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Wenn Ähnliches dazwischenfunkt – Die Erforschung des Arbeitsgedächtnisses

Das Arbeitsgedächtnis ist ein Zwischenspeicher des menschlichen Gehirns. Seine Kapazität ist begrenzt, bei Menschen mit Lernstörungen wie etwa Lese-Rechtschreib-Schwäche (LRS) noch mehr. Foto: Fotolia/lassedesignen
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Manchmal spielt das Gedächtnis nicht mit. Foto: Fotolia/lassedesignen

Das Arbeitsgedächtnis ist ein Zwischenspeicher des menschlichen Gehirns. Seine Kapazität ist begrenzt, bei Menschen mit Lernstörungen wie etwa Lese-Rechtschreib-Schwäche (LRS) noch mehr. Was genau sie begrenzt, hat die Psychologin Katrin Göthe experimentell untersucht. Wie sich die Leistung des Arbeitsgedächtnisses steigern lässt, bleibt jedoch noch zu erforschen.

„Merken Sie sich die Ziffernreihe und wiederholen Sie diese dann aus dem Gedächtnis“, sagt Katrin Göthe: 4, 7, 3, 1, 9. Das ist leicht. „Ziehen Sie nun 4 von der letzten Zahl ab und ersetzen mit dem Ergebnis die letzte Ziffer. Können Sie die Reihe komplett wiedergeben?“

Katrin Göthe, wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung für Kognitive Psychologie, muss ausholen, um das Forschungsprojekt zu erklären, das sie kürzlich abgeschlossen hat: „Prozessdissoziationen von Arbeitsgedächtnisfunktionen bei kognitiven Leistungsstörungen“. Die Denksportaufgabe dient nur dazu, den Unterschied zwischen Kurzzeit- und Arbeitsgedächtnis zu erläutern. Für das bloße Merken der Ziffernreihe reicht Ersteres. Wenn das Gehirn jedoch im zweiten Teil Informationen behalten, zusätzliche Informationen verarbeiten und obendrein alle irrelevanten Meldungen blockieren muss, kommt das Arbeitsgedächtnis zum Einsatz. Ohne dieses könnten wir uns am Ende eines gelesenen Satzes nicht erinnern, wie dessen Anfang lautete.

Unser Arbeitsgedächtnis ist also äußerst nützlich. „Dummerweise besitzt es nur eine begrenzte Kapazität“, erklärt Katrin Göthe: „Bei manchen mehr, bei manchen weniger.“ Woher die Unterschiede kommen, dazu gibt es verschiedene Hypothesen. Ein an der Universität Potsdam entwickeltes theoretisches Modell beruht auf der Annahme, dass die Kapazität des Arbeitsgedächtnisses durch Interferenz begrenzt wird. Das heißt, die Informationen, die gerade verarbeitet und gespeichert werden, stören sich gegenseitig, und dies umso stärker, je mehr sie sich ähneln. Dabei unterscheidet das Modell zwei Interferenzmechanismen: Merkmalsüberschreibung und Verwechslung. Wenn wir uns mehrere Wörter merken müssen, unter denen beispielsweise zwei den gleichen Buchstaben oder andere gemeinsame Merkmale aufweisen, kann eines davon das andere teilweise „überschreiben“. Das bedeutet, dass in einem der beiden Wörter der „geteilte“ Buchstabe verloren geht. Das Wort ist dann weniger gut in unserem Gedächtnis repräsentiert, die Wahrscheinlichkeit geringer, dass wir uns daran erinnern. Bestehen weiter gehende Ähnlichkeiten, beispielsweise ein ähnlicher Klang, kann es zu kompletten Verwechslungen zweier Wörter kommen.

Bei Versuchen mit Erwachsenen hat sich dieses Modell bereits bestätigt. „In meinem Projekt habe ich nun getestet, ob es sich auch auf Kinder mit Lese-Rechtschreib-Schwäche anwenden lässt“, sagt Katrin Göthe.

Die Lese-Rechtschreib-Schwäche (LRS) ist eine sogenannte Teilleistungsstörung. Kinder mit LRS sind normal intelligent. Allerdings hat die Forschung gezeigt, dass ihr Arbeitsgedächtnis schlechter funktioniert. Dem Modell zufolge liegt das daran, dass es anfälliger ist für Interferenz – ein möglicher Grund dafür, dass sie in ihren Lese- und Rechtschreibleistungen deutlich hinter dem Durchschnitt ihrer Altersgenossen zurückbleiben.

In Göthes Studie ging es überdies darum, eine Beobachtung aus früheren Arbeiten zu überprüfen, die im Widerspruch zu allen Erwartungen steht: Kinder mit LRS erzielen beim Lösen von Aufgaben, die das Arbeitsgedächtnis herausfordern, generell schlechtere Ergebnisse als Altersgenossen ohne LRS. Wenn es aber gilt, sich besonders viel oder besonders ähnliches Material zu merken, das Arbeitsgedächtnis also verstärkt belastet wird, verschwindet dieses Defizit, obwohl sie eigentlich gerade dort viel schlechter abschneiden müssten.

Die Psychologin hat also in verschiedenen Experimenten über 120 Kinder verschiedener Altersstufen mit und ohne LRS zwei sogenannte Gedächtnisaktualisierungsaufgaben absolvieren lassen. Die eine diente dazu, das verbale Arbeitsgedächtnis zu testen. Dabei bekamen die Kinder am Bildschirm einen Korb mit Äpfeln, Bananen und Pflaumen gezeigt. Sie sollten beantworten, wie viele Früchte aller drei Sorten im Korb sind, nachdem jeweils in mehreren Schritten eine bestimmte Anzahl hinzugegeben oder weggenommen wurde. Die zweite Aufgabe betraf den räumlich-visuellen Teil des Arbeitsgedächtnisses: Die Probanden sollten sich zunächst die Position einer Maus und einer Katze in einem Gitter mit neun Kästchen merken, dann deren Position, nachdem die Kinder die Tiere im Kopf mehrere Male verschoben hatten.

Die Wissenschaftlerin maß dabei den Anteil korrekter Antworten im Verhältnis zur Präsentationszeit und verglich diese Daten mit den aus dem theoretischen Modell abgeleiteten. Die Befunde für den verbalen wie auch den räumlichen Bereich zeigen zunächst einmal, dass das Interferenzmodell grundsätzlich auch bei Kindern greift.

Was die Unterschiede zwischen den jungen Versuchspersonen mit und ohne Lese-Rechtschreib-Schwäche angeht, fallen die Ergebnisse jedoch widersprüchlich aus. Erwartungsgemäß schätzt das Modell bei Kindern mit LRS den Interferenz-Mechanismus des Verwechselns stärker ein als bei ihren Altersgenossen ohne diese Störung. Bei der Merkmalsüberschreibung verhält es sich allerdings genau umgekehrt: Kinder mit LRS schneiden dort besser ab – ein Resultat, das sich schon in früheren Studien zeigte. „Eine umfassende Erklärung für die kuriose Umkehrung bei der Merkmalsüberschreibung haben wir noch nicht gefunden“, sagt Katrin Göthe: „Im aktuellen Projekt lässt sie sich jedoch nur im räumlichen, nicht im verbalen Bereich replizieren. Es gibt also Zweifel, ob man diesem der Intuition widersprechenden Befund viel Bedeutung beimessen soll.“

Zurück zu der Denksportaufgabe und den Erklärungen zu Beginn des Gesprächs: Wenn manche Menschen ein weniger leistungsstarkes Arbeitsgedächtnis haben – besteht die Chance, dieses durch Training zu verbessern? Immerhin verfügen Personen mit hoher Kapazität des Arbeitsgedächtnisses über ein besseres Sprach- und Leseverständnis, erwerben komplexe Fertigkeiten wie etwa eine Programmiersprache leichter und sind erfolgreicher in der Schule. Es gibt sogar einen Zusammenhang mit höherer Intelligenz.

Katrin Göthe hat sich früher damit befasst und weiß: Training ist unter bestimmten Umständen möglich – aber nicht durch einfache Gehirnjogging-Aufgaben wie das Lösen von Kreuzworträtseln oder Sudokus. „Solche Übungen bewirken, dass Sie Ihre Leistungen beim Lösen des jeweiligen Aufgabentyps steigern“, erklärt die Wissenschaftlerin. „Sie führen aber nach allen bisherigen Erkenntnissen noch nicht einmal dazu, dass Sie andere, ähnlich geartete Aufgaben besser lösen. Die Leistungssteigerung lässt sich nicht auf andere kognitive Fähigkeiten übertragen. Mit anderen Worten: Sie können sich durch solch ein Training nicht besser erinnern, wo Sie Ihr Auto geparkt oder die Schlüssel hingelegt haben.“ Vielmehr seien Aufgaben zu trainieren, die nicht das Kurzzeit-, sondern das Arbeitsgedächtnis ansprechen.

Der Psychologe Klaus Oberauer, der in seiner Zeit an der Universität Potsdam das in Katrin Göthes Studie verwendete Interferenzmodell mitentwickelte, hat drei Funktionen bestimmt, die das Arbeitsgedächtnis ausmachen: das gleichzeitige Speichern und Verarbeiten von Informationen, das Integrieren und Zueinander-in-Beziehung-Setzen dieser Informationen sowie die Überwachung dieser Prozesse. Oberauer und Kollegen haben systematisch untersucht, welche dieser drei Funktionen das Arbeitsgedächtnis am stärksten trainieren. Das Ergebnis zeigt, dass das gleichzeitige Verarbeiten und Speichern von Informationen der vielversprechendste Kandidat ist. „Dennoch müssen wir noch mehr forschen, bevor wir eine effektive und seriöse Methode für ein umfassendes Gedächtnistraining anbieten können“, fasst Katrin Göthe zusammen.

Die Wissenschaftlerin

Dr. Katrin Göthe ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung Kognitive Psychologie. Sie interessiert sich neben dem Arbeitsgedächtnis auch für die Grenzen der parallelen kognitiven Verarbeitung und die Modellierung kognitiver Prozesse. Das theoretische Modell, das die Grundlage ihres soeben abgeschlossenen Projekts bildet, haben Prof. Dr. Reinhold Kliegl und Prof. Dr. Klaus Oberauer an der Universität Potsdam entwickelt.

Kontakt

Universität Potsdam
Department Psychologie
Karl-Liebknecht-Str. 24–25
14476 Potsdam
E-Mail: Katrin.Goetheuni-potsdamde

Text: Sabine Sütterlin
Online gestellt: Silvana Seppä
Kontakt zur Online-Redaktion: onlineredaktionuni-potsdamde

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