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Die scheuen Verwandten des Delfins - Bedrohte Kleinwalart in der Ostsee wird genetisch untersucht

Schweinswal
Photo : Wikipedia.org/Ecomare
Schweinswal

Man braucht viel Glück, um sie zu sehen. Schweinswale sind scheu und unauffällig. Nur kurz zeigen sich die knapp zwei Meter langen Tiere mit ihren dunklen Rückenflossen an der Wasseroberfläche, um sofort wieder abzutauchen. Die Bestände in der Nord- und Ostsee werden seit Jahrzehnten von der Wissenschaft beobachtet. Mit neuen molekulargenetischen Methoden untersuchen Potsdamer Forscher, ob die einzelnen Bestände eigenständige Populationen bilden.

Es ist nur ein kleines Stück gefrorenes Gewebe. Unter der dunklen, lederartigen Haut sitzt eine helle Fettschicht. Was hier in einer Petrischale im Labor der Professur für Evolutionsbiologie liegt, gehörte einst zu einem Schweinswal. Irgendwann fand man ihn tot am Ostseestrand – nun hilft er der Wissenschaft. Hunderte dieser Proben, die alle von unterschiedlichen Tieren stammen, lagern hier bei -20 Grad Celsius. Für die Langzeitlagerung sind es sogar -80 Grad Celsius. Sie werden zerkleinert und enzymatisch aufgeschlossen. Das Interesse der Wissenschaftler gilt der im Gewebe versteckten genetischen Information, die in jeder einzelnen Körperzelle in Form von DNA vorliegt. Denn deren Analyse gibt Aufschluss über die Verwandtschaftsverhältnisse der Tiere. Es geht um die Frage, ob sich die Bestände in der Ostsee voneinander unterscheiden und eigenständige Populationen bilden. Dies ist für den Schutz der Tiere von zentraler Bedeutung. 

Von den zwei Beständen in der Ostsee ist eine vom Aussterben bedroht

Bereits zu Beginn der 1990er Jahre forschte Ralph Tiedemann, Professor für Evolutionsbiologie und Spezielle Zoologie, über Schweinswale. „Wie viele Bestände gibt es eigentlich in deutschen Gewässern?“, dies sei die Frage, die die Wissenschaft bewege – damals wie heute, erklärt der Forscher. Am Deutschen Meeresmuseum in Stralsund stellten Wissenschaftler bei Schädelvermessungen von Fundtieren fest, dass geografische Unterschiede in der Morphologie bestanden. Bei einem Teil der Tiere war der Unterkiefer länger als bei anderen. Dänische Untersuchungen untermauerten die Befunde. Es waren erste Hinweise darauf, dass es zwei getrennte Schweinswalbestände im Ostseeraum gab. Mit verschiedenen Methoden versuchte man, die verborgen lebenden Tiere zu erfassen und zu ermitteln, wo sich die Bestände aufhalten und wie groß sie sind. Auch für die Wanderungsbewegungen der Säuger interessierten sich die Forscher.

Im Jahr 2002 starteten Wissenschaftler unter der Leitung des Deutschen Meeresmuseums eine Untersuchung mit Unterwassermikrofonen. Damals installierten sie zwölf Hydrofone in der Ostsee. In einer darauffolgenden Aktion spannten die Forscher 2011 gar ein engmaschiges Netz aus 304 Unterwassermikrofonen zwischen Rostock und Finnland. Die Geräte erfassten die typischen Klicklaute der Tiere, mit denen sie sich unter Wasser orientieren und jagen. Außerdem gab es Sichtungsaktionen mit Flugzeugen und genetische Untersuchungen.

Die Forschungsergebnisse bestätigten: Es existieren nicht nur Populationen in der Nord- und Ostsee, sondern auch zwei getrennt lebende Gruppen in der Ostsee. Während die Population in den inneren dänischen Gewässern aus rund 10.000 Tieren besteht, sind es in der zentralen und östlichen Ostsee nur noch etwa 500. Besonders dieser Bestand macht den Forschern Sorgen: Er gilt als vom Aussterben bedroht. Die meisten Schweinswale, die an den Stränden gefunden werden, verenden in den Stellnetzen der Fischerei. Die Netze, die in großem Stil eingesetzt werden und aus extrem reißfesten, dünnen Nylonfäden bestehen, werden zu Todesfallen für die Tiere. Bleiben sie in den Maschen hängen, können sie nicht mehr zum Atmen an die Wasseroberfläche steigen und ertrinken. Versuche, die Tiere durch Signallaute von den Stellnetzen fernzuhalten, waren bislang nur teilweise erfolgreich. Auch die Lärmbelastung durch den Schiffsverkehr und die Errichtung von Offshore-Windkraftanlagen machen den Kleinwalen zu schaffen. Hinzu kommt, dass sie am Ende der Nahrungskette stehen – in ihren Körpern reichern sich Schadstoffe an.

Das Team um Tiedemann analysiert das komplette Schweinswalgenom

Wird ein toter Schweinswal an die Küste von Mecklenburg-Vorpommern gespült, wird es für Michael Dähne und sein Team ernst. Als Kurator für Meeressäugetiere am Deutschen Meeresmuseum kümmert er sich darum, dass die toten Tiere zunächst geborgen und für eine wissenschaftliche Untersuchung aufbereitet werden. „Pro Jahr haben wir zwischen 20 und 60 Totfunde“, sagt Dähne. Vereinzelt geben auch Fischer, die verendete Wale in ihren Netzen finden, diese beim Meeresmuseum ab. Jedes Tier wird erfasst, erhält eine Eingangsnummer und wird zunächst eingefroren. Bei der anschließenden Sektion untersuchen die Forscher vom Meeresmuseum, ob das Tier Krankheiten oder Parasiten hatte und woran es gestorben ist. Eine toxikologische Analyse zeigt, wie hoch die Schadstoffbelastung ist.

Außerdem entnehmen die Forscher zahlreiche Gewebeproben für weitere wissenschaftliche Untersuchungen. „Ein Tier wird nahezu komplett verwertet“, sagt Michael Dähne. Rippen und Muskelgewebe gehen derzeit etwa an die belgische Universität Liège, wo über Isotopenanalysen das Nahrungsgefüge der Schweinswale bestimmt wird. Andere Einrichtungen untersuchen die Proben auf Bakterien und Viren. Das Skelett des Schweinswals verbleibt im Meeresmuseum und wird morphologisch untersucht. Zwischen zwei und vier Stunden dauert die komplette Sektion eines Tieres. Ein Teil der Haut- und Muskelproben geht auch nach Potsdam, ins genetische Labor von Ralph Tiedemann. Für die hier anstehenden molekulargenetischen Untersuchungen muss der Kadaver möglichst frisch sein, denn um aussagekräftige Ergebnisse zu erzielen, ist intaktes Erbmaterial erforderlich. Da der Verwesungsprozess sofort nach dem Tod einsetzt, ist dies ein Wettlauf mit der Zeit. Parallel zu den Untersuchungen an einzelnen Tieren analysiert das Team um Tiedemann gegenwärtig das komplette Schweinswalgenom. Die Frage, ob es sich bei den beiden in der Ostsee vorkommenden Schweinswalbeständen um zwei getrennte Populationen handelt, mag dem Laien unwichtig erscheinen. Tatsächlich könnte die Antwort darauf darüber entscheiden, ob die Gruppe in der zentralen Ostsee die kommenden Jahrzehnte überlebt. „Wenn man die Tiere in der Ostsee als einen Bestand ansieht, könnte man argumentieren, dass noch 10.000 Tiere vorhanden sind und ein paar Hundert weitere keine Rolle spielen“, erläutert Ralph Tiedemann. „Betrachtet man den Bestand der zentralen Ostsee jedoch separat, ist dieser natürlich in großer Gefahr. Und dann muss man diskutieren, wie groß der Unterschied zwischen den einzelnen Populationen sein muss, um für den Naturschutz von Belang zu sein.“

Um genau diese Fragestellung geht es den Potsdamer Forschern, die mit molekulargenetischen Methoden ermitteln wollen, wie abgegrenzt die beiden Ostsee-Gruppen voneinander tatsächlich sind. Es ist bekannt, dass sich die Verbreitungsgebiete der beiden Bestände überlappen. Doch sie scheinen sich jeweils zu verschiedenen Zeiten dort aufzuhalten. Während die große Gruppe aus der nordwestlichen Ostsee zwischen Juni und September in der Pommerschen Bucht zu finden ist, ist die kleine Gruppe zu dieser Zeit vor allem in schwedischen und polnischen Gewässern unterwegs. Die Wissenschaftler vermuten, dass sich diese gefährdete Population im Winter im gesamten Ostseeraum verteilt. Bisher konnte nicht ausgeschlossen werden, dass sich die beiden Schweinswalpopulationen miteinander mischen. Nun gehen die Potsdamer Forscher der Sache mit molekulargenetischen Methoden auf den Grund. Ihre Analysen erlauben es sogar, die Verwandtschaftsgrade einzelner Tiere festzustellen.

Michael Dähne betont: „Das Wissen darüber, wo sich die Tiere aufhalten und wie sie saisonal wandern, ist die wichtigste Voraussetzung für ihren Schutz.“ Und dieser sei nur in der Zusammenarbeit mit den Fischern möglich. „Es müssen Methoden entwickelt werden, um den Beifang zu senken.“ Möglich wäre dies etwa mit alternativen Fangmethoden wie Langleinen oder Reusen.

Die genetischen Untersuchungen an Einzelmutationen – sogenannten Single Nucleotide Polymorphisms (SNPs) – von 400 Tieren werden nun ausgewertet. Es zeigen sich bereits „kleine, aber konsistente Unterschiede“, erklärt Ralph Tiedemann. Die Wege der beiden Populationen kreuzen sich während der saisonal stattfindenden Wanderungen immer wieder, jedoch paaren sich die Tiere untereinander scheinbar kaum und kehren stets in ihre Ursprungsgebiete zurück. Für den Schutz der kleineren Ostseepopulation liefern diese Aussagen neue, drängende Argumente. „Der Schweinswal ist die einzige Walart, die sich in deutschen Gewässern fortpflanzt“, betont Ralph Tiedemann. Doch sein Fazit ist zugleich ernüchternd: „Stirbt der Bestand in der zentralen Ostsee aus, wird es dort wohl auf absehbare Zeit keine Schweinswale mehr geben.

Der Schweinswal

Kleiner Tümmler, Braunfisch oder Meerschwein: Für den Gewöhnlichen Schweinswal gibt es in der Literatur viele Namen. Die etwa 1,50 Meter bis zwei Meter langen Tiere gehören wie Delfine und andere Walarten zu den Säugetieren und kommen zum Atmen an die Wasseroberfläche. Der Gewöhnliche Schweinswal lebt in den flachen Küstengewässern des Nordatlantiks – vor Europa, Nordwestafrika und dem Osten Nordamerikas. Auch im Schwarzen Meer und in den nordasiatischen und nordamerikanischen Küstengewässern des Pazifiks findet man die Tiere, die sich von Fischen, Krebstieren und Tintenfischen ernähren. Der Schweinswal ist die einzige Walart, die in der Ostsee heimisch ist. Die Population in der inneren Ostsee ist vom Aussterben bedroht. Viele Tiere ersticken in Stellnetzen der Fischerei. Doch auch Schadstoffe und Lärm gefährden ihren Fortbestand.

Die Wissenschaftler

Prof. Dr. Ralph Tiedemann studierte Biologie, Informatik und Isländisch an den Universitäten Kiel und Reykjavík. Er promovierte mit populationsgenetischen Untersuchungen an Eiderenten und Watvögeln. Nach einem Gastforschungsaufenthalt an der Université Libre de Bruxelles (ULB) habilitierte er sich im Jahr 2000 für Zoologie. Seit 2002 ist er Professor für Evolutionsbiologie und Systematische Zoologie an der Universität Potsdam und erforscht Populationsdifferenzierungen, Artbildungsprozesse und Anpassungsphänomene bei verschiedenen Organismen, u.a. Walen, Vögeln, Amphibien, Fischen und Rotatorien.

Universität Potsdam
Institut für Biologie und Biochemie
Karl-Liebknecht-Str. 24 – 25
14476 Potsdam
E-Mail: tiedemanuni-potsdamde

Dr. Michael Dähne studierte Landeskultur und Umweltschutz an der Universität Rostock. Seit 2015 ist er Kurator für Meeressäugetiere am Deutschen Meeresmuseum in Stralsund und erforscht die Bestandsgrößen und Verteilungsmuster mariner Säugetiere in der Nord- und Ostsee.

Deutsches Meeresmuseum
Katharinenberg 14 – 20
18439 Stralsund
E-Mail: michael.daehnemeeresmuseumde