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Wenn es mehr als ein Pflaster sein muss

Kunststoffe für die Medizin von morgen

Foto: Karla Fritze
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Foto: Karla Fritze

Seit Anfang 2013 ermöglicht die Graduiertenschule „Macromolecular Bioscience“ Promovierenden ein strukturiertes und Fachgebiete übergreifendes Ausbildungsprogramm am Institut für Biomaterialforschung des Helmholtz-Zentrums Geesthacht (HZG) in Teltow. In diesem von der Freien Universität Berlin und der Universität Potsdam gemeinsam getragenen Projekt forschen junge Wissenschaftler beispielsweise an der Entwicklung gewebeverträglicher Polymere, die zukünftig als Bestandteile von Implantaten wie etwa künstlichen Blutgefäßen oder Herzklappen zum Einsatz kommen könnten. Einzigartig an der neuen Graduiertenschule ist die enge Zusammenarbeit zwischen Chemikern, Physikern, Ingenieuren, Medizinern, Biologen und Biotechnologen.

Einfache Knochenbrüche wachsen von allein wieder zusammen, kleinere Schnitte und Schürfwunden heilen spontan. Bei komplizierten Brüchen oder großflächigen Wunden wie z.B. „offenen Beinen“, bei Defekten an Blutgefäßen oder Herzklappen reichen diese natürlichen Selbstheilungskräfte des Körpers jedoch nicht aus. Hier kommt die Regenerative Medizin ins Spiel: Biomaterialien übernehmen dabei zwischenzeitlich oder langfristig die Funktion des fehlenden Gewebes und können als Leitstruktur für die Selbstheilung fungieren.

Den Kunststoffen gehört dabei die Zukunft. Die chemischen Bausteine, die man zu Polymeren verknüpft, also zu langen Ketten, Netzen oder dreidimensionalen Strukturen, weisen deren charakteristische Eigenschaften auf. Der Fantasie sind dabei letztlich keine Grenzen gesetzt.

Der Erforschung und Entwicklung neuer Biomaterialien auf Basis von Polymeren, aber auch der Interaktion von Zellen mit dem neuartigen Material sowie der hierfür notwendigen Methodenentwicklung widmet sich die Graduiertenschule „Macromolecular Bioscience“, die Anfang 2013 an den Start ging. Dieses Gemeinschaftsprojekt von insgesamt 17 Arbeitsgruppen des Helmholtz-Zentrums Geesthacht in Teltow mit der Freien Universität Berlin, der Universität Potsdam und dem Helmholtz-Zentrum Berlin als assoziiertem Partner bietet Promovierenden ein strukturiertes Ausbildungsprogramm auf dem innovationsträchtigen Gebiet. Mit der Einrichtung der Helmholtz-Graduiertenschule sollen die bereits bestehenden vielfältigen Kompetenzen in den verschiedenen Fachgebieten der Partner der Region Berlin-Brandenburg gebündelt und damit auch international sichtbarer gemacht werden.

Rund 80 Studierende sollen am Ende in Teltow, Potsdam und Berlin forschen. Die 55 Doktoranden, die bereits dabei sind, bilden in jeder Hinsicht eine gemischte Truppe. Sie stammen aus verschiedenen europäischen Nationen sowie aus Russland, Iran, Indien und China. Sie kommen auch aus ganz unterschiedlichen Fachgebieten. Denn Biomaterialforschung ist geradezu ein Paradebeispiel für interdisziplinäre Zusammenarbeit: Chemiker entwickeln für medizinische Anwendungen geeignete Kunststoffe. Physiker und Ingenieure verarbeiten sie so, dass sie neuartige Eigenschaften annehmen. Biologen, Biotechnologen und Mediziner kümmern sich um alles, was an der „Schnittstelle“ zwischen Biomaterial und Gewebe geschieht.

Wie in der Wissenschaft üblich, verständigen sich die angehenden Biomaterialforscher bei den Kolloquien, Kursen und den jährlich stattfindenden Sommerschulen der Graduiertenschule ausschließlich auf Englisch. Aber der Austausch geht weit darüber hinaus. „Die Studierenden müssen auch die Sprache der jeweils anderen Fachgebiete verstehen“, sagt der Chemiker Dr. Marc Behl, Leiter der Abteilung „Aktive Polymere“. Gleichsam zum Beweis, dass hier keine Disziplin ohne die andere auskommt, sitzt mit ihm auch der Physikochemiker Dr. Karl Kratz am Tisch, der die Abteilung „Polymer Engineering“ leitet. „Wir brauchen die Rückmeldung der Biologen und Mediziner“, gibt dieser den Ball an die chinesische Medizinerin und Biologin Prof. Dr. Nan Ma weiter, Leiterin der Abteilung „Biokompatibilität“. Diese ergänzt: „Unsere Graduierten müssen weit über die Grenzen ihrer Disziplin hinweg denken.“

Wie das Zusammenspiel funktioniert, lässt sich etwa an dem Projekt „Ausrüstung von Polymeren mit Memoryeffekten durch physikalische Behandlung“ zeigen, an dem Promovierende der Graduiertenschule im Team von Karl Kratz arbeiten. Die Physiker, Chemiker und Ingenieure benötigen dafür aktive Polymere, auf deren Design und Synthese Marc Behls Gruppe spezialisiert ist. Aktiv heißen die Materialien, weil sie auf Signale von außen reagieren, indem sie beispielsweise eine andere Gestalt annehmen – und auf ein erneutes Signal wieder in die ursprüngliche Form zurückkehren, sich also an diese „erinnern“. Die Physiker, Chemiker und Ingenieure überlegen gemeinsam mit den Biologen, welche physikalischen Behandlungsmethoden sich als Signal einsetzen lassen, ohne dass sie Gewebe schädigen: Licht, eine Veränderung der Temperatur oder das Anlegen eines Magnetfeldes.

Daraus ergeben sich weitere spezifische Anforderungen an die Chemiker: Die Komposition der Polymere entscheidet darüber, wie empfindlich das künftige Material auf das gewählte Signal reagiert. Das erfordert genaue Analysen der inneren Molekül-Architektur, der räumlichen Ausrichtung und der Flexibilität der Komponenten. „Wir kennen die natürlichen Eigenschaften der Bausteine und der verschiedenen Materialien“, sagt Marc Behl: „Indem wir sie in einer unerwarteten Weise kombinieren, ergeben sich neuartige Funktionen.“

Im Labor der Physiker, Chemiker und Ingenieure werden die aktiven Kunststoffe getestet und manipuliert, bis sie auf die gewünschte Art reagieren. Karl Kratz führt einige verblüffende Beispiele von Biomaterialien mit Formgedächtnis vor, die aus dieser Zusammenarbeit hervorgegangen sind: Ein gut fingerlanges, dünnes Kunststoffstäbchen, zunächst ausgestreckt, ringelt sich am unteren Ende zu einem „Schweineschwänzchen“ auf, wenn ein magnetisches Wechselfeld darauf einwirkt. Wie von Zauberhand bewegt, mutet auch ein Kunststoffstäbchen an, das in unterschiedlichen Temperaturbereichen sogar dreifach unterschiedliche Gestalt annehmen kann. Vom gestreckten Zustand lässt es sich beliebig oft zur Z-Form falten oder aufrollen und wieder strecken. In Zukunft lassen sich daraus womöglich „intelligente“ Katheter entwickeln, die beispielsweise komprimiert und damit schmerzfrei in einen Harnleiter eingeführt werden können, sich dort entfalten und nach dieser Formänderung gezielt Medikamente abgeben.

Weniger aktiv im Sinne von Bewegung, dafür aber multifunktional verhalten sich die neuartigen abbaubaren Polymere, mit denen sich die Wissenschaftler im Projekt „Depsipeptide“ in der Abteilung von Marc Behl beschäftigen. Diese besonderen Polymere ähneln in ihrem chemischen Aufbau teilweise den Proteinen, teilweise den als Polyester bekannten Kunststoffen. Die Forschenden arbeiten daran, die Zusammensetzung der Bausteine so zu optimieren, dass sich das in den Körper eingebrachte Implantat durch die Körpertemperatur in den Defekt einpasst und anschließend von Körperzellen besiedelt wird, bevor es von körpereigenen Enzymen allmählich in seine Bausteine zerlegt und schließlich verstoffwechselt wird. Da die Auflösung eng mit biologischen Vorgängen gekoppelt ist, versteht sich gewissermaßen von selbst, dass die Chemiker schon während der Entwicklungsarbeiten auf die Zusammenarbeit mit den Biologen angewiesen sind. Und natürlich wird jedes Biomaterial, wenn es den Vorstellungen der Chemiker und der Physiker entspricht, von den Biologen erst einmal gründlich an Zellen in Laborschalen sowie später in ausgewählten Tiermodellen getestet, um sicherzustellen, dass es keine Nebenwirkungen hat.

Die Promovierenden in der Gruppe der Medizinerin und Biologin Nan Ma wiederum versuchen in einem eigenen Projekt „Geometry of biomaterial and the influence on stem cell development“ zu verstehen, wie sich die natürliche Regenerationsfähigkeit mithilfe sogenannter induzierter Stammzellen angekurbelt werden kann. Das sind ganz normale Körperzellen, die sich im Labor züchten und kontrolliert in einen Zustand versetzen lassen, in dem sie zur Neubildung einer bestimmten Art von Gewebe fähig sind. Die Wissenschaftler wollen eine Art kleines Pflaster aus Kunststoff entwickeln, die mit solchen Zellen besetzt sind. In beschädigte oder verstopfte Blutgefäße eingeführt, könnten diese dann für eine quasi natürliche Reparatur der Gefäßwände sorgen. Nan Ma denkt bereits weiter: „Je nach Anwendung lässt sich ein solches Implantat künftig vielleicht sogar mit einem Memory-Effekt versehen.“

„Die fachliche Ausrichtung der beteiligten Arbeitsgruppen garantiert den Teilnehmern der Graduiertenschule optimale Promotionsbedingungen auf diesem ausgeprägt interdisziplinären Forschungsgebiet“, resümiert Prof. Dr. Andreas Lendlein, Leiter des HZGInstituts in Teltow und gleichzeitig Inhaber der Professur „Materialien in den Lebenswissenschaften“ am Institut für Chemie der Universität Potsdam. Über die fachliche Ausbildung auf ihrem speziellen Gebiet hinaus erhalten die Promovierenden unter dem Dach der Dahlem Research School und der Potsdam Graduate School aber auch eine Ausbildung in Schlüsselkompetenzen und Führungseigenschaften. Die Sprecherin des Kollegs, Prof. Dr. Beate Koksch vom Institut für Chemie und Biochemie der Freien Universität Berlin, sieht in dem Forschungsverbund einen beispiellosen – räumlichen wie wissenschaftlichen – Knotenpunkt: „Das für die Entwicklung moderner Biomaterialien erforderliche interdisziplinäre Denken und Forschen ist nicht notwendigerweise Bestandteil bestehender Ausbildungsprogramme an den Universitäten, da dafür eine besondere wissenschaftliche Infrastruktur erforderlich ist. Die findet sich in einzigartiger Weise in der Region Berlin-Brandenburg“, so Koksch. „Mit der Einrichtung der Graduiertenschule ‚Macromolecular Bioscience‘ ermöglicht die Helmholtz-Gemeinschaft die Etablierung eines zukunftsweisenden Ausbildungsprogramms, das nicht nur die bestehenden zahlreichen gemeinsamen Aktivitäten der drei Partnerinstitutionen weiter intensivieren und verstetigen, sondern die internationale Sichtbarkeit der Forschung an Biomaterialien in der Region Berlin-Brandenburg weiter erhöhen wird. Die hier ausgebildeten Absolventen werden als hervorragende Fachleute auf dem Gebiet moderner Biomaterialentwicklung mit Führungsqualitäten ihre weitere berufliche Karriere antreten können.“

DAS PROJEKT

Die Graduiertenschule „Macromolecular Bioscience“ ist ein Gemeinschaftsprojekt des HZG-Instituts für Biomaterialforschung in Teltow mit der Freien Universität Berlin und der Universität Potsdam. Die Gründung der neuen Graduiertenschule wurde maßgeblich von Prof. Dr. Andreas Lendlein, dem Leiter des HZG-Instituts in Teltow, der gleichzeitig die Professur „Materialien in den Lebenswissenschaften“ an der Universität Potsdam bekleidet, vorangetrieben. Die Helmholtz-Gemeinschaft fördert das Projekt mit 2,4 Millionen Euro über sechs Jahre, die drei Partner ergänzen die Finanzierung durch Eigenmittel. Sprecherin der Einrichtung ist Prof. Dr. Beate Koksch vom Institut für Chemie und Biochemie der Freien Universität Berlin, Vizesprecherin ist Prof. Dr. Nan Ma vom Institut für Chemie und Biochemie der Freien Universität Berlin und Leiterin der Abteilung „Biokompatibilität“ am Teltower Institut.

Kontakt

Dr. Anja Günther, Koordinatorin der Graduiertenschule
Institut für Biomaterialforschung
Helmholtz-Zentrum Geesthacht
Kantstr. 55, 14513 Teltow

macrobiohzgde

www.macrobio.hzg.de

Text: Sabine Sütterlin, Online gestellt: Julia Schwaibold