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Landwärts - Auf der Suche nach dem verlorenen Dorf

Die Kunst entdeckt das Landleben: Janna Kapustnikova: Polesien, 2012.
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Die Kunst entdeckt das Landleben: Janna Kapustnikova: Polesien, 2012.

Wie schön ist doch das Leben auf dem Lande, möchte man meinen, wenn man die Idylle in den Zeitschriften betrachtet, die Lust aufs Landleben verbreiten. Der eigene Vierseithof, weite Landschaft, blühende Gärten, Selbstversorgung aus ökologischem Anbau, Nachbarschaftshilfe … Das sind Wünsche und Träume, die sich bei so manchem Städter einstellen. Andererseits ist immer wieder von Verfall, Überalterung und sterbenden Dörfern die Rede, Arbeitslosigkeit und Strukturarmut, seit 1990 besonders im Osten. Die Slavistin Magdalena Marszałek schaut genauer hin und untersucht „das Dorf als Imaginationsraum und Experimentierfeld im östlichen Europa“.

Die Entwicklung der Städte, ihre Topografien, der urbanen Kultur- und Lebensformen standen in den letzten Jahrzehnten im Fokus der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit wie auch der Kulturwissenschaften, während die Transformationen auf dem Land weitestgehend unbeachtet blieben. Das Forschungsprojekt „Experimentierfeld Dorf“, an dem Germanisten, Slavisten, Komparatisten und Landschaftsarchitekten sowie assoziierte Historiker und Ethnologen der Universitäten in Halle, Konstanz, Potsdam und Weimar beteiligt sind, will Abhilfe schaffen und rückt die Veränderungen in einer der „ältesten Wohn- und Beheimatungsformen der europäischen Zivilisationsgeschichte“, dem Dorf, in den Mittelpunkt. Es geht u.a. darum, das Leben im ländlichen Raum und seine globalen Veränderungen stärker ins öffentliche Bewusstsein zu holen, Dialoge und Debatten anzustoßen und nicht zuletzt auch mithilfe der Forschungsergebnisse Schlüsse für eine zukünftige Gestaltung der Dörfer zu ziehen.

Die Realität ist von der Imagination weit entfernt

Das von der Universität Potsdam betreute Teilprojekt in dem Forschungsverbund leitet Prof. Dr. Magdalena Marszałek vom Institut für Slavistik, die gemeinsam mit der Nachwuchswissenschaftlerin Yaraslava Ananka untersucht, welche Vorstellungen über das osteuropäische Dorf in literarischen Texten, Filmen und anderen Medien existieren und woher sie kommen. „Und natürlich steht im Hintergrund immer auch die Frage, wie verhalten sich diese Imaginationen zu den tatsächlichen Veränderungen und Lebensbedingungen auf dem Lande. Was macht das Dorf überhaupt noch aus und was machen die Literatur und der Spielfilm fiktional daraus? Wir sehen, dass die Imagination oft sehr, sehr weit von der Realität entfernt ist. Das Dorf wird gern als Allegorie betrachtet. Es geht dabei nicht um das gelebte Dorf, sondern an ihm werden verschiedene gesellschaftliche Probleme verhandelt. Aus dem Dorf wird etwas gemacht, was für den Rest der Gesellschaft steht“, berichtet Magdalena Marszałek.

Während Yaraslava Ananka sich insbesondere mit der Geschichte des weißrussischen Dorfes als literarisches Phänomen sowie seiner Tradition beschäftigt, steht bei Magdalena Marszałek selbst das polnische Dorf im Mittelpunkt. „Meine Beobachtung ist, dass das Dorf in Polen in den 1990er Jahren in der Euphorie der liberalen Transformation weitgehend vergessen wurde. In öffentlichen Debatten spielte es keine Rolle, obwohl die Veränderungen auch dort gravierend waren – so die Umstellung auf die Marktwirtschaft und die Frage, ob die kleinen Familienbetriebe das überhaupt schaffen. Das waren und sind Probleme, die immerhin 30 bis 40 Prozent der polnischen Menschen betreffen. Mehr als ein Drittel der Bevölkerung lebt auf dem Land und gehört zu großen Teilen zu den sogenannten Transformationsverlierern. Seit etwa zehn Jahren haben nun Soziologen und Kulturanthropologen damit begonnen, sich mit diesem Teil der Bevölkerung näher zu beschäftigen, denn in ihr artikuliert sich sehr viel Unzufriedenheit, eine Unzufriedenheit durch Vernachlässigung.“ Zu einem gewissen Grad gelte Vergleichbares für die postsozialistischen Dörfer in Brandenburg, wo die großen Produktionsgenossenschaften geschlossen wurden. Dort aber war es möglich, in die Großstädte im Westen Deutschlands auszuwandern und sich zu integrieren. In Polen sei die großstädtische Integration allein aufgrund der Zahl der betroffenen Menschen kaum eine Option gewesen, sondern allenfalls die Arbeitssuche im Ausland. Die Verlierer der gesellschaftlichen Umbrüche seien auf dem Land geblieben, so die Wissenschaftlerin. Doch es gebe inzwischen eine wachsende Sensibilisierung für die soziale und kulturelle Diskriminierung der Landbewohner. Vor allem junge Polen wendeten sich gegen das in der polnischen Kultur immer noch stark spürbare Stadt-Land-Gefälle und machten auch in „coming-out“-Happenings auf sich aufmerksam, z.B. mit T-Shirts, auf denen steht: „Ich komme vom Lande“. Ein neuer Ansatz, ein neues Selbstbewusstsein, wie sie findet.

Ein Blick zurück

Das bringt einen öffentlichen Diskurs und spannende Debatten in Gang, die auch literarisch und filmisch aufgegriffen werden. Dabei beschäftigen sich die Forscherinnen nicht nur damit, wie und welche Veränderungen sich auf dem Land vollziehen. Sie betrachten auch die Zeit des Sozialismus genauer und gehen sogar noch weiter zurück in die Geschichte, die im Grunde nie richtig aufgearbeitet wurde. So stellt ein polnischer Film die spannende Frage: Gibt es ein Gedächtnis der Leibeigenschaft auf dem Lande? Immerhin liegt die Zeit, in der Bauern wie Sklaven arbeiten mussten, noch gar nicht soweit zurück. Diese sekundäre Versklavung der Bauern reichte bis ins 19. Jahrhundert und wurde in Mittel- und Osteuropa erst zwischen den 1820er und 1860er Jahren abgeschafft. Wie hat sich, als die Bauern zwar frei, aber ohne Land waren, das Verhältnis der Herren und Knechte entwickelt? Die Kommunisten haben nach der Oktoberrevolution in Russland und nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Ostmitteleuropa auf eine brutale Art und Weise für „soziale Gerechtigkeit“ gesorgt. Es bleibt spannend zu schauen, was literarische Quellen – oft zwischen den Zeilen – über die zum Teil sehr gewaltsamen Prozesse der Agrarreform offenbaren. Das sind Fragen, die zu sozialistischen Zeiten wenig erforscht wurden, deren Beantwortung aber wertvolle Erkenntnisse darüber liefert, wie die heutigen Gesellschaften funktionieren. Immerhin rekrutieren sich große Teile der heutigen sogenannten Mittelschicht aus der ehemaligen Bauernschaft …

Das Projekt

„Das Dorf als Imaginationsraum und Experimentierfeld im östlichen Europa (postsozialistische Dörfer)“ ist ein Teilprojekt im Forschungsverbund „Experimentierfeld Dorf. Die Wiederkehr des Dörflichen als Imaginations-, Projektions- und Handlungsraum“ und beschäftigt sich mit der Darstellung des dörflichen Lebens in Literatur, Film und anderen Medien vor dem Hintergrund sozialer, ökonomischer und kultureller Veränderungen des ruralen Raums im postsozialistischen Europa. 
Beteiligt: Prof. Dr. Magdalena Marszałek, Yaraslava Ananka, M.A. (beide Universität Potsdam), Universitäten in Halle, Konstanz und Weimar
Laufzeit: 2015–2018
Förderung: VolkswagenStiftung im Rahmen der Förderinitiative „Schlüsselthemen für Wissenschaft und Gesellschaft“

 

Die Wissenschaftlerinnen

Prof. Dr. Magdalena Marszałek studierte polnische Philologie und Theaterwissenschaft in Krakau und Slavistik, Kunstgeschichte, Theater-, Film- und Fernsehwissenschaft in Bochum und ist seit 2011 Professorin für Slavische Literatur- und Kulturwissenschaft/Schwerpunkt Polonistik am Institut für Slavistik der Universität Potsdam sowie assoziiertes Mitglied des Instituts für Jüdische Studien der Universität.

Universität Potsdam
Institut für Slavistik
Am Neuen Palais 10, 14469 Potsdam
Email: magdalena.marszalekuni-potsdamde

Yaraslava Ananka, M.A. ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Slavische Literatur- und Kulturwissenschaft/ Schwerpunkt Polonistik.
Email: anankauni-potsdamde

Text: Ingrid Kirschey-Feix
Online gestellt: Daniela Großmann
Kontakt zur Onlineredaktion: onlineredaktionuni-potsdamde