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Stadtgespräche

Sprachwissenschaft zum Mitmachen

Foto: Lydia Gornitzka
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Foto: Lydia Gornitzka

So vielfältig die Bewohner der Großstadt sind, so verschieden ist auch ihre Sprache. Dialekte, Akzente, Slang, Jugendsprache – für Linguisten eröffnen sich interessante Forschungswelten. Die Potsdamer Sprachwissenschaftler Heike Wiese und Christoph Schroeder lassen Studierende und Kreuzberger Jugendliche gemeinsam die Sprache im urbanen Raum erforschen.

Es hat 25 Seiten und führt 88 Wörter. Schlägt man das schmale Büchlein auf, liest man „dissen“, „chillen“ und „messern“. Oder auch „Opfer“, „Digga“ und „yallah“. Der Eintrag zu „Azzlack“ lautet: „Wortzusammensetzung aus ‚azzl-‘ für ,asozial‘ und ‚-ack‘ für ,Kanake‘, urspr. aus Rap-Bereich“. Zu lesen ist dies im Kiezdeutsch-Wörterbuch, das Herkunft und Bedeutung von Begriffen aus der Jugendsprache erklärt. Schüler aus Berlin-Kreuzberg und dem hessischen Hattersheim haben es gemeinsam mit Studierenden der Universität Potsdam während des Forschungsprojekts „Lassma Sprache erforschen – Kiez goes Uni“ erstellt. Zwei Semester lang ergründeten 26 Schüler und 46 Masterstudierende der Germanistik, Erziehungswissenschaften, Fremdsprachen-, Kommunikations- und allgemeinen Linguistik mit sprachwissenschaftlichen Methoden die Sprache in ihrem städtischen Umfeld.

Erziehungswissenschaften, Fremdsprachen-, Kommunikations- und allgemeinen Linguistik mit sprachwissenschaftlichen Methoden die Sprache in ihrem städtischen Umfeld. „Die Idee zum Projekt ist entstanden, als ich eine Ausschreibung der Robert-Bosch-Stiftung zum Denkwerk-Programm gesehen habe“, erklärt Heike Wiese, Professorin am Lehrstuhl für Deutsche Sprache der Gegenwart an der Uni Potsdam. Das Ziel des Denkwerk-Programms sei es, Jugendliche zu einem Studium der Geisteswissenschaften zu animieren, so die Professorin. Mit der Idee im Kopf, Kreuzberger Schüler für das Programm zu gewinnen, rief sie gemeinsam mit Germanistik-Professor Christoph Schröder das Projekt „Lassma Sprache erforschen“ unter dem Dach des Zentrums „Sprache, Variation und Migration“ ins Leben. Mit einem Förderbescheid von gut 45.000 Euro in der Tasche konnten die Germanisten im Herbst des Jahres 2011 starten. Für drei Jahre ist das Projekt angelegt. In jedem Jahr finden sich neue Schüler- und Studierendengruppen zusammen.

Drei Kreuzberger Schulen beteiligen sich am Experiment „Kiez goes Uni“. Die Schüler kommen aus den zehnten bis zwölften Klassen. Sie sind 15 bis 18 Jahre alt und größtenteils mehrsprachig aufgewachsen – neben Deutsch sprechen sie Türkisch, Russisch, Arabisch oder Kurdisch. So stammen etwa an der Hector-Petersen-Schule 97 Prozent der Schüler aus Familien, deren Herkunftssprache nicht Deutsch ist. An der Carlvon-Ossietzky-Schule sind es 84 Prozent, an der Robert-Koch-Schule 96 Prozent.

Im Umfeld dieser Schüler entstand in den vergangenen Jahren ein neuer Dialekt – das Kiezdeutsch. „Kiezdeutsch ist eine Jugendsprache, die in multiethnischen Wohngebieten gesprochen wird“, erläutert die Sprachwissenschaftlerin Wiese. Der Wortschatz des Dialekts ist komplex, oft werden neue Fremdwörter und Wortschöpfungen aus mehreren Sprachen und grammatische Neuerungen verwendet – für Linguisten ein spannendes Thema. Im November 2011 trafen sich Schüler und Studierende erstmals an der Universität Potsdam. Hier besuchten die Schüler eine Lehrveranstaltung und schnupperten Campus-Luft. Anschließend überlegten sie zusammen mit ihren studentischen Mentoren, welche Themen für sie selbst spannend sein könnten. In acht Gruppen bearbeiteten die Jugendlichen verschiedene Fragen, etwa wie türkisch-deutsche Familien ihre Mehrsprachigkeit erleben oder wie die eigene Sprache auf den Gesprächspartner wirkt.

Abdullah, Furkan, Naciye und Seyma von der Hector-Petersen-Schule entschieden sich dafür, die Sprache ihres Kiezes in einem Wörterbuch festzuhalten. Mit Notizblock und Stift begaben sich die 15- und 16-Jährigen auf dem Schulhof, in der U-Bahn oder in den Straßen von Berlin-Kreuzberg auf die Suche nach Wörtern, die typisch für Kiezdeutsch sind. „Wir haben beobachtet, wie sich die Schüler miteinander unterhalten, die Wörter aufgeschrieben und dann darüber gesprochen“, beschreibt Naciye das Vorgehen. Jedes Wort analysierten die Jugendlichen sprachwissenschaftlich, ermittelten Herkunft, Bedeutung und Grammatik. Ihre Mentorinnen, die Studentinnen Dominika Hrubcová, Anda Kruklina und Larissa Friesen, begleiteten sie während des Forschungsprozesses. Um herauszufinden, wer typische Worte der Kiezsprache erkennt und auch benutzt, entwickelten die Schüler einen Fragenbogen und führten Interviews mit Eltern, Bekannten und Freunden. „Es war spannend zu sehen, wo überhaupt der Unterschied zwischen Kiezdeutsch und normalem Deutsch liegt“, sagt Abdullah. Denn für die Schüler ist Kiezdeutsch Alltagssprache. „So reden wir eben untereinander“, sagt Naciye. 

Für die Studierenden ist das anders. „Ich kannte ganz viele Wörter nicht“, gibt Anna Kruklina zu. Aber auch den Schülern der Partnerschule in Hattersheim waren zahlreiche der Berliner Kiezdeutsch-Worte unbekannt. Umgekehrt hörten die Berliner Schüler viele Worte der Hattersheimer zum ersten Mal. Kiezdeutsch ist lokal geprägt. „Typisch Kiezdeutsch eben“ – sagt Kruklina, deren neues Lieblingswort „baba“ ist. Das Kiezdeutsch-Wörterbuch, das es derzeit nur als Prototyp in Ringbindung gibt – eine Druckversion ist in Arbeit –, klärt auf: Baba bedeutet hervorragend, erstklassig, ausgezeichnet. Bereits seit mehreren Jahren arbeiten Heike Wiese und Christoph Schroeder mit Kreuzberger Schulen zusammen und untersuchen Fragen zur Grammatik und Jugendsprache. Aus Erfahrung weiß Heike Wiese: „In der öffentlichen Wahrnehmung gibt es häufig die Assoziation Migrationshintergrund – Sprachförderbedarf. Das erfahren wir ganz anders.“ Das Denkwerk-Programm sei ein Begabtenförderungsprogramm, betont sie. Daher werden vorwiegend Schülerinnen und Schüler mit guten Leistungen dazu aufgefordert, an den Forschungen teilzunehmen. Kommunikationslinguistik-Studentin Hrubcová erstaunt die hohe sprachliche Kompetenz der Schüler: „Sie sind sich ihrer Sprache sehr bewusst und können sie analysieren“, sagt sie. Die Teilnahme an dem Projekt soll dazu beitragen, Hemmschwellen vor Hochschulen abzubauen und die Perspektive eines Studiums zu eröffnen. Denn: „Ein großes Problem an deutschen Hochschulen ist: Wir sind viel zu homogen“, sagt Heike Wiese. Es gebe zu wenige Studierende, deren Eltern keine Akademiker seien, und viel zu wenige mit Migrationshintergrund. „Das ist nicht gut“, so Wiese. „An den Kreuzberger Schulen haben wir eben jene Gruppen, die bei uns an den Universitäten unterrepräsentiert sind“, so die Sprachwissenschaftlerin weiter. Gerade hier sei es daher sinnvoll, Schüler an wissenschaftlichen Forschungen zu beteiligen. Studierten die Schüler Germanistik und unterrichteten später Deutsch, würden gleich zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. „An den Schulen haben wir dasselbe Problem wie an den Universitäten: Zu wenige Lehrer mit Migrationshintergrund“, so Wiese.

Dass sie einmal an der Universität studieren wird, steht für die 15-jährige Naciye bereits fest. Doch Sprachwissenschaftlerin wird sie wohl nicht: „Ich werde Medizin studieren.“

Das Projekt

„Lassma Sprache erforschen“ – Kiez goes Uni
Beteiligt: Prof. Dr. Heike Wiese, Prof. Dr. Christoph Schroeder, Zentrum „Sprache, Variation und Migration“, Carl-von-Ossietzky-Oberschule Berlin, Hector-Petersen-Schule Berlin, Robert-Koch-Schule Berlin, Heinrich-Böll-Schule Hattersheim Laufzeit: 2011 bis 2014 Finanzierung: denk werk-Programm der Robert-Bosch-Stiftung
www.kiezdeutsch.de
und www.uni-potsdam.de/sprachforscher

Die Wissenschaftler

Prof. Dr. Heike Wiese studierte Germanistik und Philosophie in Göttingen. Seit 2006 ist sie Professorin für deutsche Sprache der Gegenwart an der Universität Potsdam und Sprecherin des Zentrums „Sprache. Variation, Migration“. Sie ist Autorin des 2012 erschienenen Buchs „Kiezdeutsch. Ein neuer Dialekt entsteht“.

Kontakt

Universität Potsdam
Institut für Germanistik
Am Neuen Palais 10
14469 Potsdam
E-Mail: heike.wieseuni-potsdamde

Prof. Dr. Christoph Schroeder studierte Anglistik, Deutsch als Fremdsprache, Linguistik und Erziehungswissenschaften an der Universität Bremen. Seit 2007 ist er Professor für Deutsch als Zweit- und Fremdsprache an der Universität Potsdam.

Kontakt

Universität Potsdam
Institut für Germanistik
Am Neuen Palais 10
14469 Potsdam
E-Mail: schroedcuni-potsdamde

Text: Heike Kampe, Bearbeitung: Julia Schwaibold