Im Februar waren Sie mit einer Gruppe von Studierenden der UP sowie von anderen Universitäten zu einer Exkursion in Andalusien. Worum ging es bei der Reise?
Als Gasthörer an der Uni Potsdam besuche ich seit sieben Semestern Veranstaltungen im Fachbereich Italienische Philologie. Nicht zuletzt durch die Teilnahme an einer Exkursion nach Israel bin ich auf die Themen Geschichte und biblische Archäologie aufmerksam geworden. Letztere gehört zum Bereich Jüdische Theologie. Naturgemäß geht es in diesen Fächern um die Vergangenheit, aber auch um die Frage, was können wir aus der Vergangenheit lernen. Insofern machte mich der Titel im Vorlesungsverzeichnis neugierig: „Convivencia? Juden, Christen und Muslime im mittelalterlichen Spanien und heute“. Was bedeutet Convivencia? Koexistenz? Zusammenleben von Juden, Christen und Muslimen? Wie funktioniert das? Ein Thema, wie es aktueller nicht sein kann.
Es ging darum zu erfahren, wie sich das Zusammenleben der Religionen auf der iberischen Halbinsel während der arabischen Herrschaft gestaltete, nachdem die Muslime im Jahr 711 von Marokko kommend bei Gibraltar auf dem europäischen Kontinent gelandet sind. Sie trafen dort auf Ibero-Römer und Westgoten, die überwiegend christlich waren, aber auch auf jüdische Bevölkerungsgruppen. Das 10. und 11. Jahrhundert gelten als die Blütezeit des sefardischen Judentums und des Wissens- und Kulturtransfer zwischen Orient und Okzident. Die Reise versprach spannend zu werden. Die Initiative ging vom Lehrstuhl für Jüdische Religionsphilosophie mit Schwerpunkt Denominationen und interreligiöse Beziehungen an der Potsdamer School of Jewish Theology aus. Prof. Walter Homolka schloss dazu 2024 ein Kooperationsabkommen mit der Evangelischen Theologie der Uni Augsburg (Prof. Dr. Elisabeth Naurath) und der Islamischen Theologie der Uni Münster (Prof. Dr. Mouhanad Khorchide) gemeinsam mit dem Verein „begegnen e.V.“.
Wer war dabei?
Insgesamt waren wir 20 Personen, die aus ganz Deutschland zur Exkursion anreisten. Neben den Studierenden und ihren Professoren der Jüdischen Theologie an der Universität Potsdam und des Instituts für Evangelische Theologie der Universität Augsburg und Potsdam war auch eine Gruppe von Studentinnen des Zentrums für Islamische Theologie der Universität Münster dabei, observante Muslimas. Dazu kam noch eine Mitarbeiterin des Vereins begegnen e.V. – Für Toleranz in NRW, von dem das Programm mit vorbereitet worden war, und einige Mitglieder dieses Vereins, die wiederum selbst in jüdischen und muslimischen Gemeinden aktiv sind. Leitgedanke von begegnen e.V. ist, dass wir die Vergangenheiten verstehen und unsere Gegenwart positiv gestalten müssen, wenn wir die Zukunft nachhaltig gestalten wollen. Somit war gleich mehrfach gewährleistet, dass bei dieser Kooperationsreise nicht allein Historisches im Zentrum stand, sondern auch die Möglichkeiten interreligiösen Dialogs heute ausgelotet wurden. Im Vorfeld hatten wir Einführungsliteratur erhalten. Ganz wesentlich war, dass wir mit Rabbiner Haim Casas einen Reiseleiter hatten, der aus Andalusien stammt. Er ist 2017 in London ordiniert worden und spricht bestens Englisch.
Wohin führte die Reise?
Die wesentlichen Reiseziele waren die Städte Granada, Sevilla, Córdoba und Málaga. Treffpunkt war der Flughafen in Malaga. Als Orientierung soll laut Herrn Prof. Homolka der Infopoint am Ausgang dienen. Rabbiner Casas erwarte uns dort mit einem roten Hut.
Während die Mitreisenden allmählich am Treffpunkt eintrudelten und einander vorstellten, war von dem Rabbiner, jedenfalls so, wie ich mir einen Rabbiner vorstellte, nichts zu sehen. Aber pünktlich um 17 Uhr war er da: Rabbi Haim Casas. Er sagt, in Spanien nennen sie ihn Jaime, anderswo Jacob oder Jakob. Ein Kosmopolit. Roter Hut mit Krempe, offenes Hemd, gelber Pulli. Absolut locker und „cool“, und wie sich im Laufe der Reise herausstellt, zu 100 Prozent organisiert, informiert, zuverlässig sowie sprach- und ortskundig. Keine Frage blieb unbeantwortet.
Und dann ging es nach Granada?
Ja, Rabbi Haim war unser ständiger Begleiter. Während der Fahrt unterhielt er uns. Auf Englisch erzählte er über Mikrofon und Buslautsprecher von „al-Andalus“, seiner Heimat: „You don’t know where you are, in Europe or in Africa …“ Dazu passte die Landschaft, durch die wir fuhren: Karge und hügelige Hochebenen, in der Ferne hoch aufragende Berge, der höchste Punkt der Halbinsel. Dort, in der Sierra Nevada, war zu dieser Zeit noch Wintersport möglich.
Hunderte Kilometer Olivenhaine, das größte Olivenanbaugebiet der Erde. Rabbi Haim führte uns ein in die spanische Geschichte; die Namen Isabella und Ferdinand würden uns öfter noch begegnen. Auch die Namen Maimonides und Ibn Gabirol. Musikalisch wusste unser Reiseleiter zu überraschen. Aus dem Nichts heraus stimmte er ein Lied an, sefardische Folklore oder moderne Songs. Ein wahrer Entertainer, ohne aber jemals aufdringlich zu sein. Gegen Abend checkten wir im Gran Hotel Luna de Granada ein. Mit uns waren gefühlt mehrere Hundert Sportlerinnen und Sportler im Hotel, vor allem Kinder und Jugendliche; offensichtlich ein Sportkongress.
Danach trafen wir uns in der Lobby und fuhren mit unserem Bus zum maurischen Viertel Albaicin. Um 21 Uhr waren wir zum gemeinsamen Abendessen im Restaurante Panoramico Carmen de Aben Humeya eingeladen. Das Spannende bei jedem gemeinsamen Essen in dieser Woche war der Austausch über die jeweiligen Speisegesetze. Überhaupt ließen sich „bei Tisch“ nicht nur viele Fragen beantworten, sondern auch Klischees ausräumen: Die Muslima vis-à-vis, die die tradionelle Abaya trägt, erwies sich als feministisch ausgerichtet, weltoffen und zeitgemäß.
Vom Lokal aus gewannen wir bereits einen ersten Eindruck von dem, was uns am nächsten Tag erwartete: Die dezent nächtlich beleuchtete Alhambra krönte den gegenüberliegenden Hügel.
Nach dem Essen verzichteten die meisten auf den Bus und liefen durch das Gassengewirr der malerisch beleuchteten Altstadt in kleinen Gruppen zurück zum Hotel. Es fanden sich Spuren der maurischen Vergangenheit in den Mustern der Straßenpflaster. Nach der Reconquista, dem Sieg der Christen über die Mauren, wurden deren Moscheen im Wesentlichen nicht zerstört, sondern zu christlichen Kirchen umgewidmet. So auch die Kirche San José, deren Kirchturm das Minarett einer Moschee aus dem 9. Jahrhundert ist. Die Kathedrale Santa Maria de la Encarnacíon war noch geöffnet. Ansonsten erschien „Málaga by night“ an diesem Abend ziemlich verlassen.
Welche Rolle spielt Andalusien für die religiöse Vielfalt Europas?
Andalusien spielt hierfür eine bedeutende Rolle, da es historisch als Schmelztiegel verschiedener Kulturen und Religionen fungierte. Rabbi Haim beschreibt Andalusien als ein Kind der „diversity“, was die multikulturelle Identität der Region unterstreicht. Die lange Zeit unter arabischer Herrschaft hat dazu geführt, dass sich Einflüsse des Christentums, Judentums und Islam vermischten und eine einzigartige kulturelle Identität schufen.
In der Zeit der sogenannten Convivencia lebten Muslime, Christen und Juden in relativem Frieden zusammen, was zu einem fruchtbaren Austausch von Ideen in Philosophie, Medizin, Kunst und Wissenschaft führte. Diese Periode förderte nicht nur die religiöse Vielfalt, sondern auch das Verständnis und die Toleranz zwischen den verschiedenen Glaubensrichtungen. Die sichtbaren Spuren dieser Geschichte sind die beeindruckenden Bauwerke, die wir bis heute in Andalusien finden.
Damals regelten Stadtrechte das Zusammenleben zwischen der jüdischen, der muslimischen und der christlichen Bevölkerung. Diese Convivencia, das Zusammenleben der gesellschaftlichen Gruppen, wurde im 19. Jh. von Heinrich Heine (1797–1856) oder Abraham Geiger (1810–1874) thematisiert und zum verklärten Vorbild für ein gesellschaftliches Miteinander in der Moderne auch in Deutschland.
Erste Station der Reise war Granada, das mehr als 700 Jahre ein Zentrum des islamischen Glaubens der Region. Zeigt sich das bis heute? Was haben Sie vor Ort gemacht?
Über unsere Ankunft und der ersten nächtlichen Begegnung mit der Alhambra habe ich bereits erzählt. Am nächsten Morgen fuhr uns der Bus zu dieser spektakulären Palastanlage. Die Alhambra ist neben der Sagrada Familia in Barcelona und der Mezquita in Córdoba, das meistbesuchte Baudenkmal Spaniens. Die Eintrittskarten mussten Wochen im Voraus online unter Vorlage einer Passkopie bestellt werden. Das erleichtert vor Ort die Einlasskontrolle. Für den jüdischen Dichter und Philosophen Salomo Ibn Gabirol (1021–ca. 1058) war die die Alhambra ein Abglanz des Salomonischen Tempels in Jerusalem. Und die im maurischen Stil errichtete Neue Synagoge in der Oranienburger Straße von Berlin zitiert in ihren Bauformen wiederum die Alhambra. Da schließt sich ein Kreis!
Im Eingangsbereich erwartete uns Christina, unser local guide. Sie stammt aus Zürich, hat in Spanien Kunstgeschichte studiert und lebt dort seit langem. Sie weiß alles über die Alhambra. Zwei Stunden führte sie uns über das weitläufige Gelände. Es handelt sich nicht um einen einzelnen Palast, sondern um eine ummauerte Festungsstadt auf einer Fläche von ca. 13 Hektar, also der Größe von fast 19 Fußballfeldern. Und es gibt einen entscheidenden jüdischen Akzent: Samuel Ha-Nagid (993 ̶ 1056) war als Jude Wesir am Hofe und ein Staatsmann, der auch mit dem bekannten Löwenbrunnen der Alhambra und seiner Symbolik in Verbindung gebracht wird. Zugleich erfahren wir von der Vielstimmigkeit, ja Widersprüchlichkeit des Islams zur Zeit von al-Andalus. Es gab nicht nur die Dissonanz zwischen Arabern und Berbern, sondern auch divergierende religiöse Ausrichtungen.
Neben der Königsburg Alcazaba, dem Palast Karls V. und dem Palast der Nasriden gibt es opulente Park- und Gartenanlagen, wie den Generalife, den Sommersitz der maurischen Könige. Im Laufe ihrer wechselhaften Geschichte erlebte die Alhambra etliche Umbauten durch die jeweiligen Herrscher, wodurch ein einzigartiger Mix maurischer und spanischer Baukunst entstanden ist.
Nach dem beeindruckenden Besuch der Anlage gingen wir zu Fuß den Berg hinab zur Kathedrale und zur königlichen Kapelle. Dort sind die Katholischen Könige Ferdinand II, Philipp von Habsburg, sowie Königin Isabella von Kastilien und Johanna die Wahnsinnige beigesetzt. Danach war Freizeit, bis wir uns um 17:30 Uhr im Hotel im Raum Beatrice zur first lecture of the day einfanden.
Zunächst stellten sich die am Seminar Teilnehmenden vor und erläuterten, warum sie an der Exkursion teilnahmen. Anhand einer vom Seminar Convivencia der Universität Augsburg entwickelten Vorlage diskutierte die Gruppe über das Frauenbild im Christentum sowie über Reflexionsfragen zum Islam und zum Judentum. Darüber hinaus gab es weitere Textvorlagen, darunter von Dr. Lena Arava-Novotna (Potsdam) über jüdische Konvertiten unter den Jesuiten. Wer weiß schon, dass die heilige Teresa von Avila aus einer jüdischen Familie stammte?
Um 19 Uhr stieß Professor José Martinez Delgado von der Universität Granada zur Gruppe und erläuterte anhand einer Powerpoint-Präsentation jüdisch-arabische Manuskripte aus al-Andalus aus dem 12. Jahrhundert, die in der Geniza von Kairo gefunden wurden, darunter ein Glossar von Maimonides. Moses Maimonides wurde 1135 als Sohn eines Rabbiners in Córdoba geboren. Als dort der Druck auf jüdische Bewohner wuchs, zum Islam überzutreten, floh seine Familie über den Maghreb. Ab 1165 lebte und arbeitete Maimonides als Gelehrter und Arzt in Kairo und verfasste zahlreiche wissenschaftliche und religionstheoretische Schriften. Diese legten die Grundlagen jüdischer Philosophie und beeinflussten auch Gelehrte wie Thomas von Aquin und Isaac Newton.
Trotz der vorgerückten Stunde ließen wir es uns nicht nehmen, nach Vortrag und Diskussion noch einmal nach draußen zu gehen, um in einer der völlig überfüllten Tapas- Bars etwas zum Essen zu finden. Und wieder gab es gute Gespräche über Fragen der Zugehörigkeit, damals und heute.
Anschließend ging es weiter nach Sevilla. Die Stadt stand ebenfalls rund 500 Jahre unter maurischer Herrschaft, ehe sie im 13. Jahrhundert von den christlichen Spaniern erobert und anschließend auch ein regionales jüdisches Zentrum wurde. Wie sind Sie der Geschichte der Stadt nachgegangen?
Die Geschichte begann wie immer im Bus, der uns gegen 9 Uhr im Hotel abholte. Drei Stunden dauerte die Fahrt von Granada zur Hauptstadt Andalusiens. Zeit genug für Rabbi Haim, uns auf den Tag einzustimmen. Geplant war zunächst der Besuch des Königlichen Palastes und ein Spaziergang durch das jüdische Viertel. Gegen Mittag checkten wir im Hotel Exe Sevilla Macarena ein. Allein die Erwähnung dieses letzten Wortes führte zu einer spontanen Gesangseinlage im Bus. Jaime klärte uns jedoch auf, dass sich der Name des Hotels auf den Sevillaner Distrikt gleichen Namens bezieht, in dem es liegt. Die Virgen de la Macarena ist die Schutzheilige der Stierkämpfer und die am meisten verehrte Prozessionsfigur der Stadt.
Ganze Straßenzüge, die zum Hotel führen, sind mit großflächigen Graffiti bemalt. Mein Sohn, dem ich Fotos davon später zeigte, sagte mir, dass es sich um Tributwände handelt für den kleine Grafitero Julione aus Sevilla, der mit 13 Jahren an Leukämie verstorben ist.
Zurück zur Geschichte: Das Wetter war, wie während der ganzen Reise, traumhaft schön, sodass wir uns zunächst auf der Terrasse einer Tapas-Bar hinter der gut erhaltenen almohadischen Stadtmauer stärken konnten. Immerhin wartete um 16 Uhr unsere deutschsprachige Führerin vor dem Real Alcázar, dem königlichen Palast. Der Gebäudekomplex war ursprünglich Schloss und Burg der maurischen Herrscher, die vom 9. Jahrhundert an daran bauten. Nach der Einnahme Sevillas durch Ferdinand III. zogen die christlichen Könige hier ein. Die Tour de Force durch den maurischen Teil um den Patio del León, den Palast Pedros des Grausamen, den Palast Karls V. und die traumhaft schönen Gärten musste in zwei Stunden bewerkstelligt werden, da unsere Führerin einen Anschlusstermin hatte.
Die Anlage ist einmalig schön und erinnert in Vielem an die Alhambra. Bemerkenswert sind die riesigen Wandteppiche und die orientalische Ornamentik, die anders als in der Alhambra nicht in Stuck, sondern in Stein ausgeführt ist.
Was mir gefallen hat: In Sevilla stehen mehr als 50.000 Bitterorangenbäume. Unsere Führerin erläuterte den Grund: Die Stadt unterliegt Schwankungen der Tagestemperatur von ca. 20 Grad. Das hält die essbare Orange nicht aus, die ungenießbare bittere aber schon. Die Bäume sind eine Zierde im Stadtbild mit ihren leuchtenden Früchten. Und was die Royals in UK besonders freut: Der spanische Hof lässt Bitterorangen im königlichen Garten sammeln, schickt sie als Geschenk an den dortigen Königshof, wo sie zu Seville Orange Marmalade verarbeitet werden.
Auch Sevilla hat eine Juderia, das ehemalige jüdische Viertel, durch das wir bis zur Plaza Santa Cruz spazierten, um uns von der Tour durch den Alcázar ein wenig auszuruhen. Anschließend hatten wir zwei Stunden Freizeit, die manche zur Besichtigung der Kathedrale, andere für einen Spaziergang durch die malerische Altstadt nutzten. Um 19 Uhr trafen wir uns dann an der Casa de la Memoria. Eine Flamenco-Show hier im traditionellen Zentrum des Flamencos durfte nicht fehlen. Auch hier treffen wieder unterschiedlichste Einflüsse aufeinander: Ist der Flamenco nun Erbe der Gitanos? Gibt es arabische Ursprünge und jüdische Motive? Was ist Zuschreibung, was ist authentisch? Die Präsenz, die Energie und der Rhythmus, mit der die Künstler ihre Lieder und Tänze zum Ausdruck brachten, versetzten den kleinen Saal in Begeisterung.
Sie waren auch am nächsten Tag noch in Sevilla?
Ja, auf dem Programm stand noch der Besuch des Parks Maria Luisa und der Plaza de España. Auf dem Weg dorthin zeigte uns Haim spektakuläre Turm- und Brückenbauten sowie Pavillons der Länder, die an der Weltausstellung 1992 in Sevilla teilnahmen. Vor der Expo hatte es bereits in den Jahren 1929/30 eine ähnliche Schau gegeben, die Ibero-Amerikanische Ausstellung, die wesentlich im Parque Maria Luisa gezeigt worden war. Der Park selbst ist im Stil englischer Landschaftsgärten mit Pavillons, Springbrunnen, exotischen Gewächsen und Gehölzen gehalten.
Die Ausstellung 1929 war der Versuch, an das ehemalige spanische Großreich zu erinnern, aber auch eine Brücke zu schlagen zwischen Europa und Amerika, zwischen Spanien und seinen ehemaligen Kolonien. Unbedingt sehenswert ist die 50.000 Quadratmeter große Plaza de España: Ein gigantisches halbmondförmiges Gebäude („Das Tor zur neuen Welt“) umspannt einen von Kanälen umsäumten Platz. Vier Brücken symbolisieren die vier alten Königreiche Spaniens. Großformatige Azulejos repräsentieren die 48 spanischen Provinzen und ihre Hauptstädte. Bemerkenswert ist, dass der damalige Ministerpräsident Miguel Primo de Rivera 1924 den Nachfahren ausgewanderter iberischer Juden die spanische Staatsbürgerschaft ermöglichte, um so deren vermeintlich internationales Netzwerk auszunutzen.
Nach einem Café Bombón machten wir uns auf zur letzten Etappe in der Stadt am Rio Guadalquivir.
Unser Bus brachte uns zur Haltestelle am Fluss, wo ein Nachbau der Victoria ankert. Fernando de Magellan brach 1519 von hier aus mit diesem und vier weiteren Schiffen zur ersten Weltumsegelung auf. Sein Plan, im äußersten Süden einen Weg um Südamerika nach Indien zu finden, gelang. Allerdings fand Magellan dabei den Tod, und von den fünf Schiffen kehrte allein die Victoria drei Jahre später zurück. Kaum zu glauben, dass das Abenteuer mit einer solchen „Nussschale“ erfolgreich sein konnte. Auch Christoph Columbus entdeckte die Neue Welt von Spanien aus. Die in Mittel- und Südamerika mit geraubtem Gold und Silber vollgepackten Schiffe wurden in Sevilla entladen. Nicht zuletzt gründet sich der in der Stadt sichtbare historische Prunk auf dem Kolonialismus und der Vernichtung bestehender Hochkulturen in Mittel- und Südamerika.
Auch wir überquerten den Fluss, allerdings zu Fuß und auf einer Brücke. Unser Ziel war die Triana, ein gemütliches Stadtviertel mit bunten Häusern, Keramikläden und einer imposanten Markthalle. Dieses Idyll war jedoch ein Hauptort der Inquisition! Hier im Castillo San Jorge hatte das Santo Oficio seinen Sitz, und am 6. Februar 1481 fand in Sevilla das erste Autodafé in Spanien statt, ein Schauprozess mit der anschließenden Verbrennung vermeintlicher Ketzer, vor allem neuer Christen, denen unterstellt wurde, insgeheim weiterhin ihr Judentum oder ihren Islam zu praktizieren. Rund 9.000 solcher Autodafés sollten noch folgen, auch in Lateinamerika. Am 31. Juli 1826 gab es in Valencia ein letztes Todesurteil der Inquisition. Am 15. Juli 1834 hatte die Inquisition in Spanien ihr Ende, nach über 350 Jahren. Mehr dazu sollten wir dann noch in Córdoba erfahren.
Die Sonne schien vom blauen Himmel und wir genossen die letzten Stunden in Sevilla bei einem vorzüglichen Mittagessen in einem der vielen Restaurants. Um 15 Uhr trafen wir uns wieder am Bus und auf ging es Richtung Córdoba.
Dritte Station der Reise war also Córdoba, wie viele Städte Andalusiens seit dem Anfang des 8. Jahrhunderts muslimisch regiert und geprägt – und im 10. Jahrhundert eine der größten Städte der Welt. Lange lebten hier Moslems, Christen und Juden friedlich zusammen. Die 1315 erbaute Synagoge ist eines der ältesten Bauwerke ganz Andalusiens. Wie spiegelt sich diese besondere Geschichte in der Stadt?
Die Geschichte Cordóbas begegnete uns unmittelbar nach der Ankunft. Unser Busfahrer ließ uns auf der Südseite der Stadt, jenseits des Guadalquivir, aussteigen. Gegenüber auf dem Hügel am anderen Ufer thront unübersehbar die gewaltige ehemalige Moschee, die heutige Kathedrale Mezquita. Neben der Alhambra wohl das großartigste Denkmal islamischer Baukunst auf westeuropäischem Boden. Um dorthin und zu unserem Hotel zu gelangen, mussten wir den Fluss auf der römischen Brücke überquerten. Auch das ist bereits ein Stück Geschichte.
Nach dem Check-In im Hotel Eurostars Maimónides machten wir uns auf den Weg zur Universität, wo uns Professor Enrique Soria Mesa vom Laboratorio de Estudios Judeoconversos erwartete. Sein Vortrag „LA INQUISICÍON ESPANOLA“ befasste sich mit der Unterdrückung der jüdischen und muslimischen Konvertiten, der Conversos und Moriscos, nach dem Ende der Reconquista, d.h. der Rückeroberung Andalusiens durch die Reyes Católicos, die Katholischen Könige, also das Paar Isabella I. von Kastilien und König Ferdinand II. von Aragón im Jahr 1492.
Die Inquisition begann bereits im Jahr 1480 und richtete sich ausschließlich gegen „schlechte Christen“. Als solche wurden zunächst die Juden angesehen, die in großer Zahl zwischen 1391 und 1492 vom Judentum zum Christentum übergetreten waren. Die zweite Phase der Inquisition, die geschaffen wurde, um die jüdische „Häresie“ zu vernichten, richtete sich nun auch gegen die Mauren. Für beide Gruppen gab es nur die Alternativen Tod oder Vertreibung. Die Idee der Convivencia war im wahrsten Sinne des Wortes gestorben. Wer weiß heute schon, dass zwischen 1609 und 1611 die letzten 275.000 Morisken aus Spanien vertrieben wurden?
Nach diesem ernsten Thema hatte Haim für uns ein Abendessen im Restaurante Cazuela de la Espartería im Herzen des historischen Zentrums bestellt. Mit einem Querschnitt traditioneller Speisen aus der Küche Córdobas fand der Abend ein schönes Ende.
Was war noch interessant für Sie in Córdoba, und was haben Sie besucht?
Córdoba war insofern interessant, als Rabbi Haim dort geboren ist. Er hat sein Jurastudium in Sevilla abgeschlossen, jedoch nie als Jurist gearbeitet. Vielmehr hat er sich seinem sefardischen Erbe gewidmet. Sein Großvater weckte in ihm die Liebe für die Geschichte des jüdischen Viertels von Córdoba, das wir am nächsten Morgen besichtigten.
Ursprünglich das Gebiet in spanischen Städten, wo die Juden per Gesetz leben mussten, wurde die jüdische Bevölkerung spätestens nach dem Alhambra-Edikt von 1492 zur Konversion gezwungen oder vertrieben. Wie in den anderen von uns besichtigten Städten ist die Juderia heute vor allem für Touristen interessant. Die Viertel sind sehr gepflegt, es gibt schöne Geschäfte, zum Teil auch Handwerksbetriebe und Restaurants. Ein Jude, der etwa durch Kippa oder Haartracht als solcher zu erkennen wäre, ist mir nicht begegnet.
Aufgefallen ist uns in diesem Zusammenhang ein Hotel mit dem Namen La Llave de la Juderia. Der außen angebrachte große Schlüssel symbolisiert das Verhalten der Juden, die aus ihren Häusern vertrieben wurden. Sie sperrten die Tür zu und nahmen den Schlüssel mit, in der Erwartung, irgendwann zurückkehren zu können. Offiziell leben in Spanien heute ca. 40.000 Juden, hauptsächlich in Barcelona und Madrid. Der Großteil von ihnen stammt aus dem Maghreb.
Schon in jungen Jahren hat Haim sich an der Gründung des Jüdischen Museums, der Casa de Sefarad, beteiligt. Es liegt inmitten der Juderia und präsentiert in sechs Sälen die Themen Lauf des Lebens, Synagoge, Inquisition, die Frauen von al-Andalus, jüdische Feste, das jüdische Viertel von Córdoba, sephardische Musik und den jüdischen Philosophen Maimónides. Er wird uns später noch begegnen.
Ein Highlight war der Workshop, den Haims Freund Alex im Museum vorbereitet hatte. Mit herausragender Singstimme präsentierte er zum Teil mehrsprachig Ladino-Lieder und auch Angelo Branduardis Lied Alla fiera dell’est. Was auf den ersten Blick wie ein Kinderlied daherkommt, entstammt dem jiddischen Passahlied Chad gadja. Ein Text, der beim Osteressen rezitiert wird. Die zehn Strophen des Liedes erzählen die Geschichte nicht von einer kleinen Maus, sondern von einem Kind, das an das Osterlamm erinnert, mit dessen Blut die Israeliten ihre Türen gebrandmarkt haben, um sich vor der Ausrottung des Erstgeborenen in Ägypten zu retten.
Und wir trafen in der Casa de Sefarad auch auf Heinrich Heine und dessen oft zitierten Satz: „Dort, wo man Bücher verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen“. Er hat das 1823 in seinem Drama „Almansor“ formuliert, das um 1500 in Granada spielt, und sich darauf bezogen, dass der Erzbischof von Toledo 1499 5.000 Exemplare des Koran verbrennen ließ. Das gibt zu denken.
Auf dem weiteren Spaziergang durch das Viertel besuchten wir die erwähnte Synagoge. Sie ist die Einzige, die nach der Vertreibung der Juden im Jahr 1492 in Andalusien erhalten geblieben ist, und sie ist eine von nur drei historischen Synagogen in Spanien überhaupt, die anderen beiden stehen in Toledo. Im Laufe der Jahrhunderte ist sie eingestürzt, seit 1885 wird sie restauriert. Weitere Denkmäler im Viertel erinnern an den berühmten Augenarzt Muhammadal-Ghafiqi, der im 12. Jahrhundert wirkte, und natürlich an Maimonides, an dem man in Córdoba nicht vorbeikommt. Auch unser Hotel ist nach ihm benannt.
Moses ben Maimon, Maimonides, wurde wie gesagt 1135 in Cordoba geboren und starb 1204 in Kairo. Er war Philosoph, Theologe und Arzt und hat unter anderem die Ikkarim formuliert, die 13 Glaubenssätze des Judentums, und zwar nach dem Beispiel des muslimischen Glaubensbekenntnisses – wohl, um die jüdische Lehre der muslimischen Mehrheitsgesellschaft mit einem vertrauten Format, einer vertrauten Formel, zu erklären.
Seine Bronzefigur ruht auf einem hohen Sockel und man muss sich sehr strecken, um seinen Bart zu berühren. Gelingt das aber, vielleicht auch mit einer kleinen Hilfestellung, so ist die Rückkehr nach Córdoba und ewiges Glück gesichert, heißt es.
Etwas außerhalb der Stadtmauer steht das Denkmal des römischen Philosophen Seneca, der im Jahre 1 u.Z. in Córdoba geboren wurde, und sich, nicht ganz freiwillig, auf Wunsch Kaiser Neros im Jahre 65 das Leben nehmen musste.
Sie haben noch nichts von der Mezquita erzählt …
Was soll ich dazu sagen? Ein gigantisches Bauwerk mit einer Grundfläche von mehr als 23.000 Quadratmetern; ursprünglich von dem aus Damaskus geflohenen Omayadenprinz Abd ar-Rahman I ab 785 erbaut und 833 unter der Herrschaft von Abd-al Rahman II erweitert. Ehemals Hauptmoschee des westlichen Islams, und nur vergleichbar mit den großen Moscheen in Istanbul, Mekka und Damaskus. Man kann es nicht beschreiben, man muss es gesehen haben. Die Geschichte der Entstehung und der Umbauten ist unerschöpflich.
Nach dem Ende der Reconquista 1492 und der Rückkehr der Christen blieb der riesige Sakralbau zunächst unverändert. Erst unter Karl V. wurde, gegen den Stadtrat von Córdoba, beschlossen, mitten in der Moschee eine christliche Kathedrale zu errichten. Große Teile der Moschee wurden dabei zerstört. Seither werden in der „Kathedral-Moschee“ katholische Messen gefeiert. Demnach verkörpert die Mezquita auch heute noch in gewisser Weise die Idee der Convivencia und zeugt von der Vielschichtigkeit ihrer Geschichte.
Damit fand dann der Besuch in Córdoba seinen Abschluss?
Nicht ganz. Es war Freitagabend und Rabbi Haim wollte mit uns im Rahmen eines interreligiösen Treffens die Kabbalat Schabbat begehen. Mit dieser Zeremonie begrüßen Jüdinnen und Juden am Freitagabend ihren Ruhetag. Die Feier beginnt genau bei Sonnenuntergang. Auf der Dachterrasse der Casa de la Concha, einem kulturellen Zentrum mit schönem Innenhof und Kapelle, sahen wir dem richtigen Zeitpunkt entgegen. Die Zeit wurde genutzt, um von dort oben Erinnerungsfotos mit der Mezquita im Hintergrund zu schießen.
Zur KabbalatSchabbat in der Kapelle waren wir dann zusammen mit einigen älteren Gläubigen aus dem Viertel. Rabbi Haim gestaltete eine würdevolle Feier, von einigen Teilnehmenden wurden Gebete und Botschaften ihrer jeweiligen Religion vorgetragen. Vorher hatten wir von den muslimischen Studierenden gehört, wie sie den Freitag als Fest- und Ruhetag begreifen und begehen. Der lange Tag endete danach mit dem traditionellen Schabbat-Abendessen im jüdischen Restaurant Casa Mazal. Der Rabbi ließ es sich nicht nehmen, mittendrin aufzustehen und aus seinem Gesangbuch ein Gebet vorzusingen.
Zum Abschluss der Reise ging es nach Málaga, ebenfalls seit Beginn des 8. Jahrhunderts maurisch regiert und bis Ende des 15. Jahrhunderts ein Ort, an dem Moslems, Christen und Juden gemeinsam lebten. Was haben Sie vor Ort gemacht/besucht?
Málaga wurde vor 3.000 Jahren von den Phöniziern gegründet. Die Stadt zählt zu den ältesten Europas. Auf dem Autobahnschild war in arabischer Schrift zu lesen: الجزيرة الخضراء - Grüne Insel.
In der Tat gehört Málaga neben Sevilla zu den Städten, die sich bereists 2018 auf dem „Málaga Greencities Forum“ dem Ziel verpflichteten, die Inklusion zu fördern, Ressourcen effizient zu nutzen, sich dem Klimawandel anzupassen und gegenüber Naturkatastrophen widerstandsfähig zu werden.
Insoweit fielen uns zunächst die unter Platanenalleen angelegten, breiten und leuchtend rot asphaltierten Radwege auf. Absolut vorbildlich. Allerdings steht die kaum wahrnehmbare Präsenz von Radfahrern im Straßenbild dazu in einem gewissen Widerspruch. Wir konnten uns dort gemütlich aufhalten, ohne weggeklingelt zu werden.
Auf unserem Weg vom Hotel in die Altstadt besuchten wir das Denkmal von Salomon Ibn Gabirol. Er wurde um 1021 in Málaga geboren und verstarb um 1058 in Valencia. Er war einer der bekanntesten jüdischen Gelehrten des spanischen Mittelalters, dessen hebräische Lyrik auch Eingang ins jüdische Gebetbuch fand. Sein philosophisches Werk verselbstständigte sich und wurde für so wichtig befunden, dass man den Autor bis zum 19. Jahrhundert quasi selbstverständlich als Christen erachtete … Der Streit mit seinen Glaubensgenossen endete so wie später bei Spinoza mit der Ausrufung eines Cherem – eines Banns – und seinem Ausschluss aus der jüdischen Gemeinde von Saragossa (1045), von wo aus er sich erneut ins Exil begab. Sein Lehrbuch „Die Quelle des Lebens“ gilt seit jeher als ein wichtiges Nachschlagewerk der christlichen Philosophie. Ein schönes Beispiel für geistige Wechselbeziehungen!
An diesem Punkt verabschiedete sich Haim am späten Nachmittag von uns. Wir sind ihm dankbar für seine inspirierende Begleitung und all die Erlebnisse, die er uns vermittelt hat. Erfahrungen, die der „normale“ Tourist so nicht gemacht hätte.
Der Rest des Tages stand uns zur freien Verfügung. Einige besichtigten die Kathedrale, andere ließen sich durch die Stadt treiben oder wollten das Meer sehen. Ich selbst schloss mich einer kleinen Gruppe an, die das Teatro romano, das römische Theater, und die Alcazaba besichtigen wollte. Der Weg hoch auf die über dem Hafen und der Altstadt thronende Burg der maurischen Herrscher war anspruchsvoll. Schwieriger noch gestaltete sich der Weg hinauf zur benachbarten Festung Castillo de Gibralfero, die wir wegen unseres Kombitickets auch noch sehen wollten. Leider hatte uns niemand gesagt, dass letzter Einlass um 17.15 Uhr war. Jegliche Verhandlung war zwecklos. Bei unserer Ankunft um 17.30 Uhr waren die resoluten Damen am Eingang durch keinerlei Charmeoffensive zu bewegen, uns noch einzulassen. Durchgeschwitzt genossen wir immerhin von oben die schöne Aussicht über die Altstadt, die Stierkampfarena und den Hafen.
Am Ende erreichten wir dann auch noch das Meer und waren erstaunt über die putzigen Mönchssittiche, die dort in großer Zahl die Parkanlagen bevölkern. Des eine Freud ist bekanntlich des anderen Leid. Und so hörten wir, dass die Vögel Nachkommen von entflogenen oder ausgesetzten Käfigtieren sind und in vielen spanischen Städten zur „Plage“ geworden sind.
Und dann begann tatsächlich an diesem Abend in Málaga der Carnaval! Straßenmusik, Plätze voller Menschen und überfüllte Bars. Mit Müh und Not fanden wir einen Tisch, an dem wir den letzten Tag ausklingen lassen konnten.
Was nehmen Sie als Student der Jüdischen Theologie von dieser Reise mit?
Persönlich bin ich dankbar, dass ich an dieser Reise teilnehmen durfte. Dankbar denjenigen, die organisatorisch dafür gesorgt haben, dass alles so unkompliziert und erfolgreich abgelaufen ist. Dankbar bin ich vor allem auch für die persönlichen Kontakte und Begegnungen, die während der Reise entstanden sind.
Unser grundsätzliches Fazit war: Bildung und Wissenschaft sind wesentlich für die Verständigung der Religionen. Denn durch das Verstehen der eigenen religiös-kulturellen Wurzeln wird das Verständnis für andere Religionen erst möglich. Daran müssen wir uns vermehrt erinnern. Religiöse Bildung fördert Toleranz und schützt davor, die eigenen Überzeugungen absolut zu setzen. Sie schafft damit Voraussetzungen für Dialog.
Deutschland befand sich zur Zeit unserer Reise in der Endphase des Bundestagswahlkampfs. Die Parteien überboten sich darin, das Thema Migration als Problem so in den Mittelpunkt zu stellen, als gäbe es nichts anderes mehr. Wir waren in Andalusien unterwegs in einer Gruppe, deren Mitglieder verschiedenen Religionen angehörten, aus unterschiedlichen Ländern und Kulturen stammten und von denen einige über Fluchterfahrung berichteten. Das ändert die Perspektive, lässt vieles mit etwas Abstand anders erscheinen und macht Mut, sich für mehr „Convivencia“ auch bei uns einzusetzen, für Zusammenhalt in unserer brüchigen Gesellschaft.
Für das Studium nehme ich mit, dass Glaubenskriege leider bis heute Realität in dieser Welt sind. Diese werden nicht nur militärisch ausgetragen, sondern finden auch auf dem Feld der Wissenschaft statt. Denken wir nur an die „Aufarbeitung“ der Coronakrise. Es betrifft aber auch die heutige Sicht auf die Convivencia. Während die einen die Phase des friedlichen Zusammenlebens von Muslimen, Juden und Christen auf der iberischen Halbinsel für einen Mythos halten, werten andere diese Epoche als Paradebeispiel eines Zusammenlebens der Kulturen, das Kunst, Wissenschaft und Architektur befruchtet hat.
Aus meiner Sicht erscheint diese Form der Durchführung von Seminaren mit eingeschlossener Exkursion sehr effizient. Die Teilnehmenden lernen sich hierbei besser kennen als während der kurzzeitigen Anwesenheit im Seminarraum. Es kommt zu Interaktion, zur Diskussion, zu Austausch und zu persönlichen Erfahrungen, auch über Selbst- und Fremdbilder, religiöse Praxen und über unser Miteinander. Die Auseinandersetzung vor Ort im Umgang mit dem Lernstoff sowie die Einordnung in den realen Kontext führt zu einer erweiterten Sicht auf die Dinge. Nicht zuletzt macht eine Exkursion auch Spaß und bleibt in Erinnerung. Und es gilt der Leo Baeck Foundation zu danken, die dieses wegweisende Projekt finanziell unterstützt hat. Die letzte programmatische Rede von Rabbiner Leo Baeck 1956 galt dem Zusammenwirken von Judentum, Christentum und Islam. Das passt und macht hoffentlich Schule!
Der Autor dieses Reiseberichts, Bernd Malzanini, ist Jurist. Nach dem Studium in Saarbrücken arbeitete er als Rechtsanwalt, danach im Bereich der Medienregulierung. Von 1996 bis 2021 war er Geschäftsführer der Kommission zur Konzentration im Medienbereich (KEK). 2016 gründete er den Freundeskreis Potsdam-Perugia. Seit sieben Semestern ist er Gasthörer an der Universität Potsdam.