Ein Mensch des 17. oder 18. Jahrhunderts würde sich die Augen reiben angesichts einer Gesundheitsbranche, in der selbst Menschen, denen nichts fehlt, beim Arzt vorstellig werden. Dass wir gesundheitliche Vorsorge, engmaschige ärztliche Kontrolle und unbedingte Gesunderhaltung als ganz selbstverständlich betrachten, gilt Soziologen und Kulturwissenschaftlerinnen als Ausdruck einer tiefgreifenden Biomedikalisierung der Gesellschaft.
Ein Prozess, der uns biologisches Wissen und die klinische Brille in Fleisch und Blut übergehen lässt – die pandemischen Ausnahmezustände haben das eindrucksvoll gezeigt. „Zugleich bezeichnet Biomedikalisierung die Möglichkeit, den Körper zu verändern, sollte er der ‚gesunden‘ Norm nicht entsprechen“, erläutert Frederike Offizier, die am Institut für Anglistik und Amerikanistik der Uni Potsdam lehrt und forscht.
„Im Englischen gibt es in diesem Zusammenhang den Begriff der bioliteracy: das Gebildetsein in einem biologischen Kontext“, so die Wissenschaftlerin. „Nur, dass wir in unserer biomedikalisierten Welt eben nicht mehr unbedingt selbst dazu fähig sind, unsere Körper zu lesen. Wenn es um Krankheiten und medizinische Eingriffe geht, dann sind es vielmehr genetische Tests und Vorsorgeuntersuchungen, die uns unsere Risiken voraussagen sollen.“
Gesundheit als prekärer Zustand
Die Amerikanistin hat zum Thema Biosicherheit im Schnittfeld von Gesundheit, Sicherheit und Identität in Nordamerika promoviert. Seit vielen Jahren befasst sie sich mit den kulturellen und gesellschaftlichen Ausprägungen von biologischem Denken. Von der Pränataldiagnostik über neuartige Bluttests zur Früherkennung einer bevorstehenden Demenz bis hin zum genetischen Nachweis eines erhöhten Krebsrisikos: Der molekulare Blick auf bestimmte Krankheiten verschiebt den Fokus vom real erlebten Leiden hin zum Risiko für eine künftige Erkrankung.
„Nicht nur nehmen wir selbstverständlich an, dass wir alle gesund bleiben und alt werden sollten, was früher äußerst selten war“, so die Kulturwissenschaftlerin. „Sondern auch, dass wir Krankheiten schon bekämpfen müssen, bevor sie überhaupt ausbrechen.“ Entsprechend verlagere sich mit dem Wissen um das eigene Krankheitsrisiko auch die Selbstwahrnehmung der Betroffenen mehr und mehr in den Schatten, den die Krankheit bereits vorauswirft.
Minority Report lässt grüßen
Dass sich etwa Frauen mit erhöhtem Brustkrebsrisiko vorsorglich beide Brüste amputieren lassen, um eine Krankheit zu überleben, die erst auszubrechen droht, hätte noch in den 1980er Jahren als Stoff für Science-Fiction à la Philip K. Dick herhalten können. Seitdem haben sich Gentests in der Diagnostik etabliert, prominente Hochrisiko-Patientinnen wie Angelina Jolie sind mit ihrer genetischen Prädisposition in die Öffentlichkeit gegangen und haben sich medienwirksam als Fürsprecherinnen eines „antizipatorischen Überlebens“ hervorgetan.
Parallel dazu stieg der Anteil der vorsorglichen beidseitigen Mastektomien in den USA zwischen 1998 und 2011 von 2 auf über 12 Prozent der Gesamtgruppe. Der technologische Fortschritt, aber auch das Narrativ vom selbstbestimmten Kampf gegen das eigene Damoklesschwert haben die gesellschaftliche Wahrnehmung dieser Krankheit stark verändert.
Ihre bewusste Entscheidung für die prophylaktische Entfernung (noch) gesunder Körperteile macht Jolie im englischen Sprachgebrauch zur sogenannten previvor. „Es bezeichnet ein Vor-Überleben, und zwar nicht das Überleben einer Krankheit, sondern die Überwindung des Risikos, daran zu erkranken“, sagt Frederike Offizier. „Es wird in den US-Medien gleichermaßen als heroischer Kampf und Akt der Selbstermächtigung beschrieben.“ Einer Selbstermächtigung, die in den USA freilich das Privileg einer zahlungsfähigen und gebildeten Klasse bleibt.
Vom göttlichen Omen zu Fitbit & Co.
Und wie steht es um die Biosicherheit bei uns zulande? Seit das Wissen um die Risikofaktoren für Herz-Kreislauf-Erkrankungen und andere Volksleiden zum kleinen ABC des informierten Individuums gehören, hat die bedingungslose Gesunderhaltung auch als Lifestyle ihr plausibles Narrativ. Der Fitness-Tracker am Handgelenk und die Schrittzähler-App fürs Smartphone sind typische Accessoires dieser Zeit. Erst die gesammelten Daten bringen der ums körperliche Heil besorgten Seele die Gewissheit, optimal gegessen oder ausreichend geschlafen zu haben. Dabei sind es zumeist kerngesunde Menschen, die morgens durch Berichte über ihre Schlafqualität scrollen oder am Abend unvermittelt anfangen, auf der Stelle zu trippeln, um ihr tägliches Soll an Bewegung nicht zu verfehlen, damit bloß nicht … ja, was eigentlich?
Die ständige Selbstüberwachung entspringt dem individuellen Wunsch nach Selbstoptimierung mindestens ebenso wie dem Misstrauen gegen den eigenen Körper. Ein bisweilen obsessives Projekt, das an christlich-fromme Bewegungen erinnert, sagt Dr. Frederike Offizier. „Es hat etwas Puritanisches, sich fortlaufend selbst zu kontrollieren und sich immer wieder einer Erlösung zu versichern, derer man sich prinzipiell doch nie sicher sein kann“, sagt die Wissenschaftlerin. „Die andere Parallele zu den Puritanern ist das ständige Suchen nach Zeichen, die es zu lesen und zu deuten gilt. Es muss von außen bewiesen werden, dass wir einer Gefahr widerstanden haben.“
Frederike Offizier ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Amerikanische Literatur und Kultur an der Universität Potsdam.
Lesetipp:
The Biosecurity Individual. A Cultural Critique of the Intersection between Health, Security, and Identity von Frederike Offizier wurde vom Brandenburger Publikationsfonds für Open-Access-Monografien gefördert und 2024 in Print sowie zum Download veröffentlicht. Es seziert die körperpolitischen, gesellschaftlichen und literarisch-fiktiven Spielarten von „Biosicherheit“, einem Konzept, das sich im 20. und 21. Jahrhundert zu einem dominanten Paradigma der Selbst(vor)-sorge entwickelt hat.
Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal - Zwei 2024 „Europa“ (PDF).