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Kippt die Welt nach rechts? – Wissenschaftskolleg IRGAC erforscht den Autoritarismus und Strategien dagegen

Brennende Buchstaben auf dem Boden, die das Wort "Democracy" bilden
Foto : AdobeStock/blueiz60
Weltweit werden Demokratien untergraben und angegriffen.

Die Welt ist in Gefahr. Doch es drohen nicht nur Klimakollaps und Biodiversitätskrise. Rund um den Globus sind reaktionäre nationalistische, religiöse, rassistische, klassistische und antifeministische Ideologien und Bewegungen (wieder) im Aufwind, während demokratische politische Systeme untergraben oder gar direkt angegriffen werden. Die „International Research Group on Authoritarianism and Counter-Strategies“ (IRGAC) untersucht die globalen Zusammenhänge von autoritärem Kapitalismus und reaktionärem Populismus und bringt Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen dazu ins Gespräch. Seit dem 1. Januar 2025 ist das Wissenschaftskolleg, eine Initiative der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Zusammenarbeit mit der Universität Potsdam und gefördert durch das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, an der Universität Potsdam angesiedelt. Matthias Zimmermann sprach mit dem Koordinator des Kollegs, Börries Nehe, Ph.D. über den Aufschwung des Autoritarismus, seine Erforschung und Gegenstrategien.

Weltweit wackeln Demokratien, autoritäre Politik boomt. Woran liegt das?

Darauf gibt es leider keine einfache Antwort, und das ist einer der Gründe, warum es uns als Gesellschaft so schwerfällt, darauf zu reagieren. Aber ein paar Aspekte, die gern übersehen werden, erscheinen mir bei der Suche nach Antworten und Auswegen wichtig.

Erstens sollten wir eine zeitlich längere und räumlich weitere Perspektive haben. Im öffentlichen Diskurs wird oft suggeriert, dass Autoritarismus in Europa und Nordamerika ein neues und „fremdes“ Phänomen sei – plötzlich eingeschleppt von rechtspopulistischen Akteuren. Und die Erklärungen dafür bleiben oft der nationalen Politik verhaftet, da wird dann mit dem Charisma eines Anführers, der Unzufriedenheit über die Regierung oder Ähnlichem argumentiert. Dabei sehen wir ja, dass es sich beim Autoritarismus um ein globales Phänomen handelt. Um das zu verstehen, erscheint es mir wichtig, die heutigen Entwicklungen vor dem Hintergrund der weltweiten neoliberalen Transformation der letzten Jahrzehnte und ihrer zutiefst undemokratischen Facetten zu verstehen. Dadurch sind demokratische Räume, Institutionen und soziale Rechte ausgehöhlt worden und weniger solidarische, teilweise autoritäre Vorstellungen von Staat und Gesellschaft haben sich durchgesetzt. Stuart Hall hat das bereits vor 40 Jahren – angesichts der Politik Margret Thatchers – als „autoritären Populismus“ bezeichnet. 

Das alles ist der Nährboden für das, was wir in den letzten 15 Jahren, also in etwa ab der Finanzkrise von 2008, weltweit beobachten. Dies ist ein zweiter wichtiger Punkt zum Verständnis: 2008 eröffnet einen Zyklus von multiplen Krisen, auch und insbesondere einer Hegemoniekrise des Neoliberalismus, der seine ideologische Strahlkraft einbüßt und von verschiedenen Seiten verstärkt infrage gestellt wird. Als Antwort darauf bildet sich heraus, was später der „autoritäre Neoliberalismus“ genannt wird: eine Ausweitung der Marktlogik und gleichzeitig eine Ent-Demokratisierung der politischen Systeme, die repressiver werden und immer mehr Entscheidungen dem demokratischen Zugriff entziehen. Diese Entwicklung kommt nicht von den Rändern, sondern aus der Mitte, dem „radikalen Zentrum“.

Dazu, das wäre ein dritter Aspekt, hat sich in den letzten Jahren dann immer deutlicher der neokonservative, autoritäre Populismus gesellt. Während der autoritäre Neoliberalismus der Mitte liberal ist und eher auf politische Deaktivierung setzt, bietet dieser neue Populismus inmitten der Krise und Frustration die Illusion von Aufbegehren und Rebellion. Dabei dienen als Feindbild nicht die ökonomisch und gesellschaftlich Mächtigen, sondern die Schwächeren – Migrant*innen, religiöse oder ethnische Minderheiten, Sozialhilfeempfänger*innen, Transpersonen, und so weiter. In dem Sinne ist es eine „Rebellion“ gegen „die da unten“, gegen die man sich abgrenzen und sich seiner selbst versichern kann. Im Endeffekt ist das natürlich auch politisch deaktivierend, denn das Aufbegehren wird ja populistisch delegiert, vermeintliche Regelüberschritte macht man nicht selbst, sondern das übernehmen populistische Figuren oder Parteien für einen.

Bei allen, teilweise großen Unterschieden, die wir weltweit zwischen autoritären Entwicklungen beobachten, scheinen mir dies einige der Punkte zu sein, die sehr viele dieser Prozesse gemeinsam haben.

 

Ist dieser Trend neu oder wiederholt sich hier Geschichte?

Ich denke wir sollten beides sehen: Vieles ist neu, vieles auch altbekannt. Und natürlich versuchen wir, die Gegenwart auch vor dem Hintergrund und mit dem Wissen über die Vergangenheit zu verstehen. Dass das gar nicht so leicht ist, zeigt schon die Diskussion um die richtigen Konzepte: Manche Beobachter*innen diagnostizieren einen aufkommenden neuen Faschismus, andere sprechen von Postfaschismus, wieder andere von Bonapartismus oder Cäsarismus – alles Begriffe, die von geschichtlichen Erfahrungen abgeleitet sind.

Ich glaube allerdings, dass uns die vielen eher oberflächlichen historischen Vergleiche nicht immer weiterbringen. Insbesondere in Deutschland werden derzeit oft die Anfangsjahre des deutschen Faschismus als Schablone bemüht. Dabei gibt es heute weder die organisierte Massengesellschaft noch die Gefahr der Revolution durch die Arbeiterklasse, die für die Entstehung des Faschismus zentral waren – und auch keine messianische und paramilitärische Bewegung. Trotzdem wird der Vergleich gerne gemacht – weil er politisch wirkmächtig ist, oder weil wir kaum andere Vergleiche zur Hand haben. Ich finde es wichtig, dass wir uns ernsthaft mit autoritären Entwicklungen in anderen Ländern auseinandersetzen und davon lernen.

Die heutige autoritäre Politik und Ideologien wurden ja nicht von den Rechtspopulisten erfunden, sondern haben eine lange Geschichte, die bis zur französischen Revolution und der Reaktion und Gegenaufklärung reicht, und die stark auch durch Kolonialismus, Rassismus und Sexismus geprägt ist.

Das gilt, auf jeweils spezifische Weise, sowohl für den Globalen Norden wie für den Süden. Besonders im Globalen Süden, wo es in vielen Ländern eine lange Geschichte autoritärer Politik gibt, wird die „Neuheit“ des derzeitigen Autoritarismus allerdings oft kritisch hinterfragt. Zurecht wird angemerkt, dass Europa zwar seine Phase des „progressiven Neoliberalismus“ – wie Nancy Fraser ihn nennt – hatte, neoliberale Reformen in anderen Teilen der Welt aber immer schon mit viel Gewalt und Repression durchgesetzt wurden.

Auch wenn das stimmt, erscheint mir wichtig, die Spezifika – also das Neue – unseres historischen Moments zu sehen. So ist unter anderem die spezifische Verbindung von klassischen reaktionären, ideologischen Topoi mit originär neoliberalen Diskursen und Praktiken eine Neuheit. Denken wir nur daran, wie die Rechte den Begriff der „Freiheit“ für sich in Beschlag nimmt.

 

Zum Forschungsgebiet gehören auch „Counter-Strategies“. Was hilft gegen den scheinbaren Siegeszug des Autoritarismus und wie kann Wissenschaft dabei helfen?

Dafür gibt es leider kein Patentrezept. Wir haben mit unserem letzten Buch „Beyond Molotovs – A Visual Handbook of Anti-Authoritarian Strategies“, das 2024 bei transcript erschienen ist, ein paar Möglichkeiten aufgezeigt. Konkret haben wir dort gefragt, wie wir der „autoritären Versuchung“, also der emotionalen Dimension des Autoritarismus, begegnen können. Denn wir wissen ja, dass die Autoritären nicht durch das bessere Argument überzeugen, sondern indem sie erfolgreich Ängste und Ressentiments mobilisieren. Was können wir dem entgegensetzen? Welche Erfahrungen gibt es? Wir haben dazu eine Ausschreibung gemacht und etwa 150 Einsendungen aus aller Welt erhalten, von denen wir 50 in unserem Buch zusammengebracht haben.

Unser grundsätzliches Credo dabei ist, dass wir die tieferliegenden psychosozialen Ursachen ernst nehmen, aber ihnen einen radikal anderen Ausdruck verleihen müssen. Dabei ist es uns sehr wichtig, dass diese affektive Ebene nicht als einzige – oder auch nur wichtigste – Ebene verstanden wird. Was wir brauchen, ist Verteilungsgerechtigkeit, materielle Bedingungen, die Menschen ein gutes und gesichertes Leben ermöglichen, eine „antifaschistische Wirtschaftspolitik“, wie die Ökonomin Isabella Weber sie nennt. Was wir mit unserem Buch erreichen wollen, ist, dass diese Fragen wieder stärker politisiert werden und Menschen sich dafür einsetzen.

Eine kritische Wissenschaft ist natürlich zentral, um gesellschaftliche Konfliktfelder zu erkennen und Interventionsmöglichkeiten auszuloten. Mir ist aber noch etwas Anderes wichtig: Angesichts des zunehmend autoritären neoliberalen Umbaus der Universitätslandschaften, des fühlbar stärker werdenden Drucks von autoritären Akteuren gegen insbesondere die Geisteswissenschaften, und den sich weltweit verschlechternden Produktionsbedingungen für kritische Wissenschaft und prekären Arbeitsbedingungen für Wissenschaftler*innen ist es enorm wichtig, dass wir die Universitäten als Freiräume verteidigen oder zurückerobern. Das bedeutet meiner Meinung nach ganz zentral auch, neue Formen des Zusammenarbeitens und des zusammen Lernens auszuprobieren – denn wir wollen ja nicht zurück, sondern es besser machen.

 

Im Wissenschaftskolleg zu Autoritarismus und Gegenstrategien, der „International Research Group on Authoritarianism and Counter-Strategies“, untersuchen Sie diesen Trend. Worauf schauen die Forschenden konkret?

Wir haben diverse Arbeitsschwerpunkte. Da ist zum einen das Feld des Antifeminismus, der Gender Politics und der feministischen Kämpfe. Der Antifeminismus ist eine der verbindenden ideologischen Dimensionen des heutigen globalen Autoritarismus. Bei uns forschen Wissenschaftler*innen beispielsweise dazu, wie die Angriffe auf das Recht auf Abtreibung in der Türkei oder die gender policies des iranischen Regimes mit der Neoliberalisierung dieser Länder zusammenhängen. Andere schauen auf die Verbindung von Religion und Antifeminismus in Brasilien. Zwischen diesen scheinbar unterschiedlichen Perspektiven ergeben sich in der Zusammenarbeit zahlreiche Überschneidungen.

Ein anderes sehr wichtiges Feld sind Forschungen rund um das Thema Arbeit. Wir haben Forschungsprojekte zu gewerkschaftlicher Organisation in autoritären Kontexten, beispielsweise zu Arbeitskämpfen von Flugbegleiterinnen in Argentinien und zur (Un-)Abhängigkeit von AKP-nahen türkischen Gewerkschaften. Es gibt auch mehrere Forscher*innen, die sich die Verknüpfung von Algorithmen und Arbeit anschauen: von autoritären religiösen Influencern über die hindunationalistische Trollarmee der BJP in Indien bis zur Frage, wie Arbeitsbedingungen und autoritäre Einstellungen bei prekarisierten „delivery workers“ zusammenhängen.

Und schließlich spielen auch Fragen von Ökologie und Extraktivismus und der Zusammenhang mit dem Autoritarismus eine große Rolle – dazu forschen bei uns Wissenschaftler*innen aus Mosambik, Zimbabwe, Argentinien und Mexiko.  

 

Wer ist im Kolleg dabei und wie funktioniert die Zusammenarbeit?

In dem Kolleg arbeiten derzeit fast 20 aktivistische Forschende zusammen, aus Argentinien, Bosnien, Brasilien, China, Iran, Indien, Kuba, Libanon, Mexiko, Mosambik, Myanmar, Palästina, Philippinen, Russland, Südafrika, Türkei und Zimbabwe. Sie alle haben eigene Forschungsprojekte zu den Entwicklungen in den Ländern oder Regionen, aus denen sie kommen. Als Wissenschaftskolleg – also in unserer kollektiven Arbeit – fragen wir uns dann, wo die Konvergenzen, Verbindungen und Parallelen zwischen den verschiedenen Prozessen liegen, und auch, was diejenigen, die für die Demokratie eintreten, voneinander lernen können.

Das IRGAC schreibt regelmäßig Postdoc-Stipendien aus, so haben wir in den letzten Jahren über 30 Wissenschaftler*innen aus Ländern des sogenannten „Globalen Südens“ gefördert. Bisher war es zumeist so, dass die Fellows des Kollegs die meiste Zeit ihres Postdocs in ihren Ländern geforscht und gelehrt haben und für ein oder zwei Gastsemester nach Deutschland gekommen sind. Unsere Zusammenarbeit war deshalb immer auch stark digital geprägt, unsere wöchentlichen Treffen zumeist online. Das wird sich hier in Potsdam nun ändern, denn die Fellows werden die meiste Zeit ihres Stipendiums hier sein. Das ist für die Zusammenarbeit natürlich sehr gut.

Das Kolleg hat in den letzten Jahren viele gemeinsame Projekte durchgeführt – wir haben mehrere Bücher zusammen herausgegeben, Konferenzen organisiert, und sind beispielsweise gerade dabei, ein weiteres Buch sowie zwei Special Issues von angesehenen Journals herauszugeben. Außerdem veröffentlichen wir viele Texte auf unserer Webseite, www.irgac.org. Das alles organisieren wir als Gruppe zusammen, und das soll natürlich auch so bleiben.

 

Mehr Informationen auf der Webseite des Wissenschaftskollegs zu Autoritarismus und Gegenstrategien:www.irgac.org