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Vom Fenster ins Gehirn – Wie Potsdamer Psycholinguisten Mehrsprachigkeit erforschen

Ausrüstung für ein EEG-Experiment. Foto: Thomas Roese
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Ausrüstung für ein EEG-Experiment. Foto: Thomas Roese

Begonnen hat es 1961 – mit dem Anwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei. Zahlreiche der jungen Türken, die anfangs als Gastarbeiter auf Zeit hierher kamen, blieben, und Deutschland wurde zu ihrer zweiten Heimat. Viele von ihnen fühlen sich aber bis heute – sprachlich – im Türkischen zu Hause. Anders steht es um ihre Kinder und Kindeskinder, von denen nicht wenige mindestens ebenso starke deutsche wie türkische Wurzeln haben. Aufgewachsen mit beiden Sprachen, sind sie auf eine besondere Weise multilingual. Sie zu verstehen, könnte Erkenntnisse darüber liefern, wie das Gehirn mit dem dauerhaften Gebrauch mehrerer Sprachen zurechtkommt. Genau das ist eine der Fragen, die am Potsdam Research Institute for Multilingualism (PRIM) untersucht werden.

„Als man anfing, sich mit Mehrsprachigkeit zu beschäftigen, war dies von einem sehr einfachen Bild geprägt“, sagt Prof. Dr. Harald Clahsen, Direktor des PRIM. „Betrachtet wurden zumeist Menschen, die – aufgewachsen mit ihrer Muttersprache – im Erwachsenenalter eine zweite, fremde Sprache lernen. Heute wissen wir: Es gibt ganz viele Arten von Mehrsprachigkeit.“ So seien beispielsweise gerade von den Nachkommen der einstigen türkischen Gastarbeiter viele von Geburt an zweisprachig aufgewachsen. Sie gelten als simultan mehrsprachig. Jene, die sich erst im Kindergarten oder in der Schule eine zweite Sprache aneigneten, gehörten dagegen in die Gruppe der sukzessiv Mehrsprachigen. Die „klassischen“, erwachsenen Fremdsprachenlerner wiederum seien spät mehrsprachig. Für die Forscher des PRIM sind sie alle von Interesse. „Es geht darum, die Natur der Mehrsprachigkeit im Individuum besser zu verstehen“, erklärt Clahsen. „Wie speichert und benutzt der Mensch Wissen aus mehr als einer Sprache, besonders in der Grammatik? Und welche Bedingungen fördern eine effiziente Mehrsprachigkeit? Welche behindern sie?“

Besonderheit der Arbeit der PRIM-Forscher ist, wie Clahsen betont, ihr experimenteller psycholinguistischer Ansatz: „Wir versuchen herauszufinden, wie Sprache im Gehirn repräsentiert ist. Das geht nicht mit Fragebögen. Dafür sind experimentelle Untersuchungen nötig.“ Deshalb sind Tests mit Blickbewegungssensoren und EEG-Geräten, Experimente zur Worterkennung und zum Verständnis grammatischer Funktionen im Bereich weniger Millisekunden die Mittel der Wahl.

In einer ganzen Reihe von Projekten erforschen die Wissenschaftler des PRIM derzeit die unterschiedlichen Wege, Sprachen zu erlernen und zu verwenden. Eines davon – die „Experimental Studies on German-Turkish Multilingualism“ – soll Clahsen zufolge am Beispiel der türkischen Community Berlins „einen großen Teil dieses Spektrums der Mehrsprachigkeit abdecken“. Die bilingualen Sprecher der deutsch-türkischen Community sind gleich aus mehreren Gründen für die Forscher interessant. Zum einen gehören Deutsch und Türkisch zu verschiedenen Sprachfamilien. Während in der deutschen Grammatik die Rolle von Wörtern im Satz mithilfe der Flexion, also Beugung, verdeutlicht wird, geschieht dies im Türkischen agglutinierend. Funktionen von Wörtern werden dabei durch Affixe, Anhänge an den Wortstamm, die rein grammatische Bedeutung haben, ausgedrückt. Beide Sprachen zu sprechen, stellt daher eine besondere Herausforderung dar, die sich experimentell gut erforschen lässt. Auf der anderen Seite gibt es innerhalb der inzwischen vier Generationen türkischer Migranten in Deutschland Vertreter der simultanen ebenso wie der sukzessiven und der späten Mehrsprachigkeit. Das ermöglicht Vergleiche, die zwar begehrt, aber aufgrund der vielen Einflussfaktoren nicht immer leicht zu realisieren sind. Ein Fokus des Projekts sind die sogenannten „Heritage Speaker“ des Türkischen, die zu den sukzessiv Mehrsprachigen gehören. In ihrer frühen Kindheit waren sie hauptsächlich von der türkischen Sprache umgeben, die in ihren Familien gesprochen wurde. Deutsch lernten sie erst in Kindergarten oder Schule, aber nicht nur zu sprechen, sondern auch zu schreiben, während sie im Türkischen, ihrem „Erbe“ (Heritage), oft auf die gesprochene Sprache beschränkt sind. Das PRIM untersucht diese Personen in ihren beiden Sprachen, Deutsch und Türkisch. „Dadurch bekommen wir die Chance zu erkennen, was wichtiger ist – das Alter, in dem man eine Sprache lernt, oder wie häufig man sie spricht“, so Clahsen. „Man hat z.B. lange gedacht, dass man früh anfangen muss, eine Sprache zu erlernen, um sie zu beherrschen. Und, dass sukzessive Muttersprachler nie wirklich Deutsch lernen. Aber ich denke, das stimmt nicht.“

Das PRIM ist in seiner Annäherung an Sprache zweigeteilt. Die eine Hälfte der Wissenschaftler führt ihre Experimente auf der Wortebene, zur Morphologie, die andere auf der Satzebene, zur Syntax, durch. Auch im Projekt zur deutsch-türkischen Mehrsprachigkeit ist dies so. Wie auf Institutsebene leitet Harald Clahsen die Morphologie-Gruppe, seine Co-Direktorin PD Dr. Claudia Felser die Syntax-Gruppe. 

Zu den Forschern, die sich dem Bereich der Worterkennung widmen, zählt Dr. Gunnar Jacob. Obwohl das dreijährige Projekt, das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert wird, erst seit Juli 2014 läuft, liegen ihm schon erste Ergebnisse vor. Er konnte Daten einer vorangegangenen Untersuchung auswerten, die sich mit Sprechern der gleichen Community beschäftigte. Daran lässt sich nicht zuletzt erkennen, wie eng die einzelnen Projekte des PRIM ineinandergreifen, um „das Spektrum des Bilingualen zu erweitern“, wie Clahsen sagt. Gunnar Jacob untersucht die Art und Weise, wie wir Wörter erkennen, vor allem jene, die morphologisch komplex sind, weil sie nicht nur inhaltliche, sondern auch grammatische Bedeutung „an sich“ tragen. Das Wort „gereinigt“ etwa enthält neben dem Wortstamm – „reinig“ – die Affixe „ge-„ und „-t“, die es als Partizip kennzeichnen. „Wir interessieren uns für die ersten paar Millisekunden, in denen das Gehirn gespeicherte Informationen abruft und weiterverarbeitet“, führt er aus. „Für uns ist es wichtig, dass wir uns auf die ganz frühe Phase der Worterkennung beschränken, um zu verhindern, dass spätere Effekte einwirken.“ Hierzu führte er mit Testpersonen ein sogenanntes „Priming-Experiment“ durch. Dabei wird den Probanden auf einem Bildschirm ein Wort für nur 50 Millisekunden gezeigt, „weil wir wissen, dass unser Hirn auch bei einer so kurzen Präsentationszeit schon Informationen von dem Wort aufnehmen kann“, erklärt Jacob. Anschließend wird ihnen eine andere Form des gleichen Wortes gezeigt, etwa „geöffnet“ und „öffnen“. Die Idee: Wenn unser Gehirn in der Lage ist, bei dem zuerst gezeigten Wort die Suffixe „abzuhacken“ und das Stammwort zu „aktivieren“, kann dieses bei der anschließend gezeigten Form schneller aktiviert und erkannt werden. Ein solches Priming-Experiment hat Jacob mit verschiedenen mehrsprachigen Sprechern durchgeführt: klassischen Fremdsprachenlernern, Muttersprachlern und den „Heritage Speakers“. „Wir wollten wissen, ob sie eher wie die Fremdsprachenlerner oder wie die Muttersprachler sind“, so der Psycholinguist. „Das Ergebnis: Weder noch. Sie unterscheiden sich von beiden Gruppen.“ Während Muttersprachler das Wort zerlegten und den Stamm identifizierten, konzentriere sich das Verstehenssystem der „Heritage Speaker“ viel stärker auf das orthografische System und rekonstruiere das Wort Buchstabe für Buchstabe. Das lässt sich damit erklären, dass sie das Türkische beinahe ausschliesslich als gesprochene Sprache gelernt haben, nicht aber die türkische Schriftsprache, die ja im deutschen Schulsystem in der Regel nicht vermittelt wird. Sprachverarbeitung im geschriebenen Türkischen erfordere von „Heritage Speakers“ daher zusätzliche Ressourcen. 

Den Blick auf das besondere Mit- und nicht nur Nebeneinander zweier Sprachen bei den „Heritage Speakers“ richtet auch Gloria-Mona Knospe. Die Doktorandin arbeitet in der Gruppe zur Satzebene. Genauer untersucht sie, wie in einem Satz die grammatische Funktion von Personal- und Reflexivpronomen – wie „ihn“ und „sich“ – erfasst und verstanden werden. Und zwar mit einem Eye tracker, einem Gerät, das verfolgt, wohin eine Testperson schaut, und der Methode des „Visual Word Eyetracking“. Dabei hören die Probanden Sätze, während sie zugleich Bilder von Personen sehen, auf die sich die Pronomen beziehen können. „Der Eyetracker verfolgt, wohin sie schauen, während sie den Satz hören“, erklärt Knospe. „Wir können dann messen, wie lange es dauert, bis sie auf die richtige Person schauen. Im Prinzip öffnet das Gerät eine Tür zu den Gedanken, ein Fenster ins Gehirn.“

Die Doktorandin vergleicht anschließend die Ergebnisse der deutsch-türkisch bilingualen Sprecher mit denen von deutschen Muttersprachlern und russisch-deutsch Bilingualen, die als Zuwanderer zu den Spät-Mehrsprachigen gehören. Allein aus der Gruppe der deutschtürkischen Bilingualen hat sie in den vergangenen Monaten insgesamt 56 Personen für die Teilnahme an der Untersuchung gewonnen. Geeignete Testpersonen zu finden, gehört durchaus zu den Herausforderungen des Projekts, dessen war sich das Team um Clahsen und Felser bewusst. Es stand nie außer Frage, dass die Community dort abgeholt werden muss, wo sie zu Hause ist: in Berlin. Deshalb wurde eigens für die Experimente ein Raum im Bezirk Wedding angemietet, um die Wege und die Hemmschwelle für die Probanden niedrig zu halten. Einmal dabei, nahmen viele von ihnen aber überaus gern an den Versuchen teil, sagt Gloria-Mona Knospe. „Die türkische Gruppe war sehr offen, weil es für sie selbst auch interessant ist, aber auch weil ihre türkische Sprachidentität selten im Fokus steht und sie es toll finden, dass sich Leute damit beschäftigen.“

Und es sind nicht nur deutsche Wissenschaftler, die an dem Vorhaben mitwirken. In Gänze handelt es sich dabei um ein Kooperationsprojekt, einen sogenannten wissenschaftlich-technischen Austausch mit einer Forschergruppe um Prof. Dr. Bilal Kırkıcı von der Middle East Technical University in der Türkei. Noch im Oktober 2014 fuhren Gloria-Mona Knospe und Dr. Gunnar Jacob in die Türkei, im Gepäck den Eyetracker, um türkische Studenten als muttersprachliche Kontrollgruppe zu testen und die türkischen Forscher im Umgang mit dem Gerät zu schulen. Diese werden dann bei einem Gegenbesuch die Potsdamer Wissenschaftler bei der Erarbeitung der Versuche und der Befragung der Berliner Deutsch-Türkisch-Sprecher unterstützen. „Wir würden nie ein Projekt zum Türkischen machen ohne einen muttersprachlichen Projektpartner“, sagt Harald Clahsen. „Vielleicht kommen sie auch noch besser ran an die coolen Jungs aus dem Kiez“, scherzt er.

Ein Ziel, das freilich nicht nur Kontaktfreudigkeit, sondern vor allem viel Arbeit und die richtigen Instrumente verlangt. Wer die Realität der Mehrsprachigkeit genau erfassen will, muss nah rangehen. Die Komplexität der untersuchten Phänomene erfordert eine Vielfalt der Beobachtungsinstrumente, die zugleich praktikabel sein müssen. Für das Priming-Experiment von Gunnar Jacob ist nicht mehr als ein Laptop nötig, aufgrund des Eyetrackers kommt die Untersuchung von Gloria-Mona Knospe nicht ohne einen Laborraum aus. Für Harald Clahsen ist die Mischung der Untersuchungsmethoden Grundvoraussetzung für den Erfolg des Gesamtprojekts: „Wenn man eine solche Community untersuchen will, kann man nicht nur mit einem Hirnscanner kommen. Man braucht eine Kombination aus praktikablen und informativen Feld-, aber auch Laborexperimenten.“

Dass trotz des ausgefeilten Instrumentariums noch viel Arbeit vor ihnen liegt, wissen alle Beteiligten. Die erste Versuchsreihe zum Deutschen hat Gloria-Mona Knospe inzwischen abgeschlossen, die zweite zum Türkischen wird gegenwärtig durchgeführt und ausgewertet. Auch Gunnar Jacob erarbeitet derzeit ein weiteres Experiment. Es wird wieder ein Priming-Experiment sein, aber zur türkischen Morphologie. Außerdem soll die Sprachverarbeitung diesmal mit einem EEG erfasst werden. So kleinteilig und differenziert die Schritte sind, mit denen sich die Wissenschaftler den Formen der Mehrsprachigkeit nähern, verlieren sie doch nie übergeordnete Problemstellungen aus den Augen, wie Harald Clahsen betont: „Die Community dient uns als Fenster, um Einblick zu bekommen, wie das Gehirn mit dem Erwerb und Gebrauch mehrerer Sprachen zurechtkommt.“

Die Wissenschaftler

Prof. Dr. Harald Clahsen studierte Sprachwissenschaft und Soziologie und promovierte 1981 zum Spracherwerb. Seit 2011 ist er Alexander-von-Humboldt Professor an der Universität Potsdam und Direktor des PRIM.

Kontakt

Potsdam Research Institute for Multilingualism
Karl-Liebknecht-Str. 24–25
14476 Potsdam
E-Mail: harald.clahsenuni-potsdamde 

Dr. Gunnar Jacob studierte Psychologie an der Universität Münster und promovierte 2010 zur Rolle der Muttersprache beim Fremdsprachenerwerb. Seit 2011 ist er Postdocotoral Research Fellow am PRIM.

Kontakt

E-Mail: gujacobuni-potsdamde 

Gloria-Mona Knospe studierte Psychologie an der Philipps Universität Marburg. Seit 2012 ist sie Doktorandin am PRIM.

Kontakt

E-Mail: gknospeuni-potsdamde 

Das Projekt

Experimental Studies on German-Turkish Multilingualism

Laufzeit: 2014–2017

Beteiligt: an der Universität Potsdam ein Team um Prof. Dr. Harald Clahsen und PD Dr. Claudia Felber / an der Middle East Technical University ein Team um Prof. Dr. Bilal Kırkıcı

Finanzierung: Bundesministerium für Bildung und Forschung, The Scientific and Technological Research Council of Turkey

Text: Matthias Zimmermann, Online gestellt: Agnes Bressa
Kontakt zur Online-Redaktion: onlineredaktionuni-potsdamde