieht.“ Schon vor zwei Jahren veranstaltete sie eine internationale Fachkonferenz über „Verschwörungstheorien in der aktuellen europäischen Krise“. Ihre Aktualität brachte der Tagung prompt eine Auszeichnung ein: den Potsdamer Kongress-Preis 2015. Anfang dieses Jahres veranstaltete die Wissenschaftlerin eine zweite große Konferenz im Rahmen des europäischen Forschungsprojekts. „In der gegenwärtigen Gesellschaft wird es immer schwieriger, einen Common Sense zu finden“, stellt die Kulturwissenschaftlerin fest. „Es gibt kein gemeinsames Wirklichkeitsbild mehr.“ Verschwörungstheorien könnten unsere geteilte Realität erschreckend verdrehen. Dabei gehe es immer auch um Ängste. „Es gibt keine Verschwörungstheorie über positive Ereignisse“, erklärt Kimminich. Manche Menschen glauben, dass die Mondlandung 1969 gar nicht stattgefunden habe. Die amerikanische Dollarnote sei ein Beweis für den mächtigen Einfluss der Illuminaten. Und eine geheime Macht will die Menschheit mit Kondensstreifen am Himmel krank machen. Solche Theorien florieren besonders im Internet. Hier erreichen sie in kurzer Zeit viele Menschen – jedenfalls die, die danach suchen. Kimminich spricht von sogenannten Filterblasen: Die Algorithmen von Suchmaschinen und Social-Media-Netzwerken zeigen ihren Nutzern vor allem Informationen an, die deren Ansichten entsprechen. Wie bei einem Stammtisch finden sich dadurch im Netz Menschen mit ähnlichen Ansichten und bestätigen einander ihre Vorannahmen.
Ein Wir-Gefühl sei vielen Menschen in Zeiten der Vereinzelung wichtig. Mit Botschaften wie „Wir brauchen dich“ oder „Du suchst nach Wahrheit“ üben politisch rechte Blogs wie „Politically Incorrect“ eine Sogwirkung auf die User aus. Dabei werden Meinungen zu Ernährung oder zum Klimawandel mit fremdenfeindlichen Inhalten verknüpft, sodass ein Weltbild als Rundum-Paket entsteht. „Konfessionen“, wie Kimminich sie nennt, untermauern dieses Weltbild: Zitate sollen etwa die persönlich-biografische Abkehr von Multikulti hin zum Nationalismus bezeugen.

Sprache beeinflusst unsere Sicht auf die Wirklichkeit

Metaphern sind für die Forscherin dabei ein springender Punkt. „Im Zeitalter von Verschwörungstheorien und Rechtspopulismus tritt die bedrohliche Wirkung sprachlicher Bilder zutage. Die wenigsten sind sich aber bewusst, dass schon in der Alltagssprache eine Vielzahl von Metaphern steckt.“ Buchrücken, Steueroase oder Flüchtlingswellen – solche sprachlichen Bilder können neutral sein, sie können aber auch banalisieren oder Ängste schüren: Metaphern suggerieren Meinungen. „Die Sprache steht zwischen uns und der Welt und beeinflusst damit direkt die Wirklichkeitssicht von Menschen.“ Daher fordert Kimminich, dass Politiker und Journalisten bewusster mit sprachlichen Bildern umgehen.
Auch die Nachwuchsforscherinnen und –forscher der Universität Potsdam nehmen das Thema mit Interesse auf. Mehrere Abschlussarbeiten entstehen derzeit über Verschwörungstheorien und Rechtspopulismus. Die Studierenden vergleichen etwa die Rhetorik von Marine Le Pen und Beatrix von Storch, untersuchen das Treffen rechtspopulistischer EU-Politiker Anfang 2017 in Koblenz oder die Macht politischer Fotografien in der Presse. Die Macht des „Be-Deutens“ in Wort und Bild war Thema einer studentischen Ausstellung unter Leitung Kimminichs. „Die Welt der Zeichen – Was wir mit ihnen und sie mit uns machen“ war dieses Jahr in der Wissenschaftsetage des Bildungsforums zu sehen und wurde von Vorträgen, Workshops und Schülerakademien begleitet. „Unser Anliegen war es, die Aufmerksamkeit darauf zu lenken, was Presse und Politiker mit den Wählern machen.“ So finden sich auf einer Tafel die Analyse von Fotos eines Zusammentreffens zwischen den US-Präsidentschaftskandidaten Hillary Clinton und Donald Trump im vergangenen Jahr. Die Presse ließ ein und dasselbe Ereignis völlig verschieden aussehen: Durch die Auswahl der Fotografien entstand je nach politischer Ausrichtung der Zeitung eine andere Aussage. Wie Bilder Botschaften vermitteln, ist gerade in Zeiten digitaler Bilderwelten eine wichtige Frage.
Eva Kimminich will natürlich auch in Zukunft die drängenden Fragen ihrer Zeit erforschen. Rechtspopulismus und Verschwörungstheorien werden sie weiter beschäftigen. Doch auch eine hoffnungsvollere Komponente des menschlichen Zusammenlebens möchte sie künftig untersuchen: Mitgefühl und Empathie.

Den Master-Studiengang Angewandte Kulturwissenschaft und Kultursemiotik bietet die Universität Potsdam seit dem Wintersemester 2016/17 an. Mit seiner kultursemiotischen und praxisorientierten Ausrichtung ist er in Deutschland einzigartig. Die Studierenden absolvieren attraktive Praktika bei außeruniversitären Partnern wie dem Medieninnovationszentrum Babelsberg, dem Filmmuseum Potsdam oder dem Marketingunternehmen Causales. In Kooperation mit der Universität Turin kann der Master auch mit einem Double-Degree abgeschlossen werden.
https://www.uni-potsdam.de/studium/studienangebot/masterstudium/master-a z/kultursemiotik.html

Im Internet-Portal Kulturen im Fokus (KiF) stellen Studierende und Wissenschaftler kulturelle Phänomene insbesondere aus romanisch-sprachigen Ländern vor. Außerdem erörtern sie Begriffe und Konzepte, um solche Erscheinungen kulturkritisch zu beleuchten. Ein besonderes Augenmerk der „Potsdamer Kulturanalysen“ gilt den Jugend- und Subkulturen.
www.uni-potsdam.de/romanistik-kimminich/kif

Die Wissenschaftlerin

Prof. Dr. Eva Kimminich studierte Romanistik, Kunstgeschichte, Ethnologie und Volkskunde. Seit 2010 ist sie Professorin für Kulturen romanischer Länder an der Universität Potsdam.

Universität Potsdam
Institut für Romanistik
Am Neuen Palais 10
14469 Potsdam
eva.kimminichuni-potsdamde

Text: Jana Scholz
Online gestellt: Marieke Bäumer
Kontakt zur Online-Redaktion: onlineredaktionuni-potsdamde

Diesen und weitere Beiträge zur Forschung an der Universität Potsdam finden Sie im Forschungsmagazin "Portal Wissen".