Die beiden besuchen die Mathe-Forscherwerkstatt, die im Sommersemester 2024 zum ersten Mal stattfindet. Jeden zweiten Donnerstagnachmittag treffen sich rund 15 Schülerinnen und Schüler, um unter Anleitung zukünftiger Grundschullehrkräfte außerhalb des Unterrichts zu rechnen. Der Raum auf dem Campus Golm ist hell, die Lautstärke beträchtlich. Zu zweit oder dritt knobeln die Kinder an fünf Tischen parallel an Lösungen, sie knien auf gelben, roten und blauen Stühlen und arbeiten mit dicken Filzstiften.
Hochbegabungen fallen häufig unter den Tisch
Luisa Wagner, die die Werkstatt anleitet, geht von Tisch zu Tisch und beobachtet die Fortschritte. Die promovierte Erziehungswissenschaftlerin arbeitet an der Uni Potsdam in der Inklusionspädagogik, Förderschwerpunkt Lernen. Die Idee, das Seminar „Hochbegabung erkennen und fördern“ anzubieten, bekam sie in Berlin, als sie dort Grundschullehramt studierte und ein ähnliches Angebot kennenlernte – für sie ein Aha-Moment: „Selten ist man mit so vielen leistungsstarken Kindern gleichzeitig zusammen.“ In der Inklusionspädagogik werde vor allem auf Kinder mit Förderbedarf geschaut, Hochbegabte spielten kaum eine Rolle, kritisiert sie.
Um das zu ändern, verteilte Luisa Wagner einen Flyer an Potsdamer Grundschulen und Hochbegabten-Vereine, mit dem sie zur Forscherwerkstatt einlud. Das Angebot stieß auf großes Interesse, selbst eine Mutter aus Berlin brachte ihren Sohn alle zwei Wochen nach Potsdam. „In Berlin gibt es wenig Angebote für Hochbegabte“, erzählt diese, als sie Christian bringt. „Er hat eine Klasse übersprungen, ist jetzt in der dritten und langweilt sich schon wieder.“
Aufgefallen war die Hochbegabung des Achtjährigen bereits in der Kita. Auch die Lehrerin in der ersten Klasse wurde hellhörig und schickte den Jungen nach dem sogenannten Drehtür-Modell in Mathe in die nächsthöhere Klasse. Aber erst die Forscherwerkstatt fordere ihren Sohn richtig heraus: „Wenn Christian von der Schule nach Hause kommt, setzt er sich vier Stunden lang in seinen Sitzsack. Nach der Forscherwerkstatt hört er nicht auf zu erzählen. Sein Gehirn ist aktiviert.“
Christian fühlt sich mit Noah-Jonathan in der Zweier-Gruppe sichtlich wohl. Während er das Wort führt und der andere eher schweigsam das Blatt bearbeitet, treffen sie schnelle Entscheidungen: „Unser Zoo heißt 64“, „...weil wir sechs Gehege haben“, ergänzt Noah, „...und nur vier Tage geöffnet“, ruft Christian. Vor Zahlen hat er keine Angst. Bei einem Mathe-Wettbewerb habe er im Millionenbereich multipliziert, erzählen sich die angehenden Lehrkräfte.
Für Hochbegabung gibt es keine klare Definition
Hochbegabung gibt es zwar bereits als Modul in der Lehrkräfteausbildung. Sie werde dort aber eher theoretisch abgehandelt und ohne Kinder einzubeziehen, betont Luisa Wagner. Nach wie vor lasse sie sich nur schwer definieren: „Ist man hochbegabt, wenn man einen Intelligenzquotienten ab 120 hat, oder wenn man besonders kreativ ist? Ist Hochbegabung angeboren wie beim Wunderkind Mozart oder muss sie von Elternhaus und Schule gefördert werden?“ Häufig fallen diese Kinder in der Schule nicht auf, sie langweilen sich im Unterricht, ziehen sich zurück oder drehen auf.
Dass Hochbegabte brillante Denker sind, die im Alltag nicht klarkommen und irgendwie schräg drauf sind, gegen dieses Vorurteil wendet sich das Bundesforschungsministerium in seiner Broschüre „Begabte Kinder erkennen und fördern“. Eine Vielzahl wissenschaftlicher Studien belege, dass es sich um eine heterogene Gruppe handelt, die sozial und emotional keine besonderen Probleme haben: „Wenn man von ihren hohen (kognitiven) Fähigkeiten und damit zusammenhängenden Merkmalen einmal absieht, unterscheiden sie sich kaum von anderen Menschen. Natürlich haben auch Hochbegabte Probleme – aber nicht mehr als alle anderen auch; und schon gar nicht ist die hohe Begabung die direkte Ursache für Probleme. Im Gegenteil – sie ist eine Ressource, um die Anforderungen des Lebens gut zu bewältigen.“
In der Forscherwerkstatt steht das gemeinsame Lösen von Aufgaben im Vordergrund. Soziales Lernen ist für die Sozialkompetenz wichtig, so das Credo. Und die Aufgaben, die Luisa Wagner erarbeitet hat, sind knifflig: Es geht nicht nur darum, nach verschiedenen Vorgaben einen Zoo mit Tiergehegen, Mauern und Wegen zu skizzieren. Auch Textaufgaben sind zu lösen, die Wege, die ein Tierpfleger zu Fuß oder mit dem Rad zurücklegt, zu berechnen, und auch der Code eines Zahlenschlosses muss geknackt werden.
Acht Studierende sind an diesem letzten Nachmittag der Werkstatt vor den Semesterferien mit dabei. Sie beschäftigen sich allein, zu zweit oder dritt mit einer Gruppe, hören zu, geben Anregungen. Marc Tanneberger studiert Deutsch und Mathe für das Grundschullehramt: „Es gibt sonst wenig Praxis-Seminare, in denen man mit Kindern arbeiten kann“, hebt er hervor. Den langen Diskussionen zwischen Xaver und Rozalia, welche Tiere in welches Gehege sollen, hört er gelassen zu.
Aufmerksamkeit für das Potenzial in Kindern wecken
„Mein Ziel war, den Studierenden zu zeigen, wie viel Potenzial in den Kindern schlummert“, sagt Luisa Wagner. Anders als in der Schule, wo es um multiplizieren, dividieren und Sachaufgaben geht, wird hier auch mit großen Zahlen gerechnet: „Das begeistert Kinder, wenn es riesig wird“, sagt die Pädagogin. Sie will Ideen dafür vermitteln, wie Aufgaben im Schulunterricht für Kinder mit Hochbegabung angepasst werden können, damit diese sich nicht langweilen. „Die Lehrenden stehen später vor einer Klasse mit 25 Kindern, fünf davon haben einen Förderschwerpunkt, vier sind leistungsstark, der Rest steht dazwischen.“ Damit müsse man umgehen können.
Am Ende stellen die Kinder ihre Zoos vor. „Unserer heißt Zoo Golm“, erklärt Xaver, „und er hat etwas Besonderes. Denn ein Kästchen auf dem Papier ist ein Hektar, also diese kleine Linie wäre ein Kilometer. Damit man nicht so viel laufen muss, gibt es ein Busliniennetz.“ Das Zweierteam aus Xaver und Rozalia habe sich mehr mit der kreativen Gestaltung als mit mathematischen Aufgaben beschäftigt, berichtet Lehramtsstudent Marc Tanneberger bei der anschließenden Besprechung. Das sei „faszinierend und herausfordernd zugleich“ gewesen, weil die Größe jedes Geheges zur Debatte stand.
Die Studierenden erlebten bei den sieben Terminen, so ihr Resümee, einige Überraschungen: „Wir haben einem Drittklässler schriftliches Multiplizieren beigebracht – und er hat das im Millionenbereich selbstständig gemacht“, so eine angehende Mathe-Lehrerin. „Das war sehr beeindruckend.“ Die Kinder könnten nicht nur besonders gut rechnen: „Sie können sich Dinge wie die Erdkrümmung auch besser vorstellen und begründen.“
„Ich bin leider in der vierten Klasse und kann nach den Ferien nicht mehr kommen“, sagt Xaver noch beim Abschied. Sollte es einen freien Platz geben, werde sie seiner Mutter Bescheid geben, verspricht Luisa Wagner. Und ruft den Kindern zu: „Ihr könnt am Strand weiter knobeln!“
Zur Mathematik-Forschungswerkstatt: https://www.uni-potsdam.de/de/inklusion/lernen/mathematik-forscherwerkstatt
Weitere Informationen des Bundesministeriums für Bildung und Forschung:
„Begabte Kinder finden und fördern – ein Wegweiser für Eltern, Erzieherinnen und Erzieher, Lehrerinnen und Lehrer“
https://www.bmbf.de/SharedDocs/Publikationen/de/bmbf/3/30004_Begabte_Kinder_finden_und_foerdern.pdf?__blob=publicationFile&v=2
Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal - Zwei 2024 „Europa“ (PDF).