Australien hat kürzlich ein Verbot von Social Media für Kinder und Jugendliche unter 16 Jahren ausgesprochen. Was halten Sie davon?
Diese Reaktion fand ich – wie viele andere Medienwissenschaftler:innen auch – nicht zu Ende gedacht. Wie soll man mit 16 Jahren kompetent mit Medien umgehen können, wenn man die Erfahrung gar nicht hat? Die australische Regierung hat dafür keine Idee vorgelegt.
Es gibt bereits rechtliche Bestimmungen, dass Jugendliche manche Apps nicht nutzen dürfen.
Tun sie aber trotzdem. Das wirft einerseits die Frage auf: Wer guckt da genauer hin? Andererseits gibt es auf Social Media viele für Kinder und Jugendliche ungeeignete Inhalte. Die Plattformen sind verpflichtet, diese zu entfernen. Dieser gesetzlichen Verpflichtung kommen sie aber nicht hinreichend nach.
Kinder verbringen zu viel Zeit mit Handy und Laptop. Wie viel Medienkonsum ist gut für ihre Entwicklung?
Die Frage ist eher, wie und mit welcher Anleitung sollten sie konsumieren? Aus der KIM-Studie, die seit 1999 den Medienumgang der Sechs- bis 13-Jährigen untersucht, wissen wir, dass 50 Prozent der Kinder von ihren Eltern keinerlei Anleitung erfahren, welche Medien altersgerecht sind und in welchem Umfang sie diese nutzen dürfen. Sie sind an vielen Stellen sich selbst überlassen.
Wie viele Stunden Mediennutzung pro Tag lassen Sie noch durchgehen?
Das ist schwierig kategorisch zu beantworten. Bei ganz jungen Kindern wird empfohlen, eine halbe Stunde Bildschirmzeit, also Fernsehen und digitale Angebote, nicht zu überschreiten. Bei Schulkindern fängt die Diskussion schon an: Was ist Medienzeit? Geht es um die Nutzung in der Freizeit oder auch beim Lernen? Wenn Kinder sich durch die „Sendung mit der Maus“ etwas erklären lassen, ist das wirklich problematisch? Man sollte eher schauen, welche Bedeutung die Mediennutzung für die Kinder hat. Verdrängt sie sie Treffen mit Freunden? Vernachlässigen sie Sport und andere Hobbys? Gewinnt sie an Suchtcharakter? Da würde ich die Grenze ziehen.
Mit welcher Konsequenz?
Wir reagieren häufig mit Verbot und nehmen das Handy oder Tablet weg. Dadurch unterbinden wir zwar das ungewünschte Verhalten, schaffen aber kein Bewusstsein für einen guten Umgang mit Medien. Wichtiger ist, mit dem Kind darüber zu reden, warum es die ganze Zeit am Bildschirm hängt, und Alternativen aufzuzeigen.
Was müssen wir uns eigentlich unter Medienkompetenz vorstellen?
Häufig wird sie gleichgesetzt mit kompetenter Informationsnutzung. Das ist ein sehr eingeschränktes Verständnis von Medienkompetenz. Es geht auch darum, welche Informationen ich von mir im Netz teile und wie ich meine eigene Privatsphäre und Persönlichkeit schütze. Wie kann ich einschätzen, welche Inhalte für mich angemessen sind oder wovon ich lieber die Finger lassen sollte? Kinder sollten dafür sensibilisiert werden, dass es gut sein kann, Erwachsene einzubeziehen, wenn ihnen Dinge im Netz begegnen, die ihnen Angst machen.
Wann sollten Kinder ihr erstes Gerät bekommen?
80 bis 90 Prozent der Drittklässler sind mit einem eigenen Handy ausgestattet. Dahinter steckt natürlich der Wunsch der Kinder nach einem Smartphone, aber auch das Bedürfnis der Eltern, ihr Kind jederzeit erreichen zu können – statt in einem dringenden Fall im Schulsekretariat anzurufen. Kinder im Grundschulalter sollten das Handy besser nur als Telefon nutzen, statt ein unbegrenztes Datenvolumen zur Verfügung zu haben, mit dem sie beliebig auf alle Apps und Web-Inhalte zugreifen können.
Wie viel Kontrolle gehört dazu, um Kinder fit fürs Handy zu machen?
Eine Kontrolle der Bildschirmzeit und Medieninhalte ist vor allem in der ersten Phase angemessen. Wenn man merkt, das Kind entwickelt ein Verständnis dafür, dass es nicht die ganze Zeit daddeln und merkwürdige Seiten aufrufen soll, kann man mehr Vertrauen schenken. Letztlich sind die Eltern in der Pflicht, darauf zu achten, was ihre Kinder eigentlich machen, wenn sie das Handy nutzen.
Eltern werden dieser Rolle häufig nicht gerecht. Woran liegt das?
Viele fungieren selbst nicht als medienkompetente Vorbilder. Sie legen das Handy beim Abendessen neben sich auf den Tisch und unterbrechen das Gespräch mit dem Kind, wenn die nächste Mail auf dem Display erscheint. Auch wissen sie nicht, dass Gefahren zum Beispiel auf scheinbar harmlosen Spieleplattformen lauern können, wo Erwachsene sich als Kinder ausgeben, um sexuelle Kontakte anzubahnen. Oder dass rechtsradikale Initiativen hier versuchen, Interessenten anzuwerben.
Wie wirkt sich all dies schlimmstenfalls auf die Psyche aus?
Die wenigen Studien, die es gibt, konnten bislang – wenn auch nur kleine – Zusammenhänge zwischen psychischer Gesundheit, Übergewicht und digitalen Spielen belegen. Dabei zeigen sich Geschlechtsunterschiede: Jungen sind häufiger von Spielsucht betroffen. Mädchen verhalten sich häufig riskanter als Jungen. Sie geben viel mehr Informationen von sich preis und bewegen sich vor allem auf Social Media in Kontexten, die eher schädlich sind – auf Instagram beispielsweise, wo das dünne Schönheitsideal propagiert wird. Negative Wirkungen sozialer Medien wie Depressionen und Einsamkeit sind eher auf sensible Phasen, in denen Jugendliche mit dem Selbstwert zu kämpfen haben, beschränkt.
Die Mediennutzung wird häufig verteufelt. Was sind die positiven Seiten?
Wir wissen, dass gesellschaftliche Partizipation durch mediale Aktivität gestärkt werden kann. Ich treffe im Netz auf andere, die ähnliche Interessen haben, sich auch sozial oder politisch engagieren möchten, die im ländlichen Raum aufwachsen, mit ihrer sexuellen Identität nicht zurechtkommen und die sich vernetzen können mit Gleichaltrigen, die ähnliche Fragen haben. Kinder und Jugendliche können im Umgang mit digitalen Medien außerdem kreative Fähigkeiten erwerben, also Videos produzieren, Blogs selber schreiben und sich medial ausdrücken.
Was erwarten Sie von der Schule?
Sie muss klassische Medienkompetenz vermitteln. Wie nutze ich Informationen im digitalen Raum sinnvoll? Wie schütze ich mich? Sie muss aber auch dafür Sorge tragen, dass Kinder und Jugendliche digitale Werkzeuge ähnlich wie Stift und Papier nutzen und kompetent damit umgehen können – um sie auf eine Alltags- und Arbeitswelt vorzubereiten, in der diese Werkzeuge selbstverständlich sind.
Warum klappt das an deutschen Schulen schlechter als in anderen europäischen Ländern?
Die mangelhafte digitale Ausstattung lässt sich immer noch nicht wegreden. Wir haben keine Konzepte, also kein wirkliches Curriculum für Medienkompetenz – und eine große Debatte, ob das in der Grundschule oder in der Sekundarstufe losgehen soll. Außerdem gibt es eine Verantwortungsdiffusion, weil Medienkompetenz eine Querschnittsaufgabe aller Fächer ist – und sich im schlimmsten Fall niemand dafür zuständig fühlt.
Wie muss der Zugang von Kindern aus sozial schwachen Schichten zu digitaler Bildung verbessert werden?
Untersuchungen zeigen, dass diesen Kindern zu Hause oft die Rollenbilder fehlen, wie man digitale Medien zielgerichtet nutzen kann. Da ist die Nutzung eher auf Spielen und Entertainment ausgerichtet. Außerdem ist der Zugang zu Geräten häufig schlechter und auf Handys begrenzt. Deshalb wäre die schulische Grundausstattung mit digitalen Tools ein erster Weg: Tablets für die Jüngeren, Laptops für die Älteren. Wir verlassen uns viel zu sehr darauf, dass Kinder eigene Geräte mitbringen – und die sind für Bildungsprozesse unterschiedlich gut geeignet. Nicht zuletzt stellt sich die wichtige Frage, wie man auch Eltern in die Medienkompetenzvermittlung einbindet.
Sie sind am neuen Universitären Forschungsschwerpunkt „Bildung für Resilienz in einer Welt im digitalen Wandel“ beteiligt. Was ist das Ziel?
Wir wollen die Frage nach kausalen Zusammenhängen besser beantworten können. Ist es wirklich die Mediennutzung, die psychisches Wohlbefinden beeinträchtigt? Oder haben wir nicht vielmehr die Situation, dass Kinder und Jugendliche mit einer bereits vorhandenen Vulnerabilität, also zum Beispiel mit geringerem Wohlbefinden verstärkt zu digitalen Medien greifen? Auch das Thema Demokratiebildung spielt eine Rolle. Wie gehen Jugendliche mit Desinformation um? Wie können wir sie resilienter machen im Umgang mit Medien, sodass sie diese kompetent für ihre eigenen Ziele nutzen, ohne Fake News auf den Leim zu gehen?
Zur KIM-Studie (Kindheit, Internet, Medien) des Medienpädagogischen Forschungsverbunds Südwest
https://mpfs.de/studien/kim/
Katharina Scheiter ist seit 2022 Professorin für Digitale Bildung an der Universität Potsdam.
E-Mail: katharina.scheiteruuni-potsdampde
Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal - Eins 2025 „Kinder“.