Polen war jahrhundertelang territorial geteilt oder fremdbestimmt. Bildete das Ende der Bevormundung durch den „großen Bruder“, die Sowjetunion, die Initialzündung für eine demokratische Wende?
Nein, im Gegenteil: Es waren die Demokratisierungsbestrebungen der Solidarność-Bewegung in Polen 1980/81 und dann der Runde Tisch Anfang des Jahres 1989, die eine Initialzündung für die demokratische Wende im ehemaligen Ostblock bildeten. Man vergisst in Deutschland leider gern, dass der Mauerfall in Berlin nicht nur eine Vorgeschichte in der sowjetischen Perestrojka hat, sondern auch – und zwar entscheidend – in den Ereignissen des Jahres 1989 in Polen.
Ich komme gerade aus Gdańsk zurück, der Geburtsstätte der Solidarność-Bewegung. Zusammen mit unseren Studierenden haben wir dort im Rahmen einer Seminarexkursion das Europäische Solidarność-Zentrum besucht – zum 35. Jahrestag der ersten (halb-)freien Wahlen in Polen am 4. Juni 1989. Diese Wahlen waren ein Ergebnis des Abkommens zwischen der kommunistischen Partei und der Opposition, das am Runden Tisch ausgehandelt wurde. Der Sieg der Opposition fiel dabei so überwältigend aus, dass die kommunistische Partei – obwohl sie sich feste Plätze im Sejm (Parlament) am Runden Tisch gesichert hatte – ihre Niederlage anerkennen musste. So hatte Polen bereits im Juni 1989 den ersten frei gewählten demokratischen Premierminister (Tadeusz Mazowiecki). In den nächsten Monaten fielen die kommunistischen Regime wie Dominosteine im ganzen Ostblock; nicht überall jedoch so friedlich wie in Polen.
Wie entwickelte sich die polnische Demokratie seit den Anfängen der Solidarność in den 1980er Jahren?
Die Grundideen der künftigen demokratischen Ordnung in Polen nach 1989 wurden bereits in den oppositionellen Strukturen in den 1980er Jahren vorbereitet. Das war aber keineswegs ein einfacher Prozess. Die große Solidarność-Bewegung wurde mit der Einführung des Kriegsrechts am 13. Dezember 1981 zerschlagen. Sie war präzedenzlos im gesamten Ostblock: Jede/r zweite erwachsene Bürger/in der Volksrepublik Polen war 1980/81 Mitglied in der unabhängigen Gewerkschaft Solidarność, die übrigens nicht nach Branchen, sondern territorial organisiert wurde – eine imposante politische Organisation. Die freie Gewerkschaft wurde erst am Runden Tisch 1989 wieder zugelassen. Solidarność als Massenbewegung hat sich vom Rückschlag des Kriegsrechts nie wieder erholen können; in den 1980er Jahren agierten die oppositionellen Strukturen im Untergrund. Aus diesen Strukturen sind jedoch nach 1989 unterschiedliche Parteien hervorgegangen, die bis heute die polnische politische Landschaft prägen.
Welchen Weg schlug Polen nach der Wende ein?
Ich schaue gerne auf die 2000er Jahre in Polen zurück: eine Zeit politischer Zuversicht und wirtschaftlichen Aufschwungs – nach der radikalen und für viele Bürger*innen harten Wirtschaftsreform der 1990er Jahre, die nicht ohne Grund „Schocktherapie“ genannt wurde. Mit dem Beitritt zur NATO 1999 und 2004 zur Europäischen Union erreichte Polen die ersehnte Stabilität. Gewiss funktionierte noch nicht alles perfekt, die marktwirtschaftliche Transformation hatte ihren Preis und ihre Opfer, brachte aber in Polen – im Unterschied zu vielen anderen ehemaligen Ostblockländern – keine Oligarchienbildung und vergleichsweise wenig Korruption mit sich. Die demokratischen Institutionen schienen stabil zu sein; in dieser Zeit war es nicht vorstellbar, dass es in Polen nennenswerte politische Kräfte geben könnte, die sich gegen den Rechtsstaat wenden würden. Die erkämpfte Demokratie war damals eine Selbstverständlichkeit. Heute weiß man nicht nur in Polen, dass die Demokratie eine Daueraufgabe ist und keine Selbstverständlichkeit.
2005 gab es mit dem Wahlsieg der PiS einen ersten Rechtsruck, der – mit Unterbrechung zwischen 2007 und 2015 – bis zum Verlust der Macht bei den Parlamentswahlen im Oktober 2023 anhielt. Was macht die PiS und ihre Politik aus?
Die Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) ist eine rechtspopulistische Partei – wie es sie heute in Europa und auch anderswo viele gibt. Sie unterscheiden sich durch verschiede ideologische Merkmale, haben aber auch sehr viel gemeinsam: Sie hassen die Moderne, den Liberalismus und polarisieren die Gesellschaften mit Feindbildern, Propaganda und Desinformation. Sie können sich wandeln und nutzen die jeweils aktuellen Probleme für ihre populistische Agitation. So war auch die PiS um 2005 nicht die PiS, die 2015 in Polen an die Macht kam. Allerdings konnte die inzwischen radikalisierte PiS aus den eigenen Fehlern lernen: Die „revolutionären“ Absichten der PiS wurden 2007 vom polnischen Verfassungsgericht gestoppt, deshalb war eine der ersten Maßnahmen von PiS nach den gewonnenen Wahlen von 2015, das Verfassungsgericht politisch zu übernehmen und sukzessive in eine Parteiinstitution zu verwandeln. Es war damals ein großer Schock für die polnischen Liberalen und der Anfang von Straßenprotesten gegen die rechtspopulistische Politik.
Heute wissen wir, dass die Rechtspopulisten, sobald sie an die Macht kommen – sei es in Ungarn, Polen, Italien oder Israel – sowohl die Unabhängigkeit der Medien als auch der Justiz bedrohen. Früher oder später führen solche Entwicklungen zur Demontage der Rechtsstaatlichkeit und folglich zur Autokratie.
Wo „steht“ die Politik der PiS im europäischen Vergleich?
Die Rechtspopulisten lernen voneinander, teilen ihr Knowhow und unterstützen sich gegenseitig aktiv. Fidesz von Viktor Orban in Ungarn war das Vorbild für die PiS. Jarosław Kaczyński wollte ein „Budapest in Warschau” schaffen. Die Demontage der polnischen unabhängigen Justiz inspirierte wiederum Benjamin Netanjahu bei seinem Angriff auf das Oberste Gericht in Israel. Heute versucht Giorgia Meloni die konstitutionelle Ordnung in Italien zu ändern. Was folgt daraus? Die Demokrat*innen sollten ebenfalls voneinander lernen, wie man mit der rechtspopulistischen Gefahr umgehen kann. Von den dramatischen Erfahrungen der acht Jahre rechtspopulistischer Regierung in Polen kann man in Europa lernen, auch in Deutschland, insbesondere mit Blick auf die enormen Erfolge der AfD. In Deutschland gibt es bereits konkrete Überlegung zur Stärkung der unabhängigen Justiz und des Verfassungsgerichts angesichts des rechtspopulistischen Zeitgeistes.
Erleben wir – nach dem Wahlsieg vom Bündnis um den erklärten Europäer und ehemaligen Präsidenten des Europäischen Rates Donald Tusk – tatsächlich eine (Re-)Demokratisierung Polens?
Das Land hat am 15. Oktober 2023 eine erneute Wende vollzogen; für das liberale Lager ist diese in ihrer Bedeutung mit der Wende von 1989 vergleichbar. Es war keineswegs sicher, dass die demokratische Opposition die letzten Wahlen gewinnen würde – ohne Zugang zu den von der PiS-Partei komplett kontrollierten öffentlich-rechtlichen Medien. Trotz der parteilichen Übernahme von Medien, Teilen der Justiz und vielen Institutionen des öffentlichen Lebens, darunter auch Kulturinstitutionen, ist es PiS nicht gelungen, die polnische Zivilgesellschaft zu zerschlagen. Eine große gesellschaftliche Mobilisierung, vor allem der jungen Menschen und Frauen in Polen hat gezeigt, dass es möglich ist, die autoritären Rechtspopulisten abzuwählen – solange es noch freie Wahlen gibt. Das ist den ungarischen und türkischen Demokrat*innen bisher nicht gelungen, in beiden Ländern ist der Autoritarismus aber schon viel stärker ausgeprägt, als das in Polen unter PiS der Fall war.
Es wird lange dauern, die demokratischen Institutionen in Polen zu sanieren, zumal der polnische Präsident, mit der PiS-Partei verbunden, ein starkes Vetorecht hat und Gesetzesentwürfe blockieren kann. Der Sanierungsaufwand ist durchaus mit der Errichtung von demokratischen Institutionen nach 1989 vergleichbar – mit dem Unterschied, dass die damalige kommunistische Partei schnell die Seiten wechselte und sich beim Aufbau des demokratischen Staates beteiligte. Die regierende demokratische Koalition heute ist auf dem guten Kurs, aber es ist noch ein steiniger Weg – zumal es auch darum geht, bei der Wiederherstellung der Rechtstaatlichkeit selbst das Recht nicht zu verletzten, was bei den beschädigten Institutionen keineswegs immer möglich ist. Wie schnell und gut sich die polnische Demokratie wieder stabilisieren kann, hängt nicht zuletzt von der internationalen Entwicklung ab – in den USA, aber auch in Deutschland. Der Rechtspopulismus ist ansteckend, demokratische Gegenbewegungen hoffentlich auch!
Übrigens, im kommenden Wintersemester veranstalte ich zusammen mit zwei Kolleginnen, Brigitte Obermayr und Aleksandra Szczepan, eine Ringvorlesung zum Populismus („Populismus: interdisziplinäre Perspektiven“) mit Fokus auf Mittel- und Osteuropa. Wir haben eine ganze Reihe internationaler Forscher*innen eingeladen und hoffen, viel voneinander zu lernen.
Wie beeinflusst die starke Position der katholischen Kirche die politische Kultur Polens?
Oh, das ist eine Frage für ein eigenes Interview! Deshalb an dieser Stelle nur ein paar Worte zu diesem großen Thema: Die katholische Kirche hat ihre starke Position in den letzten Jahren, wenn nicht Jahrzehnten, komplett verspielt. Vor allem junge Menschen und Frauen wenden sich von ihr ab. Das große moralische und politische Kapital, das die katholische Kirche durch die Unterstützung der demokratischen Opposition im Realsozialismus aufbauen konnte, hat sie zunächst in der Transformationszeit in ein reelles Kapital ummünzen können, um dann die Verbindung zur Wirklichkeit gänzlich zu verlieren: Durch die Unterstützung der Rechtspopulisten, durch den Krieg gegen „Gender“, durch das Erwirken eines fast absoluten Abtreibungsverbots, durch die Unfähigkeit zur Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs hat sich die ultrakonservative polnische katholische Kirche selbst demontiert. Übrigens, die katholische Kirche ist bekanntlich keine demokratische Institution, deshalb ist es wichtig, demokratischen Staat und Kirche klar zu trennen. Aus historischen Gründen wurde die Trennung in Polen nicht konsequent vollzogen. Das kommt noch.
Welche Rolle spielt Polen in bzw. für Europa?
Die Zustimmung für die EU in Polen ist nach wie vor sehr hoch, ich denke, höher als in Deutschland. Inzwischen – so die aktuellen Umfragen – wünschen sich aber ca. 20 Prozent der Polinnen und Polen einen „Polexit“. Die Zahl entspricht etwa dem harten Kern der Anhängerschaft von rechtspopulistischen und rechtextremen Parteien. Ich finde die Zahl hoch, fürchte aber, dass sie in Deutschland inzwischen nicht geringer ausfallen würde.
Durch die EU-feindliche Rhetorik, ganz abgesehen von der antideutschen Obsession, hat die bis 2023 regierende rechtsnationalistische Koalition unter der Ägide von PiS stark zum Verlust von Polens Ansehen auf der europäischen Bühne geführt. Nicht nur öffentliche Institutionen in Polen haben unter dem flächendeckenden Personalaustausch nach dem Prinzip der Parteitreue gelitten, dies gilt auch für die polnische Diplomatie. Immerhin sah man in der EU nicht nur die PiS-Politiker*innen, sondern auch den Liberalen Donald Tusk, der bis 2019 Präsident des Europäischen Rats war und heute wieder Premierminister in Polen ist.
Polen wird seine Aufgaben in der EU wieder in dem Umfang wahrnehmen, wie das von einem mittelgroßen Mitgliedsstaat zu erwarten ist, daran habe ich keinen Zweifel. Das „Weimarer Dreieck“ – ein Konsultationsforum Deutschlands, Frankreichs und Polens, das z.B. für die Fragen der Ukraine von großer Bedeutung ist –, wird gerade wiederbelebt. Zum Glück hat Deutschland mit der „Zeitenwende“ seinen fatalen Weg der energetischen Abhängigkeit von Russland korrigiert, leider erst mit dem russischen Vollangriff auf die Ukraine, was aber jetzt eine Annäherung an die außenpolitischen Positionen ostmitteleuropäischer Staaten bedeutet und ganz sicher der Verständigung dient.
Polen wird aber auch in nächster Zeit einen eigenen Weg in der EU gehen – vor allem in der Migrationspolitik oder bei Fragen, die die Agrarwirtschaft betreffen. Manche können davon enttäuscht sein, diese Politik ist aber nachvollziehbar, wenn man bedenkt, dass die PiS-Partei in Polen immer noch ein Drittel der Wähler*innen mobilisiert. Für Polen gilt jetzt also, politisch so zu handeln, dass die Gefahr der Wiederkehr von Rechtspopulisten an die Macht möglichst geringgehalten wird.
Zum Abschluss noch eine „Zusatzfrage“ mit Blick auf das Titelthema der Ausgabe (Europa): Was bedeutet Europa für Sie persönlich?
Vor etwa einem Jahr ist das Buch „Homelands. A Personal History of Europe“ von Timothy Garton Ash, einem großen Spezialisten für die Geschichte Mittel- und Osteuropas, erschienen. Es ist nicht nur ein spannendes und informatives Buch, sondern auch eine Liebeserklärung an das vereinte Europa, dazu eine Liebeserklärung eines liberalen britischen Historikers nach dem Brexit. In einem Interview sagte Ash neulich, dass er seit dem polnischen 15. Oktober 2023 wieder mit Hoffnung auf Europa und auch auf seine Heimat schaut: Vielleicht sei Brexit noch reversibel … Ich teile die europäische Leidenschaft Ashs und es ist meine große Hoffnung, dass Europa am Rechtspopulismus nicht zugrunde gehen wird.
Zur Webseite von Prof. Dr. Magdalena Marszałek, Professorin für Slavische Literatur- und Kulturwissenschaft: https://www.uni-potsdam.de/de/slavistik-polonistik/prof-dr-magdalena-marszalek