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33 Fragen an Maja Linke, Professorin für Künstlerische Praxis mit dem Schwerpunkt Malerei/Grafik

Maja Linke in ihrem Büro.
Foto : Ernst Kaczynski
Maja Linke ist seit 2023 Professorin für künstlerische Praxis mit dem Schwerpunkt Malerei/Grafik an der Universität Potsdam.

Inwiefern ist das Fragenstellen ein emanzipatorischer Akt? Und was hat das Antworten mit Verantwortung zu tun? Lässt sich künstlerisch forschen und forschend Kunst schaffen? Ja, sagt Maja Linke, die als Wissenschaftlerin und Bildende Künstlerin beide Perspektiven einnimmt. Seit 2023 ist sie Professorin für Künstlerische Praxis mit dem Schwerpunkt Malerei und Grafik an der Universität Potsdam und bildet Lehramtsstudierende für das Fach Kunst aus.

1. Was verstehen Sie unter einer Frage?

Ein Innehalten, ein Auffordern, Erkunden, Erspüren, ein Verschieben von Grenzen, aber auch eine Ausrede, ein Flüchten, eine Provokation oder Kritik. Vor allem aber eine Möglichkeit, den Monolog des Urteils zu unterbrechen.

2. Aus künstlerischer oder aus wissenschaftlicher Perspektive?

Als Modus der Kritik und des Denkens verbindet sie beide Perspektiven.

3. Kann man künstlerisch forschen, forschend Kunst schaffen?

Ja, auch wenn das nicht automatisch zu einer Antwort oder einem Kunstwerk führen muss.

4. In Ihrer 2013 veröffentlichten Dissertation haben sie interrogativ, also fragend, verletzendes Sprechen und Kritik untersucht. Warum?

Ursprünglich wollte ich eine wissenschaftliche Theorie kritischer Handlungsfähigkeit in Bezug auf Sprache und Gewalt entwickeln. Beim Lesen der damals aktuellen Arbeiten zu verletzendem Sprechen ergaben sich dann aber zu jeder These, zu jedem Begriff, zu jeder Antwort immer wieder neue Fragen.

5. Zum Beispiel?

Ist Schweigen auch eine Form des Sprechens? Ist die Stimme Teil des Körpers? Können wir außerhalb von Kategorisierungen denken, können wir innerhalb von ihnen wahrnehmen? Wie lange dauern Kontexte eigentlich und wo beginnen sie?

6. Worin bestand das Problem?

Ich merkte, dass ich diesen Themenkomplex nur fragend umkreisen kann und die Frage selbst eine Form der Kritik ist. Aus einer Frage folgte die nächste, jede Kategorisierung, Benennung, Beweisführung erschien mir fragwürdig. Auf inhaltlicher, aber auch auf rhythmischer und vor allem auf visueller Ebene.

7. Welche Lösung haben Sie gefunden?

Ich schuf unter anderem eine Choreografie aus insgesamt 943 Fragen. Als Monotypien, als Ölzeichnungen, in einem Raum neben- und übereinander gehängt, verweigern sie jede lineare Lesbarkeit.

8. Mit welchem Effekt?

Man muss sich mit dem eigenen Körper annähern und die Leserichtungen im Raum selbst bestimmen. Es stellt sich schnell eine Überforderung ein – aber darum geht es eben auch: Ich wollte verletzendes Sprechen nicht mehr benennen und beweisen, sondern das Wahrnehmen und Begegnen in den Vordergrund rücken.

9. Ihre Dissertation ist auf diese Weise zu einem Kunstwerk geworden. Wie und wo ist so etwas möglich?

Ich habe am Bauhaus in Weimar promoviert, die erste Uni in Deutschland, die das im Bereich „Freier Kunst“ ermöglichte. Das waren damals spannende Auseinandersetzungen, wie so eine Promotion aussehen könnte, inhaltlich und formal.

10. Die Arbeit trägt die Überschrift „Von WIR und IHR zum WIHR“. Was verbirgt sich dahinter?

Ich fragte, ob und wie es ein WIHR geben kann – also ein WIR, welches das IHR immer schon beinhaltet. Dieses WIHR habe ich heute noch im Kopf, würde es nun aber ebenso auf nichtmenschliche Wesen und vielleicht auch Nicht-Wesen erweitern. Zu einem GEO CUM vielleicht, das ist aber noch im Gange.

11. Wenn das Kunstwerk ausgestellt wird, sind die 943 Fragen zugleich sicht- und hörbar. Warum?

Beim Lesen und Hören vernetzen sie sich miteinander und wirken nochmal ganz anders als auf bildlicher und räumlicher Ebene. In Lecture-Performances kommen dann alle Ebenen zusammen.

12. Sie bezeichnen das Stellen von Fragen als emanzipatorischen Akt. Inwiefern ist das so?

Es ist nicht immer und nicht für alle einfach oder überhaupt möglich, Fragen so zu stellen, dass sie gehört werden. Überhaupt etwas in Frage zu stellen, zunächst ganz für sich allein, kann ermächtigend sein, eine Form kritischer Handlungsfähigkeit.

13. Wenn Sie über „Verantwortung“ sprechen, betonen sie die „Antwort“, die darin sprachlich enthalten ist. Warum?

Mir ist wichtig, einer Antwort mit Verantwortung zu begegnen und redlich mit ihr umzugehen. Im Gespräch zu bleiben, statt es mit einer Antwort zu beenden, wäre schon mal nicht schlecht.

14. Woran arbeiten sie aktuell?

Ich feile, theoretisch und praktisch, an verschiedenen Konzepten, etwa zur Kunstpraxis als spekulative Reflexion, zu einer Theorie der „aisthetischen Unfügsamkeit“ oder dazu, Verantwortung als einen Affekt zu verstehen, für den man sich sensibilisieren kann. Aber auch zum Zusammenhang von künstlerischem Forschen und emanzipatorischer Lehre, insbesondere angesichts der Klimakatastrophe.

15. Sehen Sie sich eher als Wissenschaftlerin oder als Künstlerin?

Ich gehe beiden Tätigkeiten nach, doch oftmals verschmelzen sie miteinander oder lassen sich vorab gar nicht trennen. Der Kunst zugeordnet kann ich sicherlich „undisziplinierter“ forschen und Themen und Arbeitsweisen, die erst einmal nichts miteinander zu verbinden scheint, zu neuen Konstellationen zusammenführen.

16. Wie beeinflusst Ihr wissenschaftliches Denken das künstlerische?

Das Denken selbst setzt sich meines Erachtens über Disziplinierungen hinweg. Der Maler Gerhard Richter formuliert es so: „Malen ist ja eine andere Form des Denkens“, also eben auch ein Denken, ein materielles. Nehme ich aber diese Genre-Trennungen an, dann wäre der Wunsch nach Vollständigkeit und Überprüfbarkeit sowie das Arbeiten mit linearen Schreibweisen etwas „klassisch Wissenschaftliches“.

17. Und umgekehrt?

Einem Gespür folgen, ohne zu wissen, wohin das führen könnte. Assoziationen ernst nehmen, ohne ein vorab formuliertes Ziel. Ich würde Gerhard Richter umwenden: „Denken ist ja eine andere Form des Malens.“ Also ein Umgehen mit dem, was sich schon zeigt, ein Öffnen der Form, das Zeigen selbst zeigen und so zu einer neuen Oberfläche, einem neuen Bild kommen, das sich immer weiterführen lässt.

18. Welche Rolle spielen dabei Intuition und Empfinden?

Die Kontrolle verlieren, ohne die Verantwortung abzugeben. Sich öffnen für das Noch-nicht-Gedachte. Intuition und Empfinden sind nicht nur „der Kunst“ vorbehalten. Mich interessieren die Arbeitsweisen, die etwas Denk- und Fragwürdiges nicht vorschnell auf einen Forschungsgegenstand zurechtstutzen, die vielmehr sorgsam mit Fragestellungen umgehen, die das Unverfügbare nicht um jeden Preis objektivieren wollen und die berücksichtigen, dass Inhalt und Denken sich nicht von ihrer Form und Artikulation trennen lassen.

19. Als Professorin für Künstlerische Praxis bilden Sie Lehrkräfte für das Fach Kunst aus. Mit welcher Intention?

Ich will den Studierenden Kunstpraxis als ein Weltverstehen und -mitgestalten vermitteln und sie dafür begeistern. Kunst hat das Vermögen, kritisch auf drängende gesellschaftliche Fragen zu blicken, mit einem „Was-Wäre-Wenn“ und „Wie-Noch“ spekulativ weiterzuführen und Alternativen zu erproben. Und wenn Lehramtsstudierende dies an Kinder und Jugendliche weitergeben, dann können wir vielleicht doch hoffnungsvoller in unsere Zukunft schauen.

20. Warum ist es für den Lehrberuf wichtig, dass die Studierenden selbst künstlerisch arbeiten?

Weil sie dabei die Möglichkeiten von Kunst selbst erfahren und ein Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten ausbilden, um dann je eigene Projekte zu verfolgen. Sie erproben dafür zuerst mit Unbekanntem umzugehen, sich mit der Welt in Verbindung zu setzen und ihre Wahrnehmung kritisch zu erweitern.

21. Wie gelingt das?

Schon mit kleinen Perspektivwechseln: Versuchen Sie mal Ihre Unterschrift gespiegelt auf Papier zu bringen. Dann spüren Sie, wie Schrift, Bild und Bewegung zusammenhängen und welche Rolle Körperwissen und Erfahrung für unser Denken spielen. Solche Übungen erweitern das Bewusstsein für Prägungen und Konventionen, die es – auch in „der Wissenschaft“ – zu verlernen gilt.

22. Beziehen Sie Ihre Studierenden in Ihre künstlerischen Forschungen ein?

Ja, sie entwickeln eigene Zugänge zu den von mir vermittelten Themen und Arbeitsweisen, die ich dann in der Lehre wieder aufgreife. Zum Beispiel in meinem Kurs „Macht doch, was ihr wollt!“

23. Was passiert da? Ist der Name Programm?

Die Studierenden müssen sich auf Themen, auf künstlerisch forschende Arbeitsweisen, aber auch auf die Seminarstruktur als Ganzes und meine Rolle darin einigen. Dabei erproben wir gemeinsam, was Kunst ist und kann, wie emanzipatorische Lehre und künstlerisches Forschen zusammenhängen und wie Universität und Schule sein könnten. Lehre selbst wird so zu einem künstlerischen Projekt, an dem alle beteiligt sind.

24. Wie prüfen Sie Ihre Studierenden? Erwarten Sie Antworten? Oder Gegenfragen?

Ich erwarte tatsächlich Antworten. Und es ist mir wichtig, eine Atmosphäre zu schaffen, in der das Fragestellen möglich ist. Keine Frage ist es nicht wert, gestellt zu werden.

25. Und wie beurteilen Sie die Leistung?

Ich beurteile vor allem, wie involviert die Studierenden in den eigenen künstlerischen Prozess sind. Das zeigt sich ganz individuell und muss auch so betrachtet werden.

26. Sie werden nicht müde, den hohen Stellenwert der ästhetischen Bildung zu betonen. Wo sehen Sie den größten Handlungsbedarf?

Das Fach Kunst konkurriert mit anderen Fächern um Legitimation und Geltung. Stattdessen sollte sein wissensbildendes Potenzial für alle anderen Fächer endlich erkannt, stärker genutzt und wertgeschätzt werden. Das gilt natürlich auch für das Fach Musik.

27. Was müsste sich grundlegend ändern?

Dass es im Land Brandenburg nach vielen Jahren nun wieder den Studiengang Kunst auf Lehramt gibt, ist ein wichtiger Schritt. Doch die Wertschätzung muss steigen. Damit geht dann auch einher, Ressourcen zu stärken.

28. Auch hier an der Universität?

Ja, auch hier. Künstlerische Lehre – auch in der Musikpraxis – wird geringer gewertet als wissenschaftliche, was sich an der dreifachen Lehrverpflichtung zeigt. Generell ist aber schon viel passiert: Wir verfügen über neue Ateliers, unsere Ausstattung wächst und die Studierendenzahlen steigen. Wir sollten nicht in einem Gegeneinander konkurrieren.

29. Worauf kommt es künftig besonders an?

Kunst und Wissenschaft nicht in zwei scharf abgegrenzte Kategorien zu trennen. Die Anerkennung und Geltung sollten gleichwertig sein, die spezifischen Besonderheiten aber jeweils berücksichtigt werden. Von einem höheren Stellenwert hätten alle etwas – eine Gesellschaft ohne Kunst verarmt auf allen Ebenen, nicht zuletzt auf politischer.

30. Wie vermitteln Sie dies den Studierenden?

Indem sie Kunst als Diskursort erleben können, an dem wir uns ein Bild von der Welt machen, Weltbilder befragen und zu neuen Bildwelten kommen. Ich möchte zeigen, dass wir hier Wissen generieren, das in alle Bereiche hineinstrahlt. Dass Kunstpraxis als eine spekulative Reflexion und kritische Handlungsfähigkeit verstanden werden kann, die alle angeht.

31. Und wie kann das nach außen getragen werden?

Unsere Studierenden werden später in den Schulen grundlegend in die Gesellschaft hineinwirken und zukünftige Generationen prägen, daher kommt der Lehrkräftebildung eine enorme Verantwortung zu. Auch im Bereich der Kunstpädagogik, mit dem wir als Künstlerische Praxis eng verknüpft sind, passiert hier wirklich viel. Mit unseren Ausstellungen bringen wir uns zudem in gesellschaftliche Diskurse vor Ort ein, etwa im Potsdamer Rechenzentrum, wo wir ein eigenes Atelier unterhalten, im Waschhaus oder in Kooperation mit der Kammerakademie, aber auch mit überregionalen und internationalen Projekten.

32. Unlängst haben Sie auf dem Campus Golm eine erste Kunstschau veranstaltet. Folgen weitere?

Ich würde gern regelmäßig unsere Praxisräume für Ausstellungen öffnen und unsere Jahresschau, den „Rundgang“, auf den ganzen Campus ausweiten. Auch könnte man außerhalb der Vorlesungszeit Kunstprojekte für die Allgemeinheit anbieten, was allerdings zeit- und arbeitsaufwendig ist. Unser Team ist toll, aber klein.

33. Sehen Sie dennoch Ressourcen?

Es gibt vieles, was gemeinsam genutzt werden könnte: Werkstätten, Medienpools, Projektstrukturen und jede Menge Kompetenzen – auch außerhalb der Universität. Wir fangen gerade erst an, uns das Vorhandene zu erschließen und uns zu vernetzen. Ich hoffe, dass wir auch die personellen Ressourcen in Zukunft weiter ausbauen können.


Maja Linke ist seit 2023 Professorin für künstlerische Praxis mit dem Schwerpunkt Malerei/Grafik an der Universität Potsdam.

 

Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal - Zwei 2024 „Europa“ (PDF).