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Das vergessene Diensttagebuch – Der Historiker Prof. Dr. Bernhard Kroener arbeitet mit seinem Team an einer kommentierten Edition eines von ihm entdeckten Diensttagebuchs der NS-Zeit

Alexander Kranz, Paul Fröhlich und Sebastian Szelat (v. l. n. r.) forschen am Diensttagebuch. Foto: Karla Fritze
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Alexander Kranz, Paul Fröhlich und Sebastian Szelat (v. l. n. r.) forschen am Diensttagebuch. Foto: Karla Fritze

Vor einigen Jahren machte Prof. Dr. Bernhard Kroener vom Historischen Institut der Universität Potsdam eine überaus interessante Entdeckung. Bei der Recherche für eine Biografie über Friedrich Fromm, den Chef der Heeresrüstung und Befehlshaber des Ersatzheeres, stieß er in den Fußnoten einer in die Jahre gekommenen Publikation auf eine bis dahin kaum beachtete Quelle: ein Diensttagebuch, geführt von den Führungskräften der nationalsozialistischen Wehrmacht. Der Chef des Stabes, der Fromm unterstand, protokollierte Sitzungen, Telefonate und Ereignisse des Arbeitsalltags der Militärführung im Berliner Bendlerblock in einem Tagebuch.

Neben der Entdeckung selbst ist vor allem der Weg spektakulär, den das Diensttagebuch seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs hinter sich hat. Kroeners Recherchen ergaben, dass es im Archiv des Londoner Imperial War Museums lag, wohin der Britische Geheimdienst es nach Kriegsende gebracht hatte und wo es dem Fokus der Geschichtsforscher weitgehend verborgen blieb. Weil die Aufzeichnungen so schwer zu entziffern waren, überließ der Leiter des Archivs das Original schließlich den Potsdamer Wissenschaftlern zur Transkription.

„Wenn man die ausgetretenen Pfade der Forschung verlässt, findet man das eine oder andere Goldkorn“, schmunzelt Kroener. So spektakulär, wie die zufällige Entdeckung der Quelle in einer Fußnote erscheint, so groß ist auch die Bedeutung der Quelle für die militärgeschichtliche Forschung. Seit sieben Jahren untersucht das Forscherteam um Bernhard Kroener nun schon das Tagebuch. Wenn die kommentierte Edition des „Tagebuchs des Chefs des Stabes beim Chef der Heeresrüstung und Befehlshaber des Ersatzheeres 1938 bis 1943“ wie geplant 2016 erschienen ist, wird Kroener die historische Quelle an das Bundesarchiv übergeben. Bislang sind die Hefte bis zum zweiten Halbjahr 1942 transkribiert.

Die Eintragungen im Diensttagebuch umfassen den Zeitraum vom 31. Mai 1938 bis zum 31. Dezember 1943. Die letzten Bände für das Jahr 1944, die vermutlich bis in den Juli geführt wurden und deren letzter Teil durch Claus Schenk Graf von Stauffenberg verfasst wurde, gelten jedoch als verschollen. Sie wurden nach dem 20. Juli für die Ermittlungen zum Attentat auf Hitler beschlagnahmt. Dann verliert sich ihre Spur und man muss davon ausgehen, dass sie in den letzten Kriegstagen absichtlich verbrannt wurden. Von 1938 bis 1943 hatten vier verschiedene Personen das Amt des Stabschefs inne: Oberst Ziegler, Oberst Haseloff, Generalmajor Köhler, Generalmajor Kühne. Ihre Mitschriften füllen 24 stärkere Hefte und dokumentieren etwa fünf Jahre Militärgeschichte – „Tag für Tag auf den Knien des Stabschefs geführt, teils in einer furchtbaren Klaue“, wie Kroener erzählt.

Viele der handschriftlichen Notizen sind stichpunktartig oder stenografisch, häufig wurde abgekürzt und manchmal fehlen ganze Silben mitten im Wort – alles in der nicht mehr geläufigen Sütterlinschrift. „Das bereitete uns mehr Schwierigkeiten, als wir zu Beginn gedacht hatten“, räumt Kroener ein. Zu viert saßen die Wissenschaftler vor den Tagebucheinträgen, die mithilfe eines Beamers an die Wand projiziert wurden, und rätselten über die unleserlichen Einträge. Um sie transkribieren zu können, suchte das Forscherteam sogar nach dem Sohn des Stabschefs Köhler, der heute weit über 80 Jahre alt ist. „Er konnte viele der Abkürzungen entziffern, schließlich kannte er die Handschrift seines Vaters gut“, so der Historiker. „Manche Passagen blieben aber sogar für ihn ein Rätsel.“ Das Ergebnis der mühsamen Arbeit ist dennoch beeindruckend: Kroener entschlüsselte eine herausragende, von der Forschung bisher unbeachtete Quelle über die militärische Organisation der Wehrmacht während des Zweiten Weltkriegs. Und mehr noch: Der Historiker und sein Team konnten anhand des Tagebuchs sowohl psychologische Aussagen über die Persönlichkeiten im Bendlerblock und die Auswirkungen des voranschreitenden Weltkrieges treffen, als auch den Widerstand gegen das NS-Regime von einer bislang unbekannten Perspektive betrachten.

Der Wert des Tagebuchs liegt für Bernhard Kroener vor allem darin, dass es das einzige zentrale, chronologisch geschlossene Dokument zur Geschichte der Heeresrüstung aus der Zeit unmittelbar vor und während des Zweiten Weltkriegs darstellt. So seien darin beispielsweise die Belastungen des Krieges erkennbar, besonders angesichts der stetig schwindenden materiellen und personellen Ressourcen. Der Chef der Heeresrüstung und Befehlshaber des Ersatzheeres, von 1939 bis 1944 Generaloberst Friedrich Fromm, und seine Stabschefs standen im Laufe der Jahre den immer weniger erfüllbaren Forderungen einer Truppe gegenüber, die das NS-Regime und ihre Führung in einen verbrecherischen Eroberungs- und Vernichtungskampf geschickt hatte. Die Tagebücher zeugen von der wachsenden Erschöpfung der Schreiber angesichts eines nicht zu gewinnenden Krieges. „Hier lassen sich Mentalitäten, der Druck des Krieges und die Belastungen für das Personal ablesen.

Das ist der Grund, warum diese Quelle für die Wissenschaft so spannend ist: weil sie eben ganz authentisch und ganz nah am Geschehen ist.“ Denn die Aufzeichnungen waren nie für die Öffentlichkeit gedacht, sie dienten ausschließlich als internes Protokoll oder als Kalendarium. Das Tagebuch wurde jede Nacht im Panzerschrank des Bendlerblocks verschlossen: „Im Gegensatz zu Dokumenten, die an übergeordnete Dienststellen weitergegeben wurden, waren diese Aufzeichnungen nur für den Schreiber bestimmt.“ Deswegen bietet es authentische Innensichten, beschreibt die Spannungen zwischen verschiedenen Bereichen der Wehrmacht; es zeigt Eifersucht, Ressortegoismen und Abgrenzungskonflikte. Die alltäglichen Geschehnisse wurden haarklein dokumentiert, mit der unmittelbaren Einschätzung des Schreibers. „Sie haben das Gefühl, Sie sitzen daneben“, sagt Kroener.

Das Diensttagebuch erzählt daher auch unzählige Geschichten. So wurde ein Militär von Berlin nach Paris geschickt, um Wein für Offiziere der Dienststellen im Bendlerblock zu beschaffen, während ein in Norwegen stationierter Befehlshaber Hummer nach Berlin schickte, in der Hoffnung, dass man ihm dafür bei der Versorgung mit Personal und Material entgegenkommen würde. „Das ist das Leben, wie es sich damals abgespielt hat. Das findet man in keiner anderen Quelle.“ Auch Privates zwischen den Militärs im Bendlerblock ist in den Heften notiert: Der Sohn Friedrich Fromms etwa lieh sich beim Chef des Stabes Geld, was dieser vermutlich deshalb im Diensttagebuch vermerkte, um es nicht zu vergessen. Immer wieder wird ein solches Vertrauensverhältnis zwischen dem Befehlshaber des Ersatzheeres und seinem Stabschef erkennbar: „Vor allem Ziegler, Haseloff und Köhler waren sehr eng mit Fromm verbunden, zum Teil bis in den Privatbereich“, sagt der Militärhistoriker.

Bis zum Kriegsende lag das Tagebuch im Panzerschrank des Bendlerblocks, der bis dahin zentrale militärische Dienststelle und Zentrum des militärischen Widerstandes gewesen war. Das Diensttagebuch, das im Bendlerblock unter Friedrich Fromm und dem Chef des Stabes geführt wurde, deckt somit auch die Verwicklungen der Militärs in die „Operation Walküre“ und das Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 auf.

Mit der Person Friedrich Fromm beschäftigt sich Kroener schon seit mindestens zwei Jahrzehnten. Dabei interessiert ihn besonders die Frage, warum Fromm seit Kriegsende in der Forschung durchweg als „janusköpfig“, „doppelgesichtig“ und „unaufrichtig“ beschrieben wurde. Hatte er doch bereits 1941 das Ende des Krieges gefordert und war im Zusammenhang mit dem Stauffenberg-Attentat auf Hitler verhaftet und dann im März 1945 vom NS-Regime hingerichtet worden. Als Chef der Heeresrüstung und Befehlshaber des Ersatzheeres leitete er die Sitzungen, die in den Diensttagebüchern von 1938 bis 1944 protokolliert sind. Nach dem 20. Juli, dem Tag des Attentats auf Hitler, wurde das Diensttagebuch nicht weitergeführt. In der Nacht zum 21. Juli ließ Fromm Stauffenberg und drei weitere Mitverschworene erschießen, wurde dann aber selbst vom Sicherheitsdienst (SD) verhaftet.

Womöglich erschien es dem Regime mehr als unwahrscheinlich, dass er nichts von dem geplanten Attentat gewusst hatte. Tatsächlich seien, so Kroener, die Vorbereitungen des Attentats und des Widerstandes überhaupt in dem Diensttagebuch zu erkennen. „Man kann sehen, dass Fromm dazugehörte. Er steckte bis zum Hals drin“, so der Wissenschaftler. „Und nach dem 20. Juli gab es dann auch nicht mehr diese Form der Chefbesprechungen.“ Statt die Hauptbelastungszeugen der Folter des Regimes auszusetzen, ließ Fromm sie erschießen. Mit dieser Entscheidung hatte er sich unwiderruflich der Rache der NS-Führung ausgesetzt. Andere am Attentat beteiligte Offiziere wurden später vom Regime entwürdigenden Schauprozessen und grausamen Hinrichtungen ausgesetzt.

Eine historische Persönlichkeit mit kritischer Distanz in Bezug auf ihre Lebensleistung, aber auch zum eigenen Vorverständnis als nachzeitig urteilender Historiker zu deuten, betrachtet Kroener als eine Grundvoraussetzung geschichtswissenschaftlicher Arbeit. „Das, was von den Menschen bleibt, ist nicht zuletzt das, was wir schreiben.“

Seit 2007 arbeitet Bernhard Kroener an der Kommentierung der Edition, zusammen mit Paul Fröhlich und Alexander Kranz, die beide auch zum Diensttagebuch promovieren. Sebastian Szelat ist vor allem mit der Transkription der 24 Hefte betraut. 2016 soll die Edition dann im Schöningh Verlag erscheinen, wo 2005 bereits Kroeners Biografie über „Generaloberst Friedrich Fromm“ veröffentlicht wurde. Die kommentierte Edition der Diensttagebücher, die voraussichtlich drei umfangreiche Bände umfassen wird, bildet zusammen mit der Biografie Fromms einen zentralen Beitrag zur Geschichte der deutschen Heeresrüstung – und schließt damit Lücken der Weltkriegshistoriografie.

Der Wissenschaftler

Prof. Dr. Bernhard Kroener studierte Geschichte, Klassische Archäologie und Politikwissenschaft in Bonn und Paris. Seit 1978 war er im Militärgeschichtlichen Forschungsamt und ab 1984 an der Universität Freiburg im Breisgau tätig. Von 1997 bis zu seiner Emeritierung 2013 hatte er die Professur für Militärgeschichte an der Universität Potsdam inne.

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E-Mail: zellnerrz.uni-potsdamde

Text: Jana Scholz
Online gestellt: Agnes Bressa
Kontakt zur Online-Redaktion: onlineredaktionuni-potsdamde