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Hangabwärts – Umweltwissenschaftler erforschen, wie Naturkatastrophen durch menschliche Einflüsse wahrscheinlicher werden

Blick von einem höher liegenden Punkt auf eine Stadt an einem See zwischen Bergen
Blick auf Häuser, die am Hang gebaut sind
Blick auf einen kleineren älteren Hangrutsch, der eine Stützmauer at abstürzen lassen
Wissenschaftler Dr. Ugur Öztürk steht am Ufer eines Flusses
Foto : Dr. Ugur Öztürk
Blick auf Nainital am Naini-See
Foto : Dr. Ugur Öztürk
Nainital ist in die umliegenden steilen Hänge hineingewachsen.
Foto : Dr. Ugur Öztürk
Ein alter kleiner Erdrutsch, der ein Haus zerstört hat, aber jetzt bereits abgedeckt ist.
Foto : Prof. Dr. Ankit Agarwal
Dr. Ugur Öztürk

Irgendwo im indischen Teil des Himalaya: Schmale Straßen schlängeln sich an steilen Hängen entlang, schneiden fast verspielte Linien ins schroffe Gestein. In oft monatelanger Schwerstarbeit wurden diese wichtigen Netzwerke geschaffen, die weit verstreute Städte und Siedlungen miteinander verbinden. Über Stunden quälen sich lange Autokolonnen in nicht selten halsbrecherischer Gefahr auf diesen Straßen durchs Hochgebirge: Busse, Lastwagen, überfüllte PKW – alles, was hier von Stadt zu Stadt will oder soll, rollt über diese staubigen, meist unbefestigten Pisten. Diese Lebensadern sind überaus fragil und werden – wie auch Städte, Wasserkraftwerke und andere Infrastruktur – immer wieder durch Steinschläge, Erdrutsche oder Sturzfluten beschädigt oder gar zerstört. Im Zuge des Klimawandels nimmt die Zahl dieser Extremereignisse ebenso zu wie ihre Zerstörungskraft. Nirgendwo zeigt sich dies so eindrucksvoll wie im Himalaya, dessen Hänge steiler und die Naturkräfte größer sind als in den meisten anderen Gebirgsformationen der Welt. Deshalb finden sich im Oktober 2024 unter den vielen Autos auf einer der staubigen Pisten auch zwei Kleinbusse mit Forschenden der Universität Potsdam und des Indian Institute of Technology Roorkee (IITR). Ihr Ziel: Gegenden und Orte, die in den vergangenen Monaten und Jahren besonders von solchen Naturereignissen betroffen waren und in denen sie sich am besten erforschen lassen.

Mit dabei ist Dr. Ugur Öztürk vom Institut für Umweltwissenschaften und Geographie, der sich v.a. für Erdrutsche interessiert. „Ich habe schon in vielen Gebirgen u.a. in Japan und Zentralasien geforscht“, sagt der Wissenschaftler. „Aber der Himalaya ist höher, schroffer, steiler und in vielerlei Hinsicht extrem.“ Für Erdrutsche gilt die einfache Formel: Je steiler der Hang, desto größer die Kräfte, die gewaltige Erd- und Geröllmassen in Bewegung setzen können. Wenn Niederschläge in den Boden eindringen, lösen sich bislang gebundene Erdschichten voneinander und die oberen Schichten geraten ins Rutschen. Sind große Flächen betroffen, können sich ganze Hänge oder Bergteile lösen – und Häuser, Straßen oder ganze Ortschaften unter sich begraben.

„Das Terrain im Himalaya begünstigt Erdrutsche, keine Frage“, sagt Öztürk. „Gleichzeitig machen die Eingriffe des Menschen in die Landschaft solche Extremereignisse wahrscheinlicher.“ Durch die tief in die Berge geschnittenen Straßen werden die Hänge instabil. Und diese Gefahr wächst: Mit dem Klimawandel werden Starkregen häufiger. Außerdem graben sich die Menschen immer tiefer in das größte Bergmassiv der Erde. Dies gilt nicht nur für Straßen, auch viele Ortschaften wachsen – häufig in Tälern zwischen Gipfeln – gefährlich nah an gefährdete Hänge heran oder gar auf ihnen. Eine solche Stadt ist Nainital, eine Kleinstadt mit rund 40.000 Einwohnern im indischen Bundesstaat Uttarakhand. Sie liegt in einer Höhe von über 2000 Metern, umgeben von mehreren Berggipfeln und am Ufer des Nainital Lake. Der beliebte Urlaubs- und Pilgerort wächst immer weiter in die umliegenden Hänge hinein. Einige von ihnen rutschen aktuell sogar, wenn auch langsam – ab. Tatsächlich ist der mehr oder weniger „wilde Zuwachs“ der Stadt gefährlich, wie der Forscher erklärt. „Die Stadt ist mehr oder weniger komplett versiegelt. Sogar die wenigen Bäume sind einbetoniert.“ Dadurch gelangen Niederschläge nur an wenigen Stellen in den Boden, der dort schnell „überlastet“ ist. Für Ugur Öztürk ein musterhaftes „Feldlabor“, mit dessen Hilfe sich detailliert zeigen lässt, wie der menschliche Einfluss Naturextreme wie Erdrutsche mitverursacht. „Wir wollen am Beispiel von Nainital ein Modell entwickeln, das menschliche Eingriffe berücksichtigt.“ Damit wären dann beispielsweise auch Vorhersagen für Regionen möglich, die noch nicht erschlossen sind.

„Wir sind mit einer kleinen Gruppe von Forschenden nach Nainital gefahren, um uns die Lage vor Ort einmal genau anzusehen“, erklärt der Wissenschaftler. „Und, um zu untersuchen, wie die Menschen die Gefahren wahrnehmen und wie sie mit ihnen umgehen.“ Dank der engen Zusammenarbeit der Potsdamer Umweltwissenschaftler mit Forschenden des IITR, wie z.B. Prof. Roopam Shukla, können sie auf lokales Know-how zurückgreifen und leichter mit den Einheimischen ins Gespräch kommen. „Wir haben uns in drei gemischte deutsch-indische Gruppen aufgeteilt und verschiedene Gegenden der Stadt besucht“, erklärt Ugur Öztürk das Vorgehen. Mithilfe eines strukturierten Fragebogens wurden Bewohnerinnen und Bewohner befragt: Ist ihnen die Gefahr von Erdrutschen bewusst? Sind sie deswegen besorgt? Wie bereiten sie sich und ihre Häuser – etwa mit verstärkten Wänden, Drainage- und Abwassersystemen – auf ein solches Ereignis vor? „Tatsächlich fühlen sich die Menschen dort aktuell sicher“, so Öztürk. Folglich treffe auch kaum jemand Vorkehrungen. Dies müsse man ändern, findet er, denn die Gefahr größerer Erdrutsche sei in Nainital real. Mit dem komplexen Modell, das die Forschenden auf Grundlage ihrer Daten erstellen wollen, ließe sich das zeigen – und hoffentlich darauf reagieren, ehe es zu verheerenden Katastrophen kommt.

Ugur Öztürk ist es wichtig, Erkenntnisse zu gewinnen, die sich zur Gefahrenabschätzung in städtischen Regionen weltweit anwenden lassen. Dafür hat er einen ERC Grant eingeworben, der es ihm erlaubt, in den kommenden Jahren Orte wie Nainital auf mehreren Kontinenten zu untersuchen, etwa in Burundi und im Kongo, in Kolumbien und in Indien. „Bislang wurden Erdrutsche meist als Naturphänomene angesehen und auch so untersucht“, erklärt er. „Ich will sie in urbanen Räumen erforschen, denn letztlich machen Eingriffe des Menschen in die Natur sie auch zu einem sozialen Phänomen.“

 

Mehr zum deutsch-indischen Forschungsprojekt CoPREPARE: https://www.uni-potsdam.de/de/umwelt/forschung/ag-hydrologie-und-klimatologie/forschungsprojekte/co-prepare

Das Reisetagebuch der deutsch-indischen Forschungsgruppe im Himalaya: https://www.uni-potsdam.de/de/up-entdecken/upaktuell/up-unterwegs-reisetagebuecher/indien-2024