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Was ihr glaubt

Ein Gespräch über das Verhältnis von Glauben und Wissenschaft

Foto: Thomas Roese
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Foto: Thomas Roese

Was ist Glauben? – Religion? Oder eine Überzeugung, die sich auch an anderen Werten orientieren kann? Der Religionswissenschaftler Prof. Dr. Johann Hafner und der Philosoph Prof. Dr. Hans-Peter Krüger haben für die „Portal Wissen“ versucht, das Wesen des Glaubens abzustecken.

Herr Hafner, Glauben und Religion werden nicht selten synonym gebraucht. Sind sie es?

HAFNER: Gemeinhin bestimmt man Religion als die objektiven kulturellen Ausdrucksweisen von gläubigen Menschen. In dieser Hinsicht ließe sich Glauben vielleicht als die Religiosität des Einzelnen beschreiben. Nur in der christlichen Religion ist es so, dass Glauben und Religion identisch wurden, weil das Christentum v.a. als Bekenntnisreligion auftritt. Also: Man vertritt einen bestimmten Glauben, der zugleich die Religion darstellt. Andererseits gibt es schamanistische Religionen, die ganz aus praktischen Ritualen bestehen und nicht aus religiösen Bekenntnissen.

Herr Krüger, würden Sie als Philosoph Glauben anders bestimmen?

KRÜGER: Wir haben in der Philosophie eine Erweiterung der Religionsdiskussion zur Diskussion über das Religiöse. Die ist dann nicht mehr gebunden an eine objektiv institutionalisierte Religion. Das hängt natürlich mit der Individualisierung der religiösen Überzeugung in der modernen Gesellschaft, dem Säkularisierungsprozess, zusammen. Insofern verschwimmen das Religiöse und Glaubensformen miteinander. Glauben, etwa an die Natur und die Vernunft, muss nicht religiös sein. Das rührt, glaube ich, daher, dass alle Menschen im Leben eine Relation zu einer Unbestimmtheit eingehen. Man steht nicht über seiner eigenen Lebensführung, kann sie nie vollständig rationalisieren. Insofern braucht man eine Haltung dazu, was einem im Leben als Ganzes begegnet – und das hat, wenn man es nicht vollständig rationalisieren kann, immer eine Glaubenskomponente.

HAFNER: Tatsächlich gibt es sogar innerhalb der christlichen Tradition Extrempositionen, wie die des Theologen Karl Barth. Er definierte: „Religion ist Unglaube“, also das genaue Gegenteil. Er meinte, dass Leute, die religiös sein wollen, eigentlich nur wiederholen, was alle Menschen tun, nämlich irgendwelche Lebensweisheiten oder Praktiken zusammenmischen, um ihren problematischen Alltag besser zu meistern. Religion ist also in seinen Augen nur eine gesteigerte Form von Lebensbewältigung, diesmal nur mit spirituellen Mitteln – und damit das Projekt des gottlosen, ungläubigen Menschen. Glaube ist laut Barth hingegen, dass man eine Offenbarung übernimmt, die längst gegeben wurde, und sein Leben unter das Gericht eines höheren Beobachters stellt.

Gibt es einen Glauben ohne Religion?

HAFNER: Meines Erachtens nicht. So wie es eine Privatsprache nicht geben kann, weil ich eine soziale Gemeinschaft brauche, von der ich die Grammatik erlernen kann. Eine Sprache, die nur ich verstehe, wäre Geräusch „bli, bla, blu“ und würde nicht mehr unter unseren Begriff von Sprache fallen. Ein Glaube, der unabhängig ist von den religiösen Traditionen der Welt, wäre ununterscheidbar von Poesie, Willkür oder auch Irrsinn.

KRÜGER: Für mich gibt es Glaubensformen, die nicht religiös sind. Aber ich verstehe diese natürlich auch als kollektive Glaubensformen. Etwa verschiedene Formen der Akzeptanz, dass die Natur im Ganzen über die menschliche Welt hinausweist. Dann gibt es auch in einem nicht weltreligiösen Sinne die Anerkennung von Transzendenz, in diesem Fall der Natur als Transzendenz. Und das kann subjektiv gelebt werden, ohne dass man es als Religion verstehen muss. Umgekehrt halte ich es auch für möglich, dass Religion ohne Glauben funktioniert. Aber das wäre sicher Afterreligion, die also ganz in Fetischen erstarrt. Daran lässt sich eine große philosophische Debatte anschließen: über die vormodernen Achsenkulturen. Deren Gemeinsamkeit bestand darin, dass eine Urteilsinstanz eingeführt wurde, die das menschliche Leben hier und jetzt überschreitet. Und das kann die Vernunft sein, im Zeichen einer höheren Vernunft, die dann bei Platon etwa rein philosophisch begründet wird. Aber es kann eben auch religiös sein, so wie wir es im Sinne der Weltreligionen kennen, mit denen wir vertraut sind.

HAFNER: Das ist vielleicht der Ursprung des Religiösen überhaupt, dass man von den Gläubigen verlangt, einen Beobachterstandpunkt einzunehmen, der jenseits seiner empirischen Biografie liegt. Also nicht nur zu fragen: „Wozu ist das Hier und Heute gut?“, sondern zu fragen: „Was muss ich tun, damit mein Leben im Ganzen gelingt?“ Das ist kein empirischer, sondern ein transzendentaler Akt. Dazu kommt: Die Beobachtung und Beurteilung unserer selbst darf nicht nach Kriterien bestehen, die wir uns selbst geben. Sonst ziehen wir uns den Verdacht der Selbstberuhigung zu. Dafür greifen Religionen zum Begriff Gott oder Dharma, Gesetz. Dort werden von einer Autorität Kriterien formuliert, die mein Leben richten, beruhigen oder entlasten. 

Ließe sich sagen, ein Unterschied zwischen dem religiösen und dem philosophischen Glauben ist, dass beim philosophischen Glauben die Maßstäbe nicht in dem Maße feststehen wie beim religiösen Glauben?

KRÜGER: Das ist bei der Vernunft durchaus verschieden. Es gibt geschlossene Systembauten, etwa die platonische Tradition. Aber es gibt ebenso offene Vernunftkonzeptionen, wie wir das bei Aristoteles finden oder es in der Epikur-Tradition der Fall ist. Und das wiederholt sich in der Moderne. Bei Kant findet man eine offene Vernunftvorstellung. Der Agnostizismus – also die Anerkennung der Unerkennbarkeit des Dings an sich – ist auch eine Geste, aus dem hermeneutischen Selbstzirkel herauszutreten. Bei Hegel gibt es dann wieder eine absolute Selbstermächtigung der Vernunft im System. 

HAFNER: … in der Religion gibt es das auch. Es gibt Religionen, die jene Traditionen, die seit ihrer Gründung entstanden sind, nicht berücksichtigen. Sie sagen: Wir gehen auf den Ursprungstext zurück, nehmen „The Holy Bible“ und predigen „the True Gospel of God“. Wenn jemand 2.000 Jahre Kirchengeschichte überspringt und die Spaltungen, die Hochzeiten mit der Philosophie oder Scheidungen mit der Kultur als irrelevant ansieht und zurückspringt in einen vermeintlich nicht kontaminierten Ursprung – also die 150 Seiten des Neuen Testaments oder die Tora, wie Moses sie angeblich niedergeschrieben hat, auslegt –, dann ist das zwar ein sehr modernes Phänomen, aber wir empfinden das als vormodern oder fundamentalistisch. Und so, wie es offene Vernunftkonzeptionen gibt, gibt es auch offene Religionen, die akzeptieren, dass es eine Auslegungsgeschichte der eigenen kanonisierten Texte gibt. Sei es durch Konzile in der orthodoxen, durch das Lehramt in der katholischen oder die Bekenntnisse in der protestantischen Kirche. Da wird die Erstoffenbarung immer durch Zusatzoffenbarungen „flüssig“ gemacht für die Anwendung in der jeweiligen Zeit.

Herr Krüger, was unterscheidet denn den von Ihnen beschriebenen Glauben an die Vernunft von dem von Herrn Hafner skizzierten religiösen Glauben?

KRÜGER: Eine schwierige Frage. Ich glaube, dass man bei der Bestimmung, ob etwas religiös ist oder nicht, das Selbstverständnis der Beteiligten berücksichtigen muss. Es gibt bei den Vernunftphilosophien funktionale Äquivalente zu Gott in der Religion. Aber wenn die selbst sagen: Wir können philosophisch, durch dialektische Negationsformen erklären, wie sich die letzte Substanz aus sich selbst heraus produziert und wir brauchen dafür keinen Gottesglauben, dann ist das eine Form von Rationalisierung. Und dann nehme ich die Auskunft ernst: „Wir verstehen uns selbst als nicht religiös.“ 

HAFNER: Ich glaube, was uns wirklich eint, ist, dass wir in der Philosophie und in der Religion Kulturen entdecken, die mit Transzendenz rechnen, also etwas, das die menschliche Natur oder die Person überschreitet … 

KRÜGER: … das wären die Achsenkulturen …

HAFNER: … ja. Und das kann auch nichtreligiös sein. Speziell religiös ist aber meines Erachtens, wenn man sagt: Die Transzendenz ist nicht nur eine höhere Logik, wie ein Weltgesetz, das zwar wahr ist und sich in eiserner Logik vollzieht, sondern dass es auch eine Tendenz hin zum Guten hat. Religiöse vertrauen darauf, dass dieses Weltgesetz, diese Transzendenz auch das Gute verfolgt. Dann erst kann ich es verehren. Religionen glauben, dass diese höhere Vernunft etwas mit ihnen zu tun hat und dass das, was hier unabgegolten ist, zum Guten führt. Das ist meines Erachtens der religiöse Mehrwert über die Metaphysik hinaus.

KRÜGER: Ja, das stimmt, wenn wir über die Weltreligionen sprechen, die aus den Achsenkulturen hervorgegangen sind. Die haben alle das Modell des personalen Bundes. Das heißt, der Logos wird personalisiert zu einem Gott und es gibt einen Bund zwischen den Gläubigen und Gott. Und das gibt den Ausschlag fürs Gute. Diese Sicherheit gibt es in der Philosophie nicht. 

Wie steht es mit den Göttern der griechischen Mythen? Die wollten doch nicht nur Gutes für den Menschen …

HAFNER: Das ist richtig. Die Götter im hesiodischen, im homerischen, dann später im römischen Pantheon sind zum großen Teil unmoralisch. Und gerade deshalb, das hat die griechische und auch die römische Religion stets umgetrieben, wurde immer ein Gesetz vermutet, das die Götterkämpfe und -generationen zusammenhält oder sie bestraft: die Tyche, die Fortuna, das Fatum. Das war dann aber anonym. Auf jeden Fall waren diese unmoralischen Geschichten den griechischen Philosophen ein Dorn im Auge, man hat sie entweder ironisch kommentiert oder allegorisch gedeutet.

Jetzt ist der Unterschied zwischen philosophischem und religiösem Glauben doch wieder eingeschmolzen …

HAFNER: Naja, ich würde sogar soweit gehen zu sagen: Ein Großteil der Philosophie ist Religion. Platon, Hegel, das sind alles religiöse Unternehmungen. Aristoteles …

KRÜGER: … na, das geht mir natürlich zu weit. Man könnte vielleicht sagen, dass es bei ihnen eine religiöse Dimension gibt …

HAFNER: Ich wage einfach mal eine Basaldefinition: Religion ist alles, bei dem Menschen damit rechnen, dass es eine zweite Welt gibt. Ganz einfach gesagt. Eine zweite Welt, in der sich unsere spiegelt, die unsere dann aufnimmt, die unsere korrigiert, verunsichert. Ob darin Götter vorkommen oder nicht, spielt erst einmal keine Rolle. Aber diese Welt führt zu unserer Verunsicherung, indem wir uns in unserer Kontingenz wahrnehmen. 

KRÜGER: Aber das ist jetzt wieder der Kern aller Achsenkulturen – und nicht die Spezifik der Religion. Das geht vom Kosmos und vom Logos her genauso, die Verunsicherung des irdischen und menschlichen Lebens. Ich glaube, der Hauptunterschied ist etwas anderes: Die Religionen brauchen wirklich eine Liturgie, eine sinnlich-ästhetische Praxis. Sie brauchen einen Gottesdienst. Und das brauchen die Philosophen nicht. Die brauchen auch eine Akademie, wo sie diskutieren können, wo sie ihr Symposium abhalten können. Aber es wäre kein ästhetischer Gottesdienst mit einer strengen Liturgie nötig, wodurch dann die Glaubenssicherheit entsteht, dass man geborgen ist in dieser Welt. Das ist, glaube ich, eine emotionale Verhaltensübung, die ganze Liturgie, die wir in der Philosophie nicht haben. Denn da muss man gesprächsoffen bleiben. Das ist eine andere Kultur. Dadurch kann auch mehr infrage gestellt werden als in der Religion. Insofern gab es immer einen Konflikt zwischen Philosophie und Religion. Und die Theologen mochten Hegel nicht, weil er ihnen die Theologie wegrationalisiert hat …

HAFNER: Halt! Hegel hat gesagt: Alle Philosophie ist Religion, weil darin das Spekulative zum Ausdruck kommt …

KRÜGER: Ja … Die Religion ist natürlich die niederste Form. Sie ist die sinnliche, für die Masse vorhandene Vernunftform. Das ist die Brücke. Die vollständige Rationalisierung des Absoluten leistet die Philosophie. Dafür braucht sie keine Liturgie mehr. Sie braucht die Universität und zwar die Humboldtsche Reformuniversität, die wir ja flächendeckend in Deutschland abgeschafft haben – aber die weltweit kopiert wurde von den USA bis Japan. Das war die Botschaft bei Hegel.

Herr Krüger, in der Geschichte waren Religion und Philosophie lange miteinander verwoben. Wie und warum haben sie sich voneinander getrennt?

KRÜGER: Der Unterschied ist v.a., dass in der Religion sinnlich und emotional eine Praxis besteht, die die Sicherheit des Glaubens garantiert, während die Philosophie immer an diskursive Prozeduren gebunden ist, die ein hohes Negationspotenzial haben und insofern instabil sind. Dieser Unterschied hat sich historisch erst entwickelt.

Warum kam es überhaupt zu dieser philosophischen Denk- und Lebensform?

KRÜGER: Die Achsenkulturen sind in den Konfliktzonen entstanden, wo verschiedene Gesellschaften und Kulturen auch durch jahrhundertelange Kriegführung und Völkerwanderung aufeinandergetroffen sind. Das heißt, die griechischen Stadtstaaten hatten mit der ganzen Welt Handels- und Kriegsbeziehungen und man konnte kulturelle Vergleiche anstellen. Das hat zu viel Wissenschaft und Technik, aber eben auch zur Philosophie geführt. Und die Religion ist aus ähnlichen Konfliktlagen entstanden – zum Beispiel im Judentum mit der Wanderung aus Ägypten. Die Konflikte gingen um Leben und Tod. Und dann war die Frage, wie man überhaupt eine langfristige Lebensperspektive für die eigene Gruppierung gewinnen kann. 

Welche Aufgabe hat die Philosophie heute? Orientiert sie das Leben der Menschen auf grundsätzlich andere Weise als die Religion?

KRÜGER: Ich glaube, es gibt noch immer eine Gemeinsamkeit zwischen Philosophie und Religion: Auch die Philosophie will eine langfristige Perspektive gewinnen, wie wir in den Kosmos passen und welche Bedingungen man dafür schaffen muss. Darin besteht die Gemeinsamkeit: über das Hier und Jetzt hinauszugehen. Aber in der Philosophie wird das mit diskursiven Mitteln konstruiert. Eine zentrale Frage dabei ist die Auseinandersetzung mit den Erfahrungs-, Kultur- und Sozialwissenschaften.

Herr Hafner, wie halten Sie es mit der Religion?

HAFNER: [Lacht] Jetzt müssen Sie mich genau adressieren. Fragen Sie den Professor für Religionswissenschaft, den Diakon oder den Privatmann? Ich bin praktizierender Katholik, sowohl als Laie und Gottesdienstbesucher als auch als jemand, der Gottesdienste hält – als Diakon, schon seit zehn Jahren jetzt, der predigt, verheiratet, beerdigt. 

War Ihre Religionszugehörigkeit in Ihrer Laufbahn als Wissenschaftler je relevant? 

HAFNER: Nein, zum Zeitpunkt der Berufung war ich noch gar kein Diakon. Aber es ist ja ohnehin die Besonderheit der Professur, dass sie Religionswissenschaft betreibt mit Schwerpunkt Christentum und damit die übliche Arbeitsteilung in Deutschland aufhebt, dass Religionswissenschaftler sich v.a. mit Außereuropäischem und Esoterischem und die Theologen mit den Christentümern beschäftigen. Und hier wurde gesagt: Wir brauchen jemanden, der eine Außenperspektive aufs Christentum mitbringt, ohne nur auf Theologie festgelegt zu sein, zugleich aber den „Stallgeruch“ des Christentums hat und die religiöse christliche Traditionen von innen heraus darstellen kann.

Welche Rolle spielt Ihr Glaube für Ihre Arbeit als Wissenschaftler?

HAFNER: Nun, ich habe Theologie studiert, in Philosophie promoviert und in Religionssoziologie dann habilitiert. Insofern ist das so ein Wandel durch die verschiedenen Disziplinen gewesen. Und ich bin dabei nie aus der Kirche ausgetreten, was mitunter naheliegt, wenn man die Kirchengeschichte näher kennt. Ursprünglich wollte ich sogar Priester werden ...

… aber?

Dann habe ich meine Frau kennengelernt, da war das Thema schnell erledigt.

Herr Hafner, Sie sind Wissenschaftler und Katholik. Stehen Sie sich manchmal – etwa bei der kritischen Lektüre katholischer Texte – dadurch selbst im Weg?

HAFNER: Ob meine Rollen durch die jeweils anderen kontaminiert sind, müssen letztlich andere beurteilen. Als Wissenschaftler schaue ich mir einen Gegenstand an, also etwa „Messias“, „Pilgern“ o.ä. und setze dann in der Vorlesung immer etwas Außereuropäisches daneben, damit man sieht: Es gibt Religionen, die das gleiche Problem anders oder andere Probleme ähnlich lösen. Das heißt: Ich habe stets einen gesetzten Ausgangspunkt, das Christentum, und von dort aus schaue ich mir andere Religionen an. Aber die Tendenz geht hin zu einer allgemeinen Religionstheorie, in der andere Religionen nur einen Teil bilden. Das bedeutet nicht, dass ich andere Religionen ins Christentum einbaue, sondern feststelle, dass das Christentum Teil einer größeren Religionsgeschichte ist. Und je länger ich lese und lehre, umso mehr komme ich darauf, dass es so ein paar Grundprobleme gibt, um die sich alle Religionen immer wieder kümmern: das Problem der Irreversibilität, sei es des Lebens, des Todes oder des Handelns, oder das der Schuld. 

Und das erschüttert oder relativiert Ihren Glauben nicht? 

HAFNER: Wenn ich morgen eine Religion fände, die logischer wäre als die christliche, dann würde ich sofort dahin wechseln. Das ist für mich ganz klar. 

KRÜGER: Es gibt ja nichts Logischeres als den Katholizismus. Insofern kann er das ganz ruhig sagen. 

Und Sie, Herr Krüger, woran glauben Sie?

KRÜGER: Ich bin von der Familie her evangelisch erzogen worden und in der Schule habe ich eine atheistische Bildung bekommen. Die Lösung dieses Konflikts lautete bei mir seit den Gymnasialzeiten – Herder, Lessing, Jacobi: Pantheismus. Deus sive natura. Wenn man die drei gelesen hat, wundert man sich immer über die Konflikte zwischen Atheisten und Christen. Man tritt stattdessen wie in Lessings Nathan auf Distanz und sagt sich, wahrscheinlich gab’s den Ring, den irgendeine Religion auszeichnete, sowieso nicht. Das Wichtigste ist der Wettbewerb zwischen den verschiedenen Religionen um das bessere Menschsein. Und ich bin noch heute Pantheist. Nur bei Reisen nach China und Japan bin ich durch den Zen-Buddhismus etwas verunsichert worden. Aber ich musste feststellen, dass ich schon zu alt bin, um noch eine neue Religionsform anzunehmen. Ich bin psychisch nicht so gut strukturiert wie Herr Hafner. Ich könnte nicht eine zweite Rolle praktisch spielen, dann käme ich mit der als Philosoph durcheinander. 

Es heißt, der Motor der Philosophie sei der Zweifel. Leiden Sie, Herr Krüger, nicht manchmal darunter, dass Ihnen als Philosoph grundsätzlich alles ungewiss werden kann?

KRÜGER: Nein, denn ich finde, dass die Ungewissheit auch eine Chance beinhalten kann. Ich versuche alle Formen der Negativität zu öffnen und freizuhalten von einer einseitigen Bewertung. Ungewissheit, das Unendliche, das Unbedingte – das sind zunächst negative Bestimmungen, die man neutralisieren kann, was die Religion nicht kann, da sie Sicherheit geben will. Aber in der Philosophie muss man rücksichtslos gegen eine einseitige Wertebindung die Phänomene und Strukturen neutralisieren und aufdecken. Insofern gibt es erst einmal eine Erkenntnisneugierde und eine Rücksichtslosigkeit bezogen auf das eigene Leben. In der Philosophie muss man alles infrage stellen, letztlich auch gesellschaftliche Selbstverständlichkeiten, wie z.B. die Verfassung des eigenen Landes.

Was bedeutet es für Sie, dass wir in einem säkularen Staat, in dem Religion und Politik voneinander getrennt werden, leben? Sollte und kann der Staat als Vermittler zwischen den Religionen und zwischen Religiösen und Atheisten neutral sein?

HAFNER: Ich würde sagen, der säkulare Staat ist ein großer Segen, wenn ich das Wort verwenden darf, für die Religionen. Weil dadurch die Religionen auch erst religiös wurden. Religionen waren sonst immer verquickt mit anderen Teilsystemen. Sie mussten Macht legitimieren oder haben das Erziehungs- und Krankenhauswesen betrieben. Moderne Gesellschaften haben diese Funktionen alle selbst übernommen, und da kann sich Religion auf das konzentrieren, was sie bzw. die Kirche eigentlich tun sollte: nämlich die Befassung mit den großen Irreversibilitäten, Schuld und Tod sowie ihrer Kehrseiten, die Opfer von Untaten und die Frage nach dem Weiterleben. Das wird man nicht delegieren können. Das sind die bleibenden Fragen, die den Religiösen immer gestellt werden. 

KRÜGER: Ich halte die Trennung von Kirche und Staat auch für eine evolutionäre Errungenschaft. Aber es gibt natürlich Folgeprobleme. In Europa ist die Trennung so verstanden worden, als ob der Staat atheistisch agieren müsste. Während es in den USA immer auch eine Verquickung gab zwischen Religion und Politik. Säkularisierung sollte nicht die Privilegierung der atheistischen Weltanschauung bedeuten. Wir brauchen in der Öffentlichkeit einen Austausch zwischen allen religiösen und nichtreligiösen Weltanschauungsformen und nicht eine versteckte und in unserem Fall atheistische Weltanschauung. Entsprechend vielfältig sollte das politische Leben sein.

Herr Krüger, wenn die unterschiedlichen religiösen und nicht-religiösen Glaubensformen zunehmen, müssen wir uns dann auch auf eine Zunahme gesellschaftlicher Konflikte einstellen?

KRÜGER: Ich glaube, es ist für jede Gruppierung schwer, zwei Aspekte zusammenzubringen: einerseits die eigene Überzeugung in irgendeiner kollektiven Form auszuleben und gleichzeitig anzuerkennen, dass die plurale Gesellschaft viele andere und fremde Glaubensformen erlaubt und auch immer wieder neu generiert. In den ideologischen Konflikten des 20. Jahrhunderts dachte man noch, man kann durch irgendeine soziale oder ökonomische Revolution die Gesellschaft so verändern, dass dann alle weltanschaulich übereinstimmen. Weltweit ist die Grunderfahrung jetzt, dass wir eine ganz intensive Fortsetzung der Prozesse von Individualisierung und Pluralisierung haben. Das heißt, man sollte neugierig sein auf die anderen und fremden Glaubensformen. 

HAFNER: Ich habe die große Hoffnung, dass die Pluralisierung auch zur Zivilisierung der Religionen führen wird. Es wird immer schwieriger für Religionen, sich nur in der eigenen Lebenswelt zu bewegen. Diese Milieus brechen alle auf und dadurch sehen sie, dass sie nur eine Glaubensrichtung unter anderen sind. Dann kommt es zunächst zu einem Konflikt und zu Ressentiments. Auf lange Sicht kommt es in der Moderne einerseits zur Gesinnungsfestigkeit – Menschen halten kontrafaktisch an dem fest, was sie glauben und ziehen sich darauf zurück – aber anderseits sieht man auch, dass sich Religionen in bestimmten Fragen untereinander verbünden. Nicht unbedingt in den hohen theologischen Fragen, sondern in praktischen Anliegen, wie wir beispielsweise mit der Umwelt umgehen sollen, wie Frieden sich bewahren lässt, wie man die Überforderungen in der Leistungsgesellschaft abwehren kann, wie man eine Generationenverantwortung entwickeln kann. Hier werden Religionen stärker miteinander in Dialog treten.

Die Wissenschaftler

Prof. Dr. Johann Hafner studierte Philosophie und Theologie in Augsburg, München und Vigan/Philippinen. Seit 2004 ist er Professor für Religionswissenschaft mit dem Schwerpunkt Christentum an der Universität Potsdam.

Kontakt

Universität Potsdam 
Institut für Jüdische Studien und Religionswissenschaft
Am Neuen Palais 10, 14469 Potsdam
E-Mail: hafneruni-potsdamde

Prof. Dr. Hans-Peter Krüger studierte Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Seit 1996 ist er Professor für Praktische Philosophie/Politische Philosophie an der Universität Potsdam.

Kontakt

Universität Potsdam
Institut für Philosophie
Am Neuen Palais 10, 14469 Potsdam
E-Mail: krueghpuni-potsdamde

Die Fragen stellten Dr. Sophia Rost und Matthias Zimmermann, Online gestellt: Agnes Bressa