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„Narzissmus hat viele Gesichter“ – Dr. Ramzi Fatfouta über die unbekannten Seiten einer Persönlichkeitseigenschaft

Büste von David bewundert sich selbst in einem Spiegel auf einem rosa Hintergrund. Symbolische Darstellung von Narzissmus.
Portrait von Ramzi Fatfouta
Foto : AdobeStock/splitov27
Narzisstische Menschen schwanken sehr stark zwischen Höhenflügen und großer Empfindlichkeit gegenüber Kritik – ihr schwaches Selbstwertgefühl kompensieren sie mit einer übersteigerten Eitelkeit.
Foto : Ivo Wilhelm
Ramzi Fatfouta ist assoziierter Forscher an der Professur für Differentielle Psychologie und Diagnostik.

Wir alle streben danach, uns wertvoll und wichtig zu fühlen. Manche Menschen schwanken jedoch sehr stark zwischen Höhenflügen und großer Empfindlichkeit gegenüber Kritik – ihr schwaches Selbstwertgefühl kompensieren sie mit einer übersteigerten Eitelkeit. Im Umgang mit anderen Menschen kann das zu vielen Konflikten führen. Ramzi Fatfouta ist assoziierter Forscher an der Professur für Differentielle Psychologie und Diagnostik. Er hat sich an der Universität Potsdam zum Thema „Narcissism: forms, facets and features“ habilitiert. Der Psychologe coacht und berät Menschen, die insbesondere im Job mit narzisstischen Verhaltensweisen konfrontiert sind – sei es bei Kolleg*innen, sei es bei sich selbst – und hilft ihnen, im Alltag besser damit zurechtzukommen.

Narzissmus ist derzeit in aller Munde. Allerdings ist er sehr negativ besetzt. Tun wir Menschen damit Unrecht?

In der populären Betrachtung überwiegt eine Wahrnehmung: Narzissmus ist etwas, womit man am liebsten nichts zu tun haben möchte. Es bedeutet, egoistisch, anspruchsvoll, rechthaberisch oder arrogant zu sein – also zwischenmenschlich eher schwierig. Diese Seite gibt es definitiv. Aber die Wissenschaft zeigt auch, dass narzisstische Persönlichkeiten viele positive Eigenschaften haben wie Charisma, Innovationskraft, Neugierde oder die Fähigkeit, Menschen zu begeistern und sie mitzunehmen.

Zumal es weit verbreitet ist, sich selbst zu loben, schlecht über andere zu reden und sich im Recht zu sehen. Haben wir also alle narzisstische Züge?

Ich verfolge einen persönlichkeitspsychologischen Ansatz. Dem zufolge ist Narzissmus eine Persönlichkeitseigenschaft wie andere auch. Ungefähr 68 Prozent der Bevölkerung sind durchschnittlich narzisstisch. Auf der einen Seite von diesem Spektrum finden sich sehr zurückgezogene Menschen und auf der anderen Personen, die sehr stark narzisstisch sind. Es ist also ein Kontinuum, auf dem wir uns einordnen können. In der Populärkultur ist die kategoriale Betrachtung vorherrschend – also das Denken in klar abgegrenzten Schubladen –, denn solche Vereinfachungen machen unsere komplexe Welt verständlicher. Auch im klinisch-diagnostischen Bereich bekommt man Diagnosen wie eine Art Etikett. Ich bevorzuge dagegen eine dimensionale Perspektive.

Auf Ihrer Webseite zeigen Sie die unterschiedlichen Dimensionen des Narzissmus auf. Können Sie diese erläutern?

Wir unterscheiden in der Psychologie vier Facetten, denen das Streben danach gemeinsam ist, den Selbstwert hochzuhalten. Um dieses Ziel zu erreichen, greifen wir zu verschiedenen Mitteln. Eine Variante ist die Selbstdarstellung: Ich betone, wie schlau, leistungsbereit, erfahren oder attraktiv ich bin, um mich gut zu fühlen. Das wäre die agentische Dimension. In der antagonistischen Akzentuierung werten wir andere Menschen ab oder setzen uns durch Dominanz, Aggression oder den Anspruch auf Überlegenheit in Szene, um uns selbst aufzuwerten. In der dritten, der kommunalen Variante, geht es um Selbstdarstellung im Beziehungsbereich, etwa bei Freunden oder in der Familie. Ich zeige mich dann vielleicht als besonders hilfsbereit, kooperativ oder fürsorglich. Doch das Motiv ist entscheidend: Handle ich wirklich aus Altruismus oder weil ich mich selbst gut fühlen möchte? Die vierte Facette, die neurotische Dimension, betrifft Menschen, die insgeheim denken, dass sie mehr verdienen als andere, sich aber als Opfer darstellen: Sie versuchen durch ihr Leid Aufmerksamkeit zu bekommen.

Wann werden diese Verhaltensweisen zum Problem?

Immer dann, wenn ein Konflikt entsteht, der mittel- bis langfristig zu einem anhaltenden Leidensdruck führt. Das können etwa innere Leere, Gefühle der Entwertung, überwältigende Scham- oder Schuldgefühle sein. Bei der agentischen Facette muss das nicht unbedingt der Fall sein. Diese Menschen sind ziemlich versiert darin, auf soziale Beziehungen zu achten, weil sie der Motor für Aufmerksamkeit sind. Die antagonistische Dimension lässt dagegen sehr viele zwischenmenschliche Konflikte entstehen, und zwar durch harsche Kritik oder Abwertung. Das führt oft zu Kontaktabbrüchen oder akuten Krisen wie den Jobverlust, wodurch die narzisstische Person durchaus in Not geraten kann.

Sie coachen Unternehmen und Einzelpersonen zum Thema. Mit welchen Problemen kommen Menschen zu Ihnen?

Typisch sind Ressourcen- oder Verteilungskonflikte, zum Beispiel um die interessantesten Projekte innerhalb eines Teams. Wer bekommt sie – die fähigste oder die lauteste Person? Und dann gibt es ganz klassische Konflikte durch abwertendes Verhalten. Auch die Täter-Opfer-Umkehr ist eine typische Strategie. „Ich bin doch hier die leidtragende Person“, sagen narzisstische Menschen gern. Die Einsicht, dass sich Menschen von ihnen abwenden oder das Team nicht funktioniert, entsteht bei ihnen meist erst spät – oder gar nicht. Und sie können häufig andere Personen davon überzeugen, dass mit ihnen alles stimmt. Gerade Führungskräfte genießen in der Regel einen hohen Schutz innerhalb einer Organisation. Umgekehrt trauen sich Beschäftigte oft nicht, Unterstützung zu suchen und beispielsweise zum Betriebsrat oder zur Personalabteilung zu gehen.

Wie können Betroffene am Arbeitsplatz mit ihnen umgehen?

Im Rahmen der Psychoedukation empfehle ich immer, sich zuerst mit sich selbst zu befassen. Im Gespräch versuche ich herauszufinden, was der Kontakt zur narzisstischen Person bei den Betroffenen auslöst, was sie „triggert“, um ein weiteres Modewort zu verwenden. Oft stecken persönliche Erlebnisse oder Beziehungserfahrungen dahinter, die auf das Gegenüber projiziert werden. Es lohnt sich außerdem, das narzisstische Verhalten genau zu beschreiben. Dieses Verbalisieren gibt Kontrolle zurück, denn oft haben die Betroffenen ein diffuses Störgefühl. Da hilft es, sich Notizen zu machen und das Geschehene einzuordnen. Zum Beispiel: „Im Teammeeting hat die Führungskraft mich als ,inkompetent‘ bezeichnet, sodass ich mich bloßgestellt gefühlt habe und den Termin am liebsten verlassen hätte“. Ein anderer Tipp: Verbündete suchen! In der Regel stören sich auch andere im Team an dem Verhalten. Das schafft Entlastung. Wenn möglich, können Betroffene zudem Distanzierungstechniken verwenden und Meetings etwa nur noch virtuell wahrnehmen oder klare Zeitfenster für den Kontakt zu setzen und private Gespräche auf das Nötigste zu reduzieren. Als letzte Maßnahme kann es sogar sinnvoll sein, die Abteilung oder das Unternehmen zu wechseln.

Welche Rolle spielen Selbstwert und mangelnde Empathie?

In der populären Wahrnehmung gelten Narzissten als empathielos. Als Psychologe unterscheide ich jedoch affektive und kognitive Empathie. Eine narzisstische Persönlichkeit kann durchaus verstehen, was andere fühlen, denn die Perspektivenübernahme ist in der Regel durchschnittlich ausgebildet – das hilft ihr schließlich dabei, andere zu manipulieren. Doch sie kann es nicht nachfühlen und im Ausdruck vermitteln. Das nennt man „kalte Empathie“.

Welche Ursachen gibt es für Narzissmus?

Die Gene spielen eine große Rolle. Aber auch Erziehung ist wichtig. Der psychodynamische Ansatz geht davon aus, dass Narzissmus begünstigt wird, wenn Kinder zu wenig Aufmerksamkeit bekommen und einen kalten Erziehungsstil erfahren, bei dem ihre Bedürfnisse ignoriert werden. Aus der Erfahrung, unwichtig und wertlos zu sein, entwickeln sie Allmachtsfantasien, eine Gegenwelt, in der sie großartig sind. Andere sehen die Ursache darin, dass Kinder zu sehr im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen und alles bekommen, was sie wollen. Außerhalb der Familie, in Kita oder Schule, bleibt die Bestätigung aus und es entstehen Selbstzweifel, die durch Großspurigkeit oder den Wunsch nach Bewunderung ausgeglichen werden sollen. Beide Erklärungsansätze sind plausibel. Für die zweite Theorie gibt es mehr empirische Befunde, aber von Psychoanalytikern höre ich oft, dass der erste Ansatz eine sehr große Relevanz im therapeutischen Kontext hat.

Können sie sich denn ändern?

Narzissmus ist sicher nicht unheilbar, wie es oft heißt. Aber es braucht Zeit und Energie, und beides ist oft limitiert. Grundsätzlich ist Persönlichkeit etwas Stabiles. Heirat, die Geburt eines Kindes, Krisen, Krankheit oder Tod sind jedoch gravierende Ereignisse, die eine Persönlichkeit neu ausrichten können. Auch situativ sind kleine Veränderungen möglich, wenn beispielsweise durch Feedback von anderen eine Reflexion des eigenen Verhaltens angestoßen wird. Eine Person ist letzten Endes ja mehr als ihr Narzissmus: Da sind etwa Schüchternheit oder Gewissenhaftigkeit, da sind Werte, Normen usw.

Instagram, Trump und Musk: Wird unsere Gesellschaft immer egomaner?

In den USA wurde vor einigen Jahren die These aufgestellt, dass sich Narzissmus wie eine Epidemie verbreite. Eine neuere Untersuchung hat jedoch gezeigt, dass das Phänomen stabil bleibt und stellenweise eher zurückgeht. Doch wir leben in einer politisch bewegten Zeit: Auf kollektiver Ebene könnte er perspektivisch zunehmen, etwa, wenn sich Nationen überhöhen. Das individuelle Ego dürfte dagegen eher besonnener oder gedämpfter werden – so zumindest meine anekdotische Evidenz. Doch wir sollten unseren Blick weiten und nicht nur auf Donald Trump oder andere markante Figuren gucken. Hinter moralischen Überhöhungen zum Beispiel verbergen sich häufig narzisstische Motive, etwa wenn es heißt: „Wie kannst du denn nur Fleisch essen, das ist schlecht fürs Klima!“ Solche Aussagen sind in unserer Zeit sozial akzeptiert. Narzissmus hat viele Gesichter.