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Kinder an die Macht! – Warum Politik schon für die ganz Jungen wichtig ist

Innenraum der Evangelischen Schule Babelsberg
Portrait von Iris Baumgardt
Max Droll
Auf dem Foto ist der Wissenschaftler Maik Wienecke zu sehen.
Foto : Matthias Zimmermann
Im Kinderparlament der Evangelischen Schule Babelsberg wird verhandelt, was den Schüler*innen wirklich auf den Nägeln brennt.
Foto : ps art
„Die politische Bildung ist eine dauerhafte Aufgabe und darf nicht allein dann hinzugezogen werden, wenn es irgendwo ‚brennt‘“, sagt Iris Baumgardt, Professorin für Grundschulpädagogik Sachunterricht an der Universität Potsdam.
Foto : privat
„Wir sollten traditionelle Machtstrukturen hinterfragen und den Mut haben, Kinder und Jugendlichen echte Mitbestimmung zu gewähren“, sagt Max Droll, der als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für politische Bildung künftige Lehrer*innen ausbildet.
Foto : Tobias Schwarz

Politik, zumal die Demokratie, lebt vom Mitmachen. Jeder sollte wissen, wie sie funktioniert, und sich einbringen, Möglichkeiten gibt es zuhauf. Nicht wenige meinen, damit könne man nicht früh genug anfangen. Kinder könnten und sollten schon in der Kita oder Grundschule Politik entdecken – und vor allem machen. Aber wie gelingt das?

Politik, zumal die Demokratie, lebt vom Mitmachen. Jeder sollte wissen, wie sie funktioniert, und sich einbringen, Möglichkeiten gibt es zuhauf. Nicht wenige meinen, damit könne man nicht früh genug anfangen. Kinder könnten und sollten schon in der Kita oder Grundschule Politik entdecken – und vor allem machen. Aber wie gelingt das?

Es ist Mittwoch, 11.30 Uhr. In der Medienbibliothek der Evangelischen Grundschule Babelsberg sitzen knapp 20 Kinder auf Bänken und Hockern, die im Kreis aufgestellt sind. Ein Mädchen kommt herein, in der Hand einen Teller mit Bratwurst und Sauerkraut, andere mümmeln an ihren Pausenbroten. Die Stimmung ist gelöst, es wird geschwatzt. Dabei wird es gleich ernst, denn es geht um alles. Im KiPa, dem Kinderparlament der Schule, steht eine wichtige Frage an: Sollten Süßigkeiten künftig aus den Brotdosen verschwinden? Langes Vorgeplänkel gibt es nicht. Miriam Meeden, Ganztagspädagogin, die das Gremium koordiniert, begrüßt die Runde fröhlich. Dann geht sie einen Stapel kleiner Zettel durch, auf die vorab alle Kinder Themen notieren durften, über die sie reden wollen. Die Agenda ist kurz, aber drängend. Gefordert werden eine Fußballplatz-Zeit nur für Mädchen, Sprudelwasser im kleinen Haus, saubere Toiletten und keine Kaugummis mehr unter Hausschuhen.

Fußballplatz und Süßigkeiten

Das KiPa ist kein Bundestag. Hier geht es nicht um Migration, Strukturreform und Zeitenwende. Und das ist gut so, denn hier wird verhandelt, was den Schüler*innen wirklich auf den Nägeln brennt. „Auf Politik treffen die Kinder überall in ihrem Umfeld, ohne dass sie sich dessen bewusst sind“, erklärt Dr. Maik Wienecke, akademischer Mitarbeiter an der Professur Didaktik der Geschichte der Universität Potsdam. „Verkehrsschilder auf dem Schulweg, Fluchtwege in der Schule, Inhaltsstoffe in Süßigkeiten, alles ist Grundlage von Regeln und Beschlüssen. Genau hier sollte Unterricht ansetzen.“

Das muss er auch. Denn viele Menschen scheinen nicht (mehr) zu wissen, wie demokratische Teilhabe aussieht: was sie erreichen kann, welche Mittel dazugehören und wie wichtig es ist, einander zuzuhören. „Die aus meiner Sicht wichtigsten Prinzipien sind hier der Lebensweltbezug und die Mehrperspektivität“, sagt Wienecke. Das bedeutet zum einen: Wenn es um Süßigkeiten in der Brotdose geht, sind auf jeden Fall in der Grundschule alle dabei, Teenager wollen vielleicht eher über Regeln zur Mediennutzung diskutieren. Zum anderen ist es wichtig, solche Themen dann auch wirklich demokratisch auszuhandeln: „Anhand der Beispiele lernen die Kinder, dass Veränderungen nicht für alle Betroffenen gleich schlecht oder gut sind“, erklärt Wienecke. „Erst, wenn die Kinder unterschiedliche Sichtweisen auf das Problem kennenlernen, entwickeln sie ein Verständnis von Politik. So wird ihnen überhaupt erst bewusst, dass Diskussionen, Argumente und letztlich Kompromisse notwendig sind.“

Im KiPa der Evangelischen Grundschule Babelsberg hat die Sitzung Fahrt aufgenommen. Manche Parlamentarier liegen auf den Tischen, andere essen noch immer. Disziplin wird hier nicht großgeschrieben – und doch funktioniert das Gremium. Die Kinder hören einander zu, gehen auf Argumente der anderen ein, bringen Themen konzentriert zu Ende. Natürlich bleiben Konflikte nicht aus. Ein Junge will den Fußballplatz nicht kampflos aufgeben: „Ich spiele dort jeden Tag. Wenn jetzt eine Stunde nur für Mädchen reserviert wird, finde ich das schon doof.“ Miriam Meeden moderiert behutsam. Nach 30 Minuten ist die Sitzung vorbei. Entscheidungen werden in die Klassen, das Lehrkräfte-Team oder die Schulkonferenz weitergegeben: Eine Umfrage soll zeigen, wann die Mädchen den Fußballplatz allein nutzen wollen, die Schulleitung ist aufgefordert, sich der Toiletten anzunehmen – und zu den Kaugummis unter den Hausschuhen gibt es einen Aufruf, den die Schüler*innen in ihrem Klassenrat vorstellen. „Dieser findet wöchentlich statt und wird von den Kindern selber geleitet“, erklärt Schulleiterin Susanne Anders. Entwickeln sich dort Themen, die die gesamte Schulgemeinschaft betreffen, werden sie von den „KiPa-Kindern“ ins Kinderparlament eingebracht. „Je älter die Schülerinnen und Schüler werden, umso interessanter werden auch gesellschaftspolitische Fragen. Für die wöchentliche aktuelle Stunde bereitet sich ein Kind auf ein aktuelles Thema vor und teilt diese Informationen mit den anderen. Im Anschluss wird oft auf hohem Niveau diskutiert.“

Mitbestimmen, was an der Schule passiert

Politik ist kein Sprint, sondern ein Dauerlauf. „Die politische Bildung ist eine dauerhafte Aufgabe und darf nicht allein dann hinzugezogen werden, wenn es irgendwo ‚brennt‘“, sagt Iris Baumgardt, Professorin für Grundschulpädagogik Sachunterricht an der Universität Potsdam. „Sie fängt bereits in der Kita an, wird in der Grundschule fortgeführt und sollte sich als eine zentrale Aufgabe durch die gesamte Schullaufbahn ziehen.“ Es gilt also, das Interesse von Kindern und Jugendlichen an dem Politischen in ihrer Lebenswelt von Anfang an aufzugreifen und in der Schule anzureichern und auszudifferenzieren. Das klingt gut, ist aber auch anstrengend, wie Max Droll erklärt, der als akademischer Mitarbeiter an der Professur für Politische Bildung künftige Lehrer*innen ausbildet. „In der Praxis bedeutet dies, dass wir uns als Lehrer und Eltern selbst reflektieren müssen. Wir sollten traditionelle Machtstrukturen hinterfragen und den Mut haben, Kindern und Jugendlichen echte Mitbestimmung zu gewähren.“

An der Evangelischen Grundschule in Babelsberg hat politische Teilhabe tatsächlich noch mehr Räume gefunden: So wurden die Schülerinnen und Schüler in die Neugestaltung ihrer Klassenräume einbezogen, durften Wünsche einbringen, zum Teil an den neuen Möbeln sogar mitbauen. Das Ergebnis ist beeindruckend: Kein Raum ist gleich, überall gibt es Emporen mit Leseecken, hohe Arbeitstische, die an eine Bar erinnern, niedrige, an denen man auf dem Boden sitzt. Die Kinder kommen morgens, suchen sich einen Platz, der zu ihnen und ihrer Arbeitsweise passt. Sitzordnungen werden selten gebraucht. Immer wieder drehen sich auch Unterrichtsprojekte um die Gestaltung und Abläufe der Schule – mal ist es eine Umfrage zum Lieblingsnachtisch, mal entwirft eine Klasse den Schulhof neu und Ideen für neues Spielzeug gleich mit.

„Wir erleben Demokratie oft als ein Regelwerk mit vielen verabredeten Strukturen vom Wahlrecht bis zum Minderheitenschutz, aber lebendig wird sie vor allem durch die demokratische Haltung der Beteiligten“, erklärt Susanne Anders das Ziel der Schule. Die scheint sich bei den KiPa-Kindern selbstbewusst zu entwickeln: „Wir wollen mitbestimmen, was an der Schule passiert“, sagt ein Junge, vielleicht neun Jahre alt, nach der Sitzung. „Es wäre blöd, wenn das nur die Erwachsenen machen würden.“ Und sie sind sich erfreulich einig, dass es funktioniert. „Wir merken schon, dass die Lehrer das ernst nehmen, wenn wir auf ein Problem aufmerksam machen“, ergänzt eine Zweitklässlerin. Was sie dabei lernen: Sich einbringen bewirkt etwas. „Wichtig ist, dass Kinder die Wirkung ihrer Teilnahme sehen, damit sie begreifen, dass ihre Stimme zählt“, ist Max Droll überzeugt.


„Politische Bildung bleibt eine stete Aufgabe der Gesellschaft“

Max Droll, akademischer Mitarbeiter an der Professur für Politische Bildung, sprach mit Matthias Zimmermann darüber, wie Kinder Politik erleben und erlernen sollten.

 

Politik und Kinder – passt das zusammen?

Kinder erleben im Alltag immer wieder Situationen, die demokratische Entscheidungsprozesse widerspiegeln, ohne dass sie diese als solche erkennen. Zum Beispiel, wenn in der Kitagruppe die folgende alltägliche Frage diskutiert und nach dem Wunsch der Mehrheit entschieden wird: Lieber draußen auf dem Spielplatz oder drinnen spielen? Solche und viele anderen Entscheidungen in der Gruppe erfordern oft die Fähigkeit zum Kompromiss – eine zentrale Kompetenz in der Politik. Diese Erfahrungen sind prägend, weil Kinder dadurch lernen, dass Partizipation wichtig ist und dass ihre Meinungen geachtet werden sollten. Allerdings sollte dies altersgerecht gestaltet sein. Das bedeutet, dass sie die Möglichkeit erhalten, Entscheidungen in einem Rahmen zu treffen, den sie verstehen und in dem sie sich sicher fühlen. Wenn Kinder lernen, dass Kompromisse notwendig sind und dass es nicht immer nur um das Durchsetzen der eigenen Meinung geht, können wir ihnen die Grundlagen für ein politisch mündiges Verhalten vermitteln.

Wie sieht altersgerechte Vermittlung von Politik für die ganz Jungen aus?

Müssen sie politische Strukturen und Prozesse kennen? Politische Bildung beginnt nicht erst im Fachunterricht, sondern in der Interaktion mit einer Welt, die für Kinder relevant ist. Bereits im Alter von vier bis sechs Jahren können sie spielerisch an Entscheidungen beteiligt werden, die ihren Alltag betreffen. Kinder sollten erfahren, wie es ist, aktiv an Veränderungsprozessen teilzunehmen. Ein Beispiel wäre ein Schulprojekt zur Umgestaltung eines Spielplatzes, bei dem Kinder ihre Wünsche äußern dürfen. Solche realen Erfahrungen sind bei Weitem wertvoller als isolierte Simulationen wie Juniorwahlen, die oft die Erwartungen der Schüler verfehlen, da sie keinen greifbaren Einfluss auf ihr Leben haben. Die Schüler müssen erkennen, dass demokratische Prozesse lange dauern und manchmal frustrierend sein können, aber letzten Endes die Grundlage für eine gerechte und funktionierende Gesellschaft bilden.

„Kinder an die Macht“?

Ja, wenn es um ihre Belange geht. Kindern echte Mitbestimmung zu gewähren, ist oft ein schwieriger Prozess, insbesondere weil gewohnte Muster durchbrochen werden müssen. Dennoch ist es unerlässlich, damit Schüler ermutigt werden, ihre Rolle als junge Bürgerinnen und Bürger verantwortungsvoll wahrzunehmen.

Wie kann politische Bildung einer fortschreitenden Spaltung der Gesellschaft entgegenwirken?

Politische Bildung hat zwar keine kurzfristig wirksame Feuerwehrfunktion, muss aber offen und kritisch auf aktuelle politische Entwicklungen eingehen. Eine Herausforderung besteht darin, dass Parteien, insbesondere die AfD, Politik mit angeblichen Problemen machen, die keine faktische Relevanz haben. Es ist Aufgabe politischer Bildung, Menschen zu befähigen, ihre tatsächlichen Bedürfnisse und Anliegen erkennen und äußern zu können. Denn das ist grundlegend für ein freiheitlich-demokratisches Gemeinwesen.

 

Iris Baumgardt ist seit 2021 Professorin für Grundschulpädagogik Sachunterricht, Gesellschaftswissenschaftlicher Schwerpunkt, an der Universität Potsdam.

Maik Wienecke ist seit 2017 akademischer Mitarbeiter an der Professur für Didaktik der Geschichte für den Fachbereich Gesellschaftswissenschaften.

Max Droll ist seit 2015 akademischer Mitarbeiter an der Professur für Politische Bildung.

 

Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal - Eins 2025 „Kinder“.