Zum Hauptinhalt springen

33 Fragen an Anna Helena Albrecht

Prof. Dr. Anna Helena Albrecht
Foto : Tobias Hopfgarten
Prof. Dr. Anna Helena Albrecht

Was bringt eigentlich die Androhung von Strafen? Warum verstoßen Jugendliche so häufig gegen Regeln? Und wer definiert überhaupt, was kriminell ist? Auf diese und weitere Fragen hat Anna Helena Albrecht Antworten. Sie ist seit 2021 Professorin für Strafrecht und Strafprozessrecht an der Universität Potsdam und gibt Einblick in ihr Fach und ihren Weg in die Wissenschaft.

1. Schuld und Sühne oder Verbrechen und Strafe?

Verbrechen und Strafe.

2. Historisch und national unterscheidet sich das Strafrecht stark. Wie kommt es eigentlich, dass zu bestimmten Zeiten und an unterschiedlichen Orten bestimmte Verhaltensweisen als straf bar gelten und andere nicht?

Jenseits eines zumindest breit konsentierten Kernbestands an Straftatbeständen ist das Strafrecht unter anderem durch Geschichte, gesellschaftliche Bedürfnisse und Wertvorstellungen und schließlich Machtstrukturen geprägt. Welche Verhaltensweisen werden in einer bestimmten Zeit und in einer bestimmten Gesellschaft als besonders sozialschädlich bewertet? Wer kann definieren, was strafbar ist, welche Interessen verfolgt er damit?

3. Hindert die Androhung von Strafen Menschen tatsächlich daran, Verbrechen zu begehen?

Deutlich weniger stark, als das gemeinhin angenommen wird. Die kriminologische Forschung ist da recht klar: Die Androhung von Strafe wirkt nur in einem bestimmten Bereich abschreckend. Sie kann das ja nur insoweit, als die Begehung einer Straftat das Ergebnis einer kalkulierenden Abwägung ist. Wir sind aber nicht stets rational; Straftaten werden oftmals in emotionalen Ausnahmesituationen, im Zustand der Intoxikation oder aus mangelnder Impulskontrolle begangen. Liegt einer Straftat doch einmal Kalkül zugrunde, werden die Täter*innen oftmals davon ausgehen, dass ihre Straftat nicht entdeckt wird. Das empfundene Aufklärungsrisiko wirkt daher wohl abschreckender als die abstrakte Strafandrohung.

4. Wie steht das deutsche Strafrecht aus Ihrer Sicht im internationalen Vergleich da?

Um das fundiert zu beurteilen, kenne ich zu wenige Strafrechtsordnungen in hinreichender Tiefe.

5. Gibt es etwas, das sich im Strafrecht dringend ändern sollte?

Wir sollten einige Verhaltensweisen entkriminalisieren und das Tierschutzstrafrecht konsequenter durchsetzen.

6. Zu Ihren Forschungsschwerpunkten zählt auch das Medienstrafrecht – ein sehr komplexes und dynamisches Arbeitsfeld. Was interessiert Sie hier besonders?

Das Medienstrafrecht steht im besonderen Spannungsfeld zwischen Meinungs- und Medienfreiheit einerseits und den gegenläufigen Interessen wie Ehr- und Staatsschutz andererseits, ist besonders historisch geprägt und berührt uns alle in Zeiten von sozialen Medien immer mehr.

7. Begehen Jugendliche häufiger Straftaten als Erwachsene und wenn ja, warum?

Jugendliche sind in der polizeilich registrierten Kriminalität überproportional vertreten. Das hat auch damit zu tun, dass Straftaten von Jugendlichen eher angezeigt werden und dass es ihnen weniger gelingt, ihre Straftaten zu verbergen. Wir müssen aber auch von einer tatsächlich höheren Kriminalitätsbelastung ausgehen. Normübertretungen gehören oftmals zum Prozess des Normerlernens dazu, gruppendynamische Prozesse begünstigen Straftaten, die Impulskontrolle ist noch nicht vollständig ausgebildet – und außerdem haben Jugendliche in der Regel einfach mehr Zeit, um Normen zu übertreten.

8. Womit befasst sich die Kriminologie?

Mit den Ursachen und den Erscheinungsformen von Verhalten, das als kriminell definiert ist, mit der staatlichen Reaktion auf ein solches Verhalten und den Prozessen, in denen definiert wird, welche Verhaltensweisen kriminell sind.

9. Was sind die Ursachen für Kriminalität?

Da ist sich die Kriminologie nicht einig und meiner Einschätzung nach gibt es darauf auch keine pauschale Antwort. Zu den Risikofaktoren zählen u.a. Gewalterfahrungen in der Kindheit, mangelnde Impulskontrolle, Suchterkrankungen, Perspektivlosigkeit.

10. Wie kann ihr auch außerhalb des Strafrechts begegnet werden?

Franz von Liszt hat den weisen Ausspruch geprägt, dass die beste Kriminalpolitik in einer guten Sozialpolitik liegt.

11. Wie genau forschen Jurist*innen?

Das ist sehr unterschiedlich und reicht von Textexegese über den Vergleich von Gesetzen und Rechtsordnungen, historischer Forschung bis hin zu empirischen Untersuchungen.

12. Haben Sie als Forscherin Einfluss auf Politik und Gesellschaft und wenn ja, welchen?

Der Gesetzgeber holt in der Regel Expertise von Rechtswissenschaftler*innen im Gesetzgebungsverfahren ein und ich hoffe jedenfalls, dass zumindest ein Teil der Diskussionen, die wir anstoßen, auch außerhalb von Hörsaal und wissenschaftlicher Literatur wahrgenommen wird.

13. Sehen Sie Entwicklungsbedarf bei der juristischen Ausbildung an den Universitäten?

Ja! U.a. müssen wir den großen psychischen Belastungen des Studiums entgegenwirken. Insoweit kann ich auf die Initiative iur.reform mit ihren Anliegen verweisen.

14. Gibt es etwas, das Sie insbesondere angehenden Juristinnen mitgeben würden?

Mit Intellekt und Empathie über den eigenen Erfahrungshorizont hinausschauen.

15. Wollten Sie schon immer Juristin werden?

Lange Zeit wollte ich Ärztin werden und habe auch noch während des Jurastudiums mit dem Gedanken gespielt, das Fach zu wechseln. Inzwischen glaube ich, dass ich mit Jura doch richtig lag.

16. Wie kamen Sie zum Strafrecht?

Mich hat das Strafrecht von Anfang an am meisten interessiert, vielleicht, weil es einen besonders starken Bezug zum Menschen und Menschlichen hat. Für das Jurastudium habe ich mich aus idealistischen Gründen entschieden; im Strafrecht habe ich für mich am ehesten die Möglichkeit gesehen, diesem Idealismus nachzugehen.

17. Bevor Sie als Juniorprofessorin nach Potsdam kamen, haben Sie in Münster studiert und promoviert, waren als Forscherin an der Uni Birmingham. Was hat Sie nach Potsdam gezogen und hier gehalten?

Am Anfang war es die Stelle, die – ich glaube – erste Juniorprofessur im Strafrecht mit Tenure Track. Als ich dann hier war, habe ich ganz schnell meine Kolleg*innen, die hiesigen Studierenden und den Raum Berlin/Brandenburg als Forschungs- und Lebensraum sehr zu schätzen gelernt.

18. Gab es einen besonderen Moment auf Ihrem akademischen Lebensweg?

Der Ruf nach Potsdam war sicherlich eine ganz, wenn nicht die entscheidende Weichenstellung.

19. Gibt es ein Desiderat in Ihrem Forschungsfeld, dem Sie sich gerne sofort widmen würden, wenn Sie könnten?

Wie gut es Richter*innen gelingt, sich äußerem Druck, insbesondere durch – gerade auch soziale – Medien, zu entziehen.

20. Was macht eine gute Professorin aus?

Begeisterung für die Sache, die sie in ihre Forschung und Lehre trägt, und Offenheit gegenüber den Studierenden und ihren Bedürfnissen.

21. Forschung oder Lehre – was macht Ihnen mehr Spaß?

Beides macht mir sehr viel Spaß. Wenn ich mich aber für eines entscheiden müsste, dann wäre es die Forschung.

22. Wie wichtig ist Ihnen Erfolg?

Ich bin vor allem intrinsisch motiviert, die wissenschaftliche Neugier treibt mich um und an. Aber Erfolg ist wichtig, weil er gerade in den Momenten des Zweifelns hilft.

23. Was war Ihr größter Misserfolg?

Misserfolge gehören in der Wissenschaft ganz natürlich dazu. Das kann eine Stelle sein, die ich nicht bekommen habe, oder ein Beitrag, der nicht sofort angenommen wurde. Aber als noch größeren Misserfolg würde ich es ansehen, wenn ich eine Chance gar nicht erst ergriffen, es also gar nicht erst versucht hätte.

24. Haben Sie ein Vorbild?

Es gibt nicht eine bestimmte Person, die ich als Vorbild bezeichnen könnte, aber mehrere Personen, deren Arbeit oder Fähigkeiten ich in ganz bestimmten Aspekten bewundere.

25. Was gefällt Ihnen an Ihrem Beruf?

Unglaublich vieles. An erster Stelle ist es neben dem Austausch mit den Studierenden die große Freiheit. Zu entscheiden, mit welchen Inhalten ich mich befasse, in der Regel auch, wann und wo ich dies tue, ist ein großes Glück und Privileg.

26. Und was gar nicht?

Der Weg auf die Professur ist lang und in der Regel geprägt von Unsicherheit und Selbstzweifel.

27. Stilles Kämmerlein, Büro oder Bibliothek – wo arbeiten Sie am liebsten?

Je nach Laune und Bedürfnis an allen drei Orten.

28. Was ist Ihr Ausgleich zur Arbeit?

Zeit mit Familie und Freunden zu verbringen, Lesen und Konzerte und ab und an selbst Klavier zu spielen und nicht besonders gut dazu zu singen. Für mehr bleibt im Alltag mit einem so ausfüllenden Job und zwei sehr kleinen Kindern gerade nicht wirklich Zeit.

29. Gibt es etwas, für das Sie kämpfen?

Ein (aus meiner Sicht) besseres Straf- und Strafprozessrecht.

30. Welches Buch, das Sie in letzter Zeit gelesen haben, würden Sie weiterempfehlen?

Es ist schon etwas her, dass ich es gelesen habe, aber: Daniel Kahnemann, „Thinking, Fast and Slow“.

31. Was war Ihr Lieblingsfach in der Schule?

Das hat gewechselt: Latein, Geschichte, Biologie und auch mal Mathematik.

32. Wenn Sie an Ihre Kindheit denken, was fällt Ihnen dann ein?

Das Glück und Privileg, in einer ebenso liebevollen wie diskussionsfreudigen Familie aufgewachsen zu sein.

33. Wo sehen Sie sich in zehn Jahren?

Im Hörsaal und am Schreibtisch, auch wenn das mit zunehmender Digitalisierung vielleicht schon recht anders aussehen mag als heute.

 

Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal Wissen - Eins 2024 „Bildung:digital“ (PDF).