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Ferne Nachbarn - Die Astrophysikerin Prof. Dr. Maria-Rosa Cioni untersucht die Bewegungen von Galaxien

Prof. Dr. Maria-Rosa Cioni. Foto: Karla Fritze.
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Prof. Dr. Maria-Rosa Cioni. Foto: Karla Fritze.

Von Europa aus sind sie unsichtbar. Nur von der Südhalbkugel der Erde aus sieht man sie als helle Flecken am südlichen Sternenhimmel. Die Magellanschen Wolken sind Galaxien in direkter Nachbarschaft der Milchstraße und bestehen aus Milliarden von Sternen. Die Astrophysikerin Prof. Dr. Maria-Rosa Cioni hat die Magellanschen Wolken von Potsdam aus dennoch fest im Blick – das VISTA (Visible & Infrared Survey Telescope for Astronomy) ist ihr Auge ins Weltall, das ihr Unmengen an Daten liefert. Vier Meter misst das große Teleskop im Durchmesser. Es steht in der nordchilenischen Atacama-Wüste, auf einem Seitengipfel des Cerro Paranal und ist Teil des Paranal-Observatoriums der Europäischen Südsternwarte (ESO).

VISTA durchmustert systematisch den Nachthimmel im nahen infraroten Bereich von 1 bis 2,5 Mikrometer Wellenlänge. Damit erlaubt das weltgrößte Durchmusterungsteleskop tiefe, detaillierte Blicke ins Weltall – durch Dunst- und Staubwolken hindurch. Meter für Meter nimmt es hochaufgelöste Bilder des Universums auf, liefert Erkenntnisse über den Ablauf astronomischer Phänomene und ermöglicht die Kartierung des Himmels. Auch die Magellanschen Wolken stehen im Fokus des Teleskops. Während die Große Magellansche Wolke aus etwa 15 Milliarden Sternen besteht, sind es in der Kleinen Magellanschen Wolke rund fünf Milliarden.

Die Geometrie dieser Galaxien verstehen

Für die aus Italien stammende Astrophysikerin Maria-Rosa Cioni sind die Zwerggalaxien von besonderem Interesse, da sie durch ihre große Nähe zur Milchstraße von dieser beeinflusst werden. Und auch zwischen den beiden Galaxien gibt es Wechselwirkungen. Welche genau, untersucht Cioni als Leiterin der großanlegten Forschungsstudie VISTA Magellanic Cloud Survey, die eine von insgesamt sechs Durchmusterungen des Südhimmels darstellt. „Wir wollen vor allem die Geometrie dieser Galaxien verstehen, die Bewegungen ihrer Sterne und auch ihre gesamte Orbitalbewegung“, erklärt die Forscherin, die kürzlich vom Europäischen Forschungsrat (ERC) eine der weltweit wichtigsten Würdigungen für junge Wissenschaftler erhielt: den Consolidator Grant. Seit 2012 forscht die Wissenschaftlerin am Leibniz-Institut für Astrophysik Potsdam (AIP) und ist Gastprofessorin am Institut für Physiker der Astronomie der Uni Potsdam. Die Magellanschen Wolken sind für ihre Untersuchungen ideal, da sie von der Erde aus noch gut zu sehen sind. „Es gibt im Universum viele Galaxien, die miteinander agieren, aber diese sind so weit entfernt, dass wir meist keine Einzelsterne beobachten können“, erklärt die Professorin.

Am VISTA stehen Maria-Rosa Cioni und ihrem 20 köpfigen internationalen Team für den Magellanic Cloud Survey 2.000 Beobachtungsstunden zur Verfügung. Mit den Daten, die das Teleskop liefert, wollen die Wissenschaftler die Galaxien und ihre Bewegungen am Computer modellieren. Ihre Berechnungen sollen nicht nur einen Blick in die Vergangenheit, sondern auch in die Zukunft der Galaxien ermöglichen. „Wir können mit unseren Geräten Sternpositionen und Sternbewegungen sehr akkurat messen“, erklärt Maria-Rosa Cioni. Sternbewegungen im Inneren der Magellanschen Wolken können mit VISTA im Bereich von Millibogensekunden pro Jahr erfasst werden – eine Millibogensekunde entspricht von der Erde aus gesehen in etwa dem Winkel, unter dem uns eine Strecke von 1,9 Metern auf dem Mond erscheint. Milliarden Sterne werden so vermessen und ihre Bahn im Weltall berechnet. Spektren, Helligkeiten und die chemische Zusammensetzung der Sterne sind weitere wichtige Messgrößen, die die Astrophysiker mithilfe von VISTA erfassen. Auf Grundlage dieser Messungen entstehen die Modelle der Galaxien, die die in ihnen wirkenden Kräfte abbilden. Die Positionen der einzelnen Sterne und Sterngruppen sowie ihre berechneten Umlaufgeschwindigkeiten und Bewegungen verraten, wie sich Gas und Masse innerhalb von Galaxien verteilen und wie sich einzelne Galaxien gegenseitig beeinflussen.

Doch bevor die Daten vom chilenischen Cerro Paranal auf dem Bildschirm von Maria-Rosa Cioni erscheinen und von ihr in Tabellen, mathematischen Gleichungen und Grafiken aufbereitet werden, durchlaufen sie ein aufwendiges Prozedere. „Tatsächlich gelangen die Daten zunächst einmal nach Großbritannien“, erklärt die Astrophysikerin. „In dem Moment, in dem die Daten vom Teleskop aufgenommen werden, gehen sie direkt nach Cambridge.“ Dort werden sie für weitere Untersuchungen vorbereitet, nach Edinburgh weitergeleitet und dort erneut bearbeitet. Erst dann, wenn die Unmengen an Daten bereits grob gefiltert, kategorisiert und kombiniert wurden, kann die Astrophysikerin darauf zugreifen. „Man benötigt diese Infrastruktur und ein erfahrenes Team, weil die Rohdaten einfach zu umfangreich sind“, betont sie.

„Wissenschaft an sich, die mich reizt und glücklich macht“

Sind die ersehnten Zahlen da, beginnt die Wissenschaftlerin, mit ihnen zu „jonglieren“, lässt sie in ihre Modelle einfließen, visualisiert sie in Abbildungen und Diagrammen. Es ist dieses Zahlenspiel vor dem Bildschirm, das Ordnen, Nachdenken und Berechnen, das die Astrophysikerin so liebt und für das sie sich neben dem Lesen und Schreiben von Fachartikeln und Forschungsanträgen oder dem Vorbereiten von Konferenzen und Vorlesungen oft erst die notwendige Zeit freischaufeln muss. „Wahrscheinlich wäre ich auch in einem anderen Fachgebiet glücklich geworden“, verrät sie. Schließlich hat sie Mathematik studiert und sich damit die Grundlage geschaffen, in vielen verschiedenen Bereichen der Wissenschaft zu forschen. „Aber die Astronomie fasziniert mich. Es ist spannend zu entdecken, was dort draußen ist. Und wir sind Teil davon. Doch eigentlich ist es die Wissenschaft an sich, die mich reizt und glücklich macht.“ Seit 2009 begleiten Maria- Rosa Cioni die Magellanschen Wolken als Forschungsobjekt. Die Nachbarschaft zur Milchstraße wird für die Zwerggalaxien in Zukunft möglicherweise zum Verhängnis werden. Da die Milchstraße sehr viel massereicher ist, könnte sie die kleineren Galaxien in sich aufnehmen – so die Vermutung der Astrophysiker. Sterne und Staub der Magellanschen Wolken verändern voraussichtlich ihre Bewegungen so sehr, dass sie keine eigenständigen Galaxien mehr bilden, sondern mit der Milchstraße verschmelzen. „Die kleinen Galaxien könnten gänzlich zerrissen werden. Wir nehmen an, dass das bereits mit zahlreichen Galaxien, die wir heute nicht mehr sehen können, passiert ist“, erklärt Maria-Rosa Cioni. Vielleicht sind die Magellanschen Wolken lediglich zwei „Überlebende“ einer ursprünglich größeren Galaxiengruppe.

Täglich erfasst die Raumsonde Gaia etwa 40 Millionen Sterne

„Die Magellanschen Wolken sind für uns so interessant, weil sie sich erst seit relativ kurzer Zeit in großer Nähe zur Milchstraße befinden“, sagt Cioni. „Relativ kurz“ – in astronomischen Dimensionen bedeutet dies dennoch eine unvorstellbar lange Zeitspanne. „Wir reden von rund zwei Milliarden Jahren“, verdeutlicht Maria-Rosa Cioni. Das Universum entstand vor etwa 13,8 Milliarden Jahren. Die Magellanschen Wolken beginnen gerade erst, sich unter dem Einfluss der Milchstraße zu verändern – ideale Voraussetzungen für die durchgeführten Messungen.

2018 wird der Magellanic Cloud Survey nach neun Forschungsjahren enden. Zuvor wird Maria-Rosa Cioni ab September dieses Jahres auf weitere Messdaten zurückgreifen können, die von der im Jahr 2013 gestarteten Weltraumsonde Gaia stammen. Von ihr erhoffen sich die Forscher noch genauere Messungen der Positionen und Bewegungen von Sternen der Milchstraße und vor allem genauere Spektralmessungen, die mehr über die Zusammensetzung der Materie verraten. Die Raumsonde Gaia erfasst während ihrer geplanten Flugdauer von fünf Jahren täglich etwa 40 Millionen Sterne, darunter auch Teile der Magellanschen Wolken. Für Maria-Rosa Cioni wird es wieder unzählige Daten geben, die ausgewertet und analysiert werden müssen. Und auch nach dem Ende des Projekts wird sie die Magellanschen Wolken weiter erforschen. „Dann geht es weiter zum nächsten Schritt, bei dem die chemische Zusammensetzung der Galaxien im Fokus stehen wird. Es gibt noch viel zu entdecken.“

 

Die Wissenschaftlerin

Prof. Dr. Maria-Rosa Cioni studierte Astronomie an der Universität von Bologna (Italien) und promovierte an der Universität von Leiden (Niederlande). Derzeit ist sie Gastwissenschaftlerin am Leibniz-Institut für Astrophysik Potsdam (AIP) und DAAD-Gastprofessorin an der Universität Potsdam.

Leibniz-Institut für Astrophysik Potsdam (AIP)
An der Sternwarte 16, 14482 Potsdam
Email: maria-rosa.cioniuni-potsdamde

Leibnitz-Institut für Astrophysik Potsdam (AIP)
Das Leibniz-Institut für Astrophysik Potsdam (AIP) widmet sich astrophysikalischen Fragen, die von der Untersuchung unserer Sonne bis zur Entwicklung des Kosmos reichen. Forschungsschwerpunkte sind dabei kosmische Magnetfelder und extragalaktische Astrophysik sowie die Entwicklung von Forschungstechnologien in den Bereichen Spektroskopie, robotische Teleskope und E-Science. Das Institut ist Nachfolger der 1700 gegründeten Berliner Sternwarte und des 1874 gegründeten Astrophysikalischen Observatoriums Potsdam, das sich als erstes Institut weltweit ausdrücklich der Astrophysik widmete. Seit 1992 ist das AIP Mitglied der Leibniz-Gemeinschaft.

 

Text: Heike Kampe
Online gestellt: Daniela Großmann
Kontakt zur Onlineredaktion: onlineredaktionuni-potsdamde