Deutsch-afrikanische Kollaboration am Klavier
Jan Gerdes, der das Fach Klavier am Institut für Ästhetische Bildung der Universität Potsdam unterrichtet, widmet afrikanischen – und afro-diasporischen – Komponist*innen deshalb im Wintersemester 2024/25 ein ganzes Seminar. Dabei können und sollen sich die Master-Studierenden eingehender mit Klavierstücken und Künstler*innen befassen, die man in den Lehrplänen der Hochschulen, Festivalprogrammen und Spielplänen von Konzerthäusern meist vergeblich sucht.
Und mit einer zeitgenössischen Musik, der Gerdes mit seinem Album ‚East-West-Central-South‘ zu einem breiteren Publikum verhelfen möchte. Die 2024 veröffentlichte Platte versammelt Komponist*innen aus Nigeria, Äthiopien, dem Kongo und Südafrika mit stilistisch ganz unterschiedlichen Werken, im Studio eingespielt von Jan Gerdes. Da treffen zarte Tonbilder und wechselnde Taktarten auf minimalistische Klänge, expressive Gesten auf Soundtrackhaftes wie den ‚Walk on A Misty Morning‘.
„Es ist eine sehr subjektive Auswahl“, sagt der Pianist. „Aber äußerst facettenreich.“ Und der Zwischenstand eines langfristigen künstlerischen Interesses, das auf eine Reise in den Senegal im Jahr 2018 zurückgeht. Seither fördert der Musikdozent über ein wachsendes Netz aus persönlichen Kontakten nach Afrika eben jene Musik zutage, die fernab des etablierten eurozentrischen Musikbetriebs entsteht und stattfindet.
Wie findet man unveröffentlichte Kompositionen?
Partituren? Schwierig! „Es gibt äußerst wenig käuflich zu erwerbendes Notenmaterial von zeitgenössischer Klaviermusik aus Afrika“, so Gerdes. „Sie wird bisher einfach noch nicht verlegt.“ Auch das Internet ist bei Kunstwerken, die nicht veröffentlicht sind, nur bedingt hilfreich. Die Komponist*innen und ihre Werke überhaupt aufzuspüren, hat deshalb Jahre gedauert.
Eine regelrechte Detektivarbeit, die ohne interkulturelle Brückenbauer und die Pionierarbeiten afrikanischer Komponist*innen und Musikwissenschaftler*innen kaum denkbar wäre. Dazu zählt Gerdes insbesondere Dr. Andile Khumalo aus Johannesburg, der ebenfalls als Komponist und Musikdozent bekanntgeworden und auf Gerdes‘ Album mit mehreren Stücken vertreten ist.
In Zoom-Meetings hat der Musiker die ausgewählten Werke mit Khumalo und den anderen Komponist*innen besprochen und geprobt. „Einzig André Bangambula Vindu aus dem Kongo war überhaupt nicht aufzutreiben“, erinnert sich der Musikpädagoge. Dabei ist Vindu alles andere als ein Unbekannter: Nach seiner Zeit als Musikdozent und einem langen Aufenthalt am Konservatorium in Shanghai war der Kongolese unter anderem Mitglied des Unesco International Music Council.
Dass sein Stück ‚Lullaby‘ es trotzdem auf Gerdes‘ Album geschafft hat, verdankt es dem vergleichsweise seltenen Umstand, dass es als Teil einer ‚Suite for Piano‘ bereits einmal verlegt worden ist. „Nachdem East-West-Central-South erschienen war, ist Vindu dann doch noch aufgetaucht und hat sich riesig gefreut“, erzählt Jan Gerdes. „Inzwischen findet man ihn auch auf Social Media.“
Potsdamer Klaviernachwuchs wird afrikanische Stücke aufführen
Der Kritik der kulturellen Aneignung sieht er deshalb gelassen entgegen, zumal die Komponist*innen ihr ausdrückliches Ok zu diesem Aufnahmeprojekt gegeben haben. Vieles in Europa sei auf Kosten von anderen entstanden, sagt er. „Heute geht es darum, sich auf Augenhöhe zu begegnen und die sozialen und kulturellen Umstände zu verstehen, unter denen diese Musik entstanden und wegen derer sie hierzulande bisher kaum bekannt ist.“
Zurück im Kammermusiksaal der Uni Potsdam lauschen aufmerksame Ohren den Kompositionen von Ezra Abata Yimam. Die auf dem äthiopischen Fünfton-System basierende Musik überrascht mit virtuosen Momenten und wurde auf Gerdes‘ Album zum ersten Mal überhaupt eingespielt. Dieses und viele andere Werke können sich die Studierenden aussuchen, um sie einzustudieren, musik- und kulturgeschichtlich einzuordnen und schließlich in einem hochschulöffentlichen Abschlussabend zu präsentieren.
Darunter auch ein Stück von Florence Price, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als erste afro-amerikanische Komponistin von klassischer Musik bekannt wurde. „Es werden immer noch viel zu wenige Werke von Komponistinnen aufgeführt“, beklagt Jan Gerdes. „Dabei fragen die Studierenden oft gezielt danach. Und ich finde das absolut berechtigt.“
Apropos Komponistinnen: Auf seinem Album ist Clare Loveday vertreten, die Gerdes im Laufe des Seminars per Zoom live aus Südafrika zuschalten will. „Ich wollte immer auch mit lebendiger Musik aus dem Hier und Jetzt arbeiten, nicht nur mit der historischen Klaviermusik“, sagt der 60-Jährige, der bereits mit sechs Jahren das Klavierspiel erlernte. „Die Klassiker werden doch schal, wenn man nicht schaut, was für Musik heute entsteht.“
Auftritte und musikalischer Austausch in Südafrika
Der Umfang seines afrikanischen Repertoires? „Ich könnte glatt noch einmal so eine Platte machen“, sagt Jan Gerdes. Der Musiker ist dankbar für die Förderung seines interkulturellen Musikprojekts durch den Deutschen Musikrat und die Lund Stiftung. Auch das Musikfeuilleton zeigt sich begeistert.
Im März 2025 will Gerdes wieder nach Afrika aufbrechen, diesmal in den Süden des Kontinents. Geplant sind Auftritte, aber auch Workshops mit Musikstudierenden in Johannesburg und Pretoria. Das bedeutet auch frische Inspiration, Nachschub an Musikliteratur und Kontakte zur südafrikanischen Klavierszene. „Die musikalische Reise ist noch lange nicht zu Ende“, sagt Jan Gerdes.
East-West-Central-South ist 2024 beim Label Genuin erschienen, nun wurde es auch für die International Classical Music Awards (ICMA) 2025 nominiert. Ein Gesprächskonzert (Lecture Recital) zu dem Album veranstaltet Jan Gerdes am 18. Dezember 2024 im Kammermusiksaal 2.01, Haus 6, (Campus Golm). Der Eintritt ist frei.