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Ohne Maus geht es auch - Ernährungswissenschaftler entwickeln eine Ersatzmethode für Tierversuche

Labormaus. Foto: Fotolia/Kirill Kurashov.
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Labormaus. Foto: Fotolia/Kirill Kurashov.

Es ist eines der stärksten Nervengifte – und gleichzeitig ein wichtiger Wirkstoff in der Medizin. Botulinumtoxin ist außerdem für seine Wirkung als faltenglättendes Botox bekannt. Bevor das Toxin kosmetisch oder medizinisch angewendet wird, muss in aufwendigen Tests seine Aktivität ermittelt werden. Bisher geschieht dies meist in Tierversuchen. Zwei existierende Alternativverfahren sind lediglich für jeweils ein spezifisches Produkt zugelassen und damit nicht flächendeckend anwendbar. Ein Team um den Leiter der Abteilung Biochemie der Ernährung des Instituts für Ernährungswissenschaft, Prof. Dr. Gerhard Püschel, entwickelte nun ein Ersatzverfahren, in dem statt Mäuse isolierte Nervenzellen verwendet werden. Dafür erhielten die Forscher jüngst den Forschungspreis des Landes Berlin.

Äußerste Vorsicht und höchste Konzentration ist erforderlich, wenn ein Mitarbeiter im Labor des Instituts für Ernährungswissenschaft mit dem Botulinumtoxin experimentiert. Mit Schutzanzug, Handschuhen und Mundschutz sitzt der Forscher an der Reinbank, die Luft in der Kammer über dem Arbeitsplatz wird kontinuierlich gefiltert. Mit einer Pipette überführt er ein Gemisch, das nur sehr geringe Mengen des Gifts enthält, auf Zellkulturen. Sie enthalten Nervenzellen, in denen das Neurotoxin seine Wirkung entfaltet.

Bereits geringe Mengen des Toxins sind tödlich

Die Dosis macht das Gift – diese Weisheit trifft wohl auf kaum einen Stoff so gut zu wie auf Botulinumtoxin. Denn die Substanz ist nicht nur ein hochwirksames Nervengift, „sie ist auch ein wichtiger Wirkstoff in der Medizin“, erklärt Gerhard Püschel. Schielfehlstellung der Augen, Migräne oder Schiefhals sind Erkrankungen, bei denen Botulinumtoxin Linderung bringt.

Das Bakterium Clostridium botulinum produziert das Gift, natürlicherweise beispielweise in verdorbenen Konserven. Gelangt es in Nervenzellen, hemmt es dort die Ausschüttung von Botenstoffen. Die Nervenzelle kann nicht mehr mit den angrenzenden Muskelzellen kommunizieren, der betroffene Muskel ist gelähmt. Eine Vergiftung kommt in Deutschland sehr selten vor, etwa zehn Fälle von Botulismus werden pro Jahr gemeldet. Meist entstehen sie durch den Verzehr von verdorbenen Lebensmitteln. Bereits eine sehr geringe Menge des Toxins führt zu Atemlähmung und damit zu einem qualvollen Tod.

In Bakterienkulturen wird der Wirkstoff für die medizinische und kosmetische Anwendung produziert. Da er extrem giftig ist und es kein Gegenmittel gibt, muss eine Überdosierung unbedingt vermieden werden. In der Herstellung wird ein Teil des Toxins deaktiviert – wie viel genau, lässt sich jedoch nicht vorhersagen. Da die Aktivität des Giftes schwankt, muss der Hersteller jede einzelne Charge testen – üblicherweise im Tierversuch. Dafür wurden bisher jedes Jahr allein in Deutschland 150.000 Mäuse eingesetzt. 40.000 von ihnen starben – durch Ersticken. „Es wird die Konzentration ermittelt, bei der die Hälfte der Tiere stirbt“, erklärt Gerhard Püschel die Prozedur.

Neues Testverfahren könnte sich auch für andere giftige Stoffe eignen

Dass dies unnötig ist, davon ist der Wissenschaftler überzeugt. Es gibt zwar bereits Ersatzverfahren, die die beiden Pharmaunternehmen Allergan und Merz, die auch Produkte mit Botulinumtoxin vertreiben, entwickelt haben. „Doch diese Verfahren haben erhebliche Nachteile“, betont Gerhard Püschel. Zum einen sind die Tests lediglich für ein spezifisches Präparat, das von den jeweiligen Firmen produziert wird, zugelassen und nicht auf andere Produkte übertragbar. Außerdem legen die Firmen ihre Verfahren nicht offen und verhindern damit eine breite Anwendung und Weiterentwicklung. Zudem beruhen die Tests auf immunologischen Verfahren, für die bestimmte Antikörper benötigt werden. Und diese werden – aus Kostengründen – durch Injektion von Tumorzellen in den Bauchraum von Mäusen gewonnen, die dann einen „Wasserbauch“ entwickeln, aus dem die Antikörper gereinigt werden. „Es ist eigentlich ein Treppenwitz“, bringt es Gerhard Püschel auf den Punkt. Denn auch bei diesem Prozedere leiden und sterben zahlreiche Tiere unnötig.

Um das Botulinumtoxin nachzuweisen und seine Aktivität zu bestimmen, entwickelte das Team um Gerhard Püschel nun ein Verfahren, das wahrscheinlich auf sämtliche Botulinumtoxin enthaltenden Produkte angewendet werden kann. Es misst die Freisetzung eines lumineszierenden Glühwürmchen-Enzyms. Die Wissenschaftler haben das Enzym gentechnisch verändert und die DNA in menschliche Nervenzelllinien eingebaut. Der Clou: Das Enzym verhält sich in den Nervenzellen genauso wie die Botenstoffe, deren Freisetzung vom Botulinumtoxin gehemmt wird. Geben die Nervenzellen das Enzym gemeinsam mit den Botenstoffen ab, leuchtet es und ist somit messbar. Je höher die Aktivität des Botulinumtoxins, dem die Nervenzellen ausgesetzt sind, desto weniger Enzym wird freigesetzt. „Das Schöne ist, dass das Verfahren für jeden Serotyp des Giftes anwendbar sein sollte“, erklärt Gerhard Püschel. Der Test könnte also für alle möglichen Produkte, die das Nervengift enthalten, zuverlässige Ergebnisse liefern. So haben die Wissenschaftler in ersten Tests festgestellt, dass sich ihr Reportersystem auch für andere Stoffe – etwa nervenschädigende Pestizide – einsetzen lässt. Und der Bedarf ist offensichtlich. Aus der Industrie gebe es bereits Interesse für das entwickelte Verfahren, erklärt der Forscher.

Vom tierischen zum menschlichen Reportersystem

Dass aus den Forschungen ein Ersatzverfahren für Tierversuche entstand, ist reiner Zufall, gibt Gerhard Püschel zu. „Ursprünglich wollten wir für unsere Forschungsarbeiten ein System entwickeln, mit dem wir die Funktion von Nerven leichter messen können.“ Auf die Botulinum-Problematik durch einen Zeitungsartikel aufmerksam geworden, erkannte Püschel, dass der angestrebte Lösungsansatz auch für die Bestimmung von Botulinumtoxin geeignet wäre – und damit eine vielversprechende neue Möglichkeit, Tierversuche auf diesem Gebiet überflüssig zu machen.

Nach drei Jahren intensiver Arbeit steht das Grundgerüst, das nun weiter verfeinert und schließlich auf den Markt gebracht werden soll. Dabei wollen die Forscher so dicht wie nur möglich an die realen Wirkmechanismen herankommen. Die bisher verwendeten neuronalen Tumorzellen sollen etwa gegen Motoneuronen ausgetauscht werden – die natürlichen Zielzellen des Botulinumtoxins im menschlichen Organismus. „Die bisher verwendeten Zellen unterscheiden sich in einigen Punkten, die für die Wirkung des Botulinumtoxins relevant sind, von Motoneuronen“, erklärt Gerard Püschel dieses wichtige Detail. Während neuronale Tumorzellen Signale lediglich von einer Nervenzelle zur nächsten übertragen, bilden Motoneuronen die direkte Verbindung zwischen Muskelzelle und Nervensystem. Blockiert das Botulinumtoxin die Ausschüttung der Botenstoffe in den Motoneuronen, ist der angrenzende Muskel gelähmt.

Um nun eine geeignete Zellkultur aufzubauen und den Test zu etablieren, werden die Forscher sogenannte induzierte pluripotente Stammzellen (iPS-Zellen) nutzen. Diese können sich, ähnlich wie embryonale Stammzellen, zu jedem Zelltyp ausdifferenzieren, wurden jedoch ursprünglich aus menschlichen Gewebezellen gewonnen und nachträglich genetisch verändert. Im Labor von Gerhard Püschel soll nun getestet werden, unter welchen Bedingungen die iPS-Zellen zu den gewünschten Motoneuronen ausdifferenzieren, auf die letztlich das bestehende Reportersystem für den Botulinum-Nachweis übertragen werden soll. Damit schlagen die Forscher gleich zwei Fliegen mit einer Klappe. Zum einen etablieren sie den am besten geeigneten Zelltyp für den Botulinum-Test und schaffen zum anderen den Sprung vom tierischen zum menschlichen Reportersystem – für die medizinische Forschung ist dieser Punkt nicht unerheblich. „Wenn uns das gelingt, haben wir in der Zellkultur genau die Zelle, die im Menschen tatsächlich das Ziel des Toxins ist“, fasst Gerhard Püschel zusammen. „Und das wäre dann das perfekte Nachweissystem.“

Der Wissenschaftler weiß: Es gibt beim Thema Tierversuche kein Schwarz und Weiß. „Als Forscher machen auch wir Tierversuche“, stellt er klar. „Jedes Mal, wenn wir so einen Versuch beantragen, müssen wir uns Gedanken darüber machen, ob das sinnvoll und zu rechtfertigen ist – so schreibt es der Gesetzgeber vor.“ Vor jedem Versuch finde eine kritische Abwägung zwischen dem Nutzwert des erwarteten Ergebnisses und den durch das Experiment verursachten Schäden und Leiden eines Versuchstieres statt und natürlich frage man sich in solchen Momenten als Wissenschaftler, ob es keine Alternativen gibt – in jedem einzelnen Fall. „Der Erkenntnisgewinn und der Nutzen für den Menschen müssen in einem ethisch vertretbaren Verhältnis zum Tierleid stehen“, betont der Forscher. „Auf die Frage, was ethisch vertretbar ist, gibt es keine eindeutigen, feststehenden Antworten. Eine Gesellschaft muss das ausdiskutieren. Das tut sie, und das ist gut so.“

DAS PROJEKT

Zellkultur-basiertes in vitro-Verfahren zur Bestimmung der Aktivität des Botulinumtoxins
Beteiligt: Universität Potsdam, Institut für Ernährungswissenschaft
Laufzeit: 2012–2015 (SET) und 2016–2019 (EFRE-StaF)
Förderung: Stiftung zur Förderung der Erforschung von Ersatz- und Ergänzungsmethoden zur Einschränkung von Tierversuchen (SET), Europäischer Fonds für regionale Entwicklung (EFRE-StaF)
http://uni-potsdam.de/u/ewi/BCE/Forschung%20BCE/ForschungsseitenEntwurf_Projekt3_improved.html

DER WISSENSCHAFTLER

Prof. Dr. Gerhard Püschel studierte Medizin an der Christian-Albrechts- Universität zu Kiel und Biochemie an der Indiana University in Bloomington (USA). Seit 1999 leitet er die Abteilung Biochemie der Ernährung an der Universität Potsdam und forscht unter anderem zu Mechanismen der Insulinresistenz in der Leber und Störungen des Energiestoffwechsels durch Fremdstoffe.

Kontakt

Universität Potsdam 
Institut für Ernährungswissenschaft
Arthur-Scheunert-Allee 114–116
14558 Nuthetal
E-Mail: gpuescheuni-potsdamde

Text: Heike Kampe
Online gestellt: Agnetha Lang
Kontakt zur Online-Redaktion: onlineredaktionuni-potsdamde