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Im Kern zum Ganzen finden – Leibniz-Preisträgerin Ulrike Herzschuh forscht zur Klimageschichte für die Zukunft des Planeten

Prof. Dr. Ulrike Herzschuh während des Interviews
Prof. Dr. Ulrike Herzschuh in ihrem Labor in der Potsdamer Forschungsstelle des Alfred-Wegener-Instituts für Polar- und Meeresforschung (AWI).
Mit dem Helikopter durch die kanadische Arktis
Prof. Dr. Ulrike Herzschuh mit ihrer Tochter Undine
Foto : Thomas Roese
Prof. Dr. Ulrike Herzschuh
Foto : Thomas Roese
Prof. Dr. Ulrike Herzschuh in ihrem Labor in der Potsdamer Forschungsstelle des Alfred-Wegener-Instituts für Polar- und Meeresforschung (AWI).
Foto : Ulrike Herzschuh
Mit dem Helikopter durch die kanadische Arktis
Foto : Thomas Roese
Prof. Dr. Ulrike Herzschuh mit ihrer Tochter Undine

Ulrike Herzschuh braucht einen langen Atem. Was sie erforscht, ist lange her, schwer zu finden und dauert viele, viele Jahre. Die Biologin interessiert, wie sich das Klima in der Vergangenheit entwickelt hat. Dafür untersucht sie die Spuren von Pflanzen, die sich einst auf dem Grund von Seen abgelagert haben und heute als Sedimente in der Erde schlummern. In den abgeschiedenen Weiten Sibiriens oder Kanadas holt die Forscherin diese Klimaarchive aus dem Boden, um sie in ihrem Labor in Potsdam zu analysieren. Dabei interessiert sich die Expertin für Paläoklimatologie vor allem für besonders langsame Veränderungen, die aber große Auswirkungen auf die Tier- und Pflanzenwelt haben. Was sie über die Klimaveränderungen und ihre Folgen vor 20.000 Jahren herausfindet, könnte uns dabei helfen, den aktuellen Klimawandel besser zu verstehen, Modelle dafür zu entwickeln, was in den kommenden Jahrzehnten auf uns zukommt – und die negativen Folgen dieser Entwicklung abzumildern. Im März 2024 wurde Ulrike Herzschuh für ihre Arbeit mit dem Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis ausgezeichnet. Die von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) vergebene Auszeichnung zählt zu den wichtigsten deutschen Forschungspreisen und ist mit einem Preisgeld von 2,5 Millionen Euro dotiert, das die Forschenden bis zu sieben Jahre lang nach ihren eigenen Vorstellungen und ohne bürokratischen Aufwand für ihre Forschungsarbeit einsetzen können.

„Viele natürliche Prozesse laufen über sehr lange Zeiträume ab: der Aufbau der Eisschilde, die Entstehung von Permafrost-Regionen oder die Verschiebung von Waldgrenzen“, sagt die Biologin von der Potsdamer Forschungsstelle des Alfred-Wegener-Instituts für Polar- und Meeresforschung (AWI), die auch Professorin für Paläoökologie und Paläoklimatologie an der Universität Potsdam ist. In den vergangenen 200 Jahren hat sich die Arktis drastisch erwärmt, aber die Baumgrenze hat sich noch kaum bewegt. „Manche Veränderungen stellen sich erst Hunderte Jahre später ein.“ Doch auch wenn sie unscheinbar sind, wirken sie sich stark auf Pflanzen und Tiere aus.“ Im Zuge der globalen Erwärmung zieht sich etwa überall auf der Welt die Tundra immer weiter nach Norden zurück. Die einzigartige Vegetation mit Moosen, Flechten, Gräsern und winterharten Kräutern wird von Sträuchern und Bäumen verdrängt, was sich negativ auf die Pflanzenvielfalt und letztlich auch auf die dort lebenden Tiere auswirken wird. Wie weit das gehen kann, zeigt ein Blick auf die letzte Eiszeit: Als die Graslandschaften zurückwichen, kamen die Wälder – ein ungemütliches Pflaster für Mammuts, die dort keine Nahrung mehr fanden und schließlich ausstarben.

Weite Wege für kleine Schritte

Wenn Ulrike Herzschuh sich zu Forschungsreisen aufmacht, wird das meist keine leichte Sache. Ihr Feldlabor wiegt auch schon mal 1,5 Tonnen, die zudem nicht selten ausschließlich mit dem Hubschrauber transportiert werden können. Das ist zwar überaus aufwendig und kostspielig, aber auch notwendig. Denn die Wissenschaftlerin zieht es vor allem in weitgehend unerschlossene Gebiete hoch im Norden – in Kanada, Alaska, Island oder Sibirien. Das liegt zum einen daran, dass gerade in der Arktis viele der so langfristigen Prozesse ablaufen, für die sich Ulrike Herzschuh interessiert. Zum anderen zählen die Permafrostböden Sibiriens oder Kanadas zu den Regionen, die noch weitgehend unbeeinflusst sind vom Wirken des Menschen. „Dort finden wir noch naturnahe Systeme, an denen wir die grundlegenden Zusammenhänge von Klima und Ökologie nachvollziehen können, wie sie ohne uns ablaufen.“

Ein Blick in die natürlichen Klimaarchive führt meist nach unten – in den Boden, der aus den Ablagerungen vergangener Zeitalter besteht. Eine Bohrung von nur einem halben Meter Tiefe fördert Material zutage, das bis zu tausend Jahre alt ist. Doch in Mitteleuropa sind derartige Zeitreisen kaum möglich, zu stark sind die Landschaften durch menschliche Einflüsse überformt. Ulrike Herzschuh und ihr Team nehmen deshalb regelmäßig die Strapazen weiter Reisen auf sich, um an besonders geeigneten Stellen Proben zu nehmen. Und die finden sich besonders häufig auf dem Grund ehemaliger Seen. „Vor allem durch Gletscher entstandene Seen weisen oft über lange Jahrtausende hinweg stabile Bedingungen auf. Deshalb lässt sich mit ihrer Hilfe sehr gut nachvollziehen, wie sich die Ökosysteme im Umfeld entwickelt haben.“ Außerdem bleibt die DNA der Flora und Fauna, die im Laufe der Zeit auf den Seegrund hinabsinkt, besonders gut erhalten.

Seltene Expertise für alte DNA

Diese Sedimente sind das Spezialgebiet von Ulrike Herzschuh. Am AWI in Potsdam hat sie ein eigenes Labor für die Extraktion und Analyse alter DNA aufgebaut. „Es gibt nur wenige solcher Labore in Deutschland“, sagt sie. „Die Schwierigkeit ist, die DNA sauber zu extrahieren – und sie zu interpretieren. Wir haben uns im Laufe der Jahre die nötige Expertise angeeignet, wissen, wie sich welche Sedimente verhalten und wie sie zu interpretieren sind.“ Hilfreich war dabei auch die enge Vernetzung mit den Kolleginnen und Kollegen an der Universität Potsdam wie dem Vegetationsökologen Prof. Florian Jeltsch und dem Evolutionsforscher Prof. Ralph Tiedemann.

Die Analysen von Sedimenten und darin enthaltener DNA bieten mehr als nur einen Blick durchs Schlüsselloch. Denn letztlich kann eine Zeitreihe von historischen Klimadaten, die sich aus einem Bohrkern extrahieren lässt, wie ein Buch zur Klimageschichte eines ganzen Ökosystems „gelesen“ werden: „Viele Daten werden eher räumlich aufgenommen. Es fehlen noch immer viele zeitliche Reihen, um Entwicklungen, Wechselwirkungen und Auswirkungen von Klimaveränderungen nachvollziehen zu können.“

Ulrike Herzschuh betont den Wert solcher Zeitreihen – nicht nur für ein grundlegendes Verständnis davon, wie einzelne Prozesse ablaufen oder sich bestimmte Arten entwickelt haben. Vielmehr ist der Blick in die Vergangenheit eine wichtige Grundlage, um bewerten zu können, was gerade um uns herum passiert. „Niemand kann mit Gewissheit sagen, wie sich die aktuellen Klimaveränderungen auf Tier- und Pflanzenarten auswirken. Was passiert mit einem Ökosystem, wenn bestimmte Arten verschwinden? Welche Arten sind besonders betroffen? Erleben wir eine Biodiversitätskrise oder ist das normal? Wir brauchen den Vergleich mit der Vergangenheit, um das einordnen zu können.“ Wenn aktuelle und historische Daten kombiniert werden, lassen sich diese Fragen beantworten – und möglicherweise auch Maßnahmen ergreifen, um gegenzusteuern. „Wir liefern mit unseren Studien wichtiges Wissen für ökologische Foundation Models, große Computermodelle, die mithilfe enormer Datenmengen erstellt werden und mit denen die komplexen Zusammenhänge von Flora und Fauna abgebildet werden können“, so die Forscherin. Aktuell arbeitet sie mit ihrem Team daran, ihre Erkenntnisse zur Klimageschichte in große Datenbanken – wie die vom AWI ins Leben gerufene Plattform PANGEA zur Erdsystemforschung – einzubringen, die dadurch enorm gewinnen würden. Das Wissen fließt aber auch ein in ganz konkrete Naturschutz- und Renaturierungsmaßnahmen. „Ohne Zeitreihen wäre es gar nicht möglich zu wissen, wie lange eine Renaturierung eigentlich dauert.“

Preis für erfolgreiches Teamwork

Im Frühjahr 2024 wurde Ulrike Herzschuh für ihre Arbeit mit dem Leibniz-Preis ausgezeichnet, einem der renommiertesten Forschungspreise Deutschlands. „Ein solcher Preis ist natürlich eine Anerkennung, die guttut“, sagt sie. „Aber in der Forschung ist eigentlich niemand Einzelkämpfer, sondern wir arbeiten in Teams, denen diese Auszeichnung gleichermaßen gebührt.“ Das Preisgeld von rund 2,5 Millionen Euro dürfen die Preisträgerinnen und -träger frei in ihre Forschung investieren. Für Ulrike Herzschuh Grund, vom nächsten Meilenstein zu träumen: einem Labor, das in der Lage ist, aus den Bohrkernen auch alte Proteine zu extrahieren. „Während die DNA ein Sammelsurium an Möglichkeiten darstellen, sind die Proteine das, was von diesen wirklich realisiert wurde. An ihnen kann man ablesen, welche Interaktionen zwischen Organismen stattgefunden haben – und daraus wiederum lassen sich Schlussfolgerungen über Klimaschwankungen ziehen.“ Noch befinde sich die Forschung dazu in den Kinderschuhen. Aber ein neues Labor könnte sie in Schwung bringen. Denn die Zukunft unseres Planeten liegt, zumindest in Teilen, in seiner Vergangenheit.

Wissenschaftliche Familie

Ulrike Herzschuh ist übrigens nicht die einzige Preisträgerin in der Familie. Denn bei den Herzschuhs hat die Leidenschaft für Naturwissenschaften offenbar Tradition. Ihre Tochter Undine gewann Anfang 2024 den Regional- und den Landeswettbewerb „Jugend forscht“ und wurde dann auf Bundesebene vierte. Aber, nicht den Pfaden ihrer Mutter folgend, in Biologie, sondern Chemie. „Meine Großeltern sind beide Chemiker“, erklärt sie. „Da bekam ich früh schon ‚Privatvorlesungen‘. Das hat mich so interessiert, dass ich mehr machen wollte als nur den Chemieunterricht.“ Die Schülerin, die ebenfalls dieses Jahr am Potsdamer Suttner-Gymnasium ihr Abitur gemacht, erforscht sogenannte „ionische Flüssigkeiten“. Diese sind eigentlich sind Salze, deren Schmelztemperatur weniger als 100 Grad Celsius beträgt, weshalb sie bei Raumtemperatur flüssig sind. In ihrem Projekt untersucht sie, wie stabil diese Flüssigkeiten bei Temperaturschwankungen sind und wie sich diese Eigenschaften nutzen lassen. Und wie ihre Mutter hat sie für ihre Forschungen Verbündete an der Universität Potsdam gefunden: Als sie für eine Seminararbeit in der 11. Klasse nach einem Thema suchte, stieß sie auf die Arbeitsgruppe des Chemikers Prof. Dr. Andreas Taubert. Der willigte ein, ihre Arbeit zu betreuen. Wenig später begann sie ein Juniorstudium Chemie an der Universität, besuchte schon im ersten Semester zwei Vorlesungen und ein Seminar. Ihr engagierter Chemielehrer und die Unterstützung der Schule machten es möglich, denn immerhin musste sie dafür zeitweise freigestellt werden. Das Forschungsthema entwickelte sich über zwei Jahre hinweg – und im Ende 2023 reichte sie ihre Ergebnisse bei „Jugend forscht!“ ein. „Die Wettbewerbsrunden waren eine tolle Erfahrung, vor allem die drei Tage beim Bundeswettbewerb in Heilbronn“, sagt die junge Forscherin. „Ich habe meine Arbeit einer internationalen Jury vorgestellt und mit ihnen darüber diskutiert. Aber auch der Austausch mit den anderen Teilnehmenden war inspirierend.“

Und auch für Undine Herzschuh ist ihr Preis der Auftakt zu etwas Neuem: Sie will im Herbst ein Studium beginnen, am liebsten in Heidelberg. Dort gibt es nicht nur ein sehr renommiertes Institut für Chemie. Die Stadt ist auch eines der Zentren für Rugby in Deutschland – der zweiten Leidenschaft der jungen Frau, die seit Jahren beim Potsdamer Rugby Verein spielt und im Sommer 2024 erstmals das Nationaltrikot getragen hat. „Für mich eine ideale Verbindung!“

 

Mehr zur Verleihung des Leibnizpreises an Prof. Dr. Ulrike Herzschuh: https://www.uni-potsdam.de/de/nachrichten/detail/2023-12-07-ueber-klimaveraenderungen-in-der-erdgeschichte-wichtigster-forschungsfoerderpreis