Zum Hauptinhalt springen

Von Brandenburg lernen – Wie ein Schulfach Toleranz und Respekt fördert

Prof. Dr. Marie-Luise Raters
Buch auf einem Ständer.
Foto : Thomas Roese
Philosophin Prof. Dr. Marie-Luise Raters
Foto : AdobeStock/hadjanebia
Das Schulfach „Lebensgestaltung – Ethik – Religionskunde“, kurz L-E-R, könnte für mehr Verständnis verschiedener Religionen helfen.

Bisher machte das Fach mit dem sperrigen Namen „Lebensgestaltung – Ethik – Religionskunde“, kurz L-E-R, Schlagzeilen, weil es gegenüber dem konfessionellen Religionsunterricht umstritten war. Jetzt könnte es zu einem Vorreiter avancieren. Hier lernen religiöse und religionslose Schülerinnen und Schüler gemeinsam in einer Klasse – das ist besonders. Das 1992 ausschließlich in Brandenburg eingeführte Pflichtfach bis zur 10. Klasse soll die Fähigkeit zur persönlichen Lebensgestaltung in die Schulen vermitteln. Gleich mehrere gute Gründe, das Schulfach systematisch zu analysieren. In dem länderübergreifenden Projekt vergleichen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Deutschland, Österreich und der Schweiz, wie der Islam in überkonfessionellen Fächern wie L-E-R und „Religion und Kultur“ in der Schweiz einerseits und im konfessionellen evangelischen Religionsunterricht in Wien und Tübingen andererseits unterrichtet wird. Unter dem Titel „MORE“ gehen die Forschenden dabei der Frage nach, wie die verschiedenen Modelle das Thema Islam gestalten und didaktisch aufbereiten. Welches Modell fördert Toleranz und Respekt? Wo trägt der Unterricht zu einem verantwortungsbewussten Umgang mit religiöser Vielfalt bei? Wenn Marie-Luise Raters an die Einführung des Faches L-E-R denkt, kann die Professorin am Institut für Philosophie der Universität Potsdam nur den Kopf schütteln. „Damals sagten viele, wir brauchen doch keine Ethik, das machen mal eben die Biologielehrer mit.“ Heute sieht sich die Forscherin mehr als bestätigt, dass es ohne Ethik eben doch nicht geht. „Die Welt ist in Aufruhr, wir sehen doch, was derzeit in Israel passiert. Das bekommen auch Schülerinnen und Schüler mit“, bemerkt Raters. „Die platzen doch und brauchen einen Ort in den Schulen, um aktuelle Fragen zu diskutieren.“ In Brandenburg hat sich dafür L-E-R bewährt, zumindest bis zur 10. Klasse. Wieder schüttelt Marie-Luise Raters den Kopf: „Gerade wenn die Schülerinnen und Schüler anfangen, sich ihre Meinung zu bilden, hört der Unterricht auf.“ Daher fordert die Wissenschaftlerin seit Langem, das Fach auch in der gymnasialen Oberstufe fortzusetzen. „Das ist so wichtig für unsere Demokratie, um Toleranz und Respekt zu vermitteln, aber auch um Grenzen zum Extremismus aufzuzeigen.“

Wegweisende Ergebnisse

Das MORE-Projekt vergleicht verschiedene Unterrichtsmodelle miteinander, die den Islam an deutschsprachigen Schulen vermitteln. Schon vor der endgültigen Auswertung der erhobenen Daten lassen sich zwei unterschiedliche Herangehensweisen erkennen: Konfessionsgebundener Unterricht skizziert den Islam als eine von mehreren Religionen, während das Fach L-E-R den Einstieg über soziale Themen aus dem Alltag der Schülerinnen und Schüler sucht. „Das finden alle toll“, resümiert Stephanie von Steinsdorff. Als wissenschaftliche Mitarbeiterin hat sie in den vergangenen zwei Jahren für das Forschungsprojekt gearbeitet – Daten gesammelt, Interviews geführt und verschiedene Unterrichtsmodelle kennengelernt. „In Brandenburg haben wir nur ganz wenige islamfeindliche Aussagen beobachtet. Die große Mehrheit solidarisiert sich mit den muslimischen Mitschülerinnen“, erklärt von Steinsdorff und führt dies auf das Konzept des Faches L-E-R zurück. Nur in Brandenburg lernen muslimische, evangelische, religionslose Schülerinnen und Schüler zusammen in einer Klasse. „In Süddeutschland hatten wir Klassen, die mit dem Islam gar nichts anfangen konnten“, ergänzt ihr Kollege Patrick Döring, der damit angefangen hat, die Daten des DFG-Projekts auszuwerten. „Lehrkräfte in Brandenburg holen die Schülerinnen und Schüler ganz anders ab als die Kolleginnen und Kollegen in Tübingen. Ausgehend von gesellschaftlichen Fragen wird bei uns die Perspektive des Islam auf die Lebenswelten vermittelt“, führt Döring aus. „Es geht auch um heikle Themen“, ergänzt Stephanie von Steinsdorff. „Was hat Terrorismus beispielsweise mit dem Islam zu tun? Lehrkräfte in Brandenburg trauen sich an solche Fragen ran. Sie haben im L-E-R-Studium gelernt, das entsprechend didaktisch vorzubereiten.“ Patrick Döring berichtet von einem entgegengesetzten Beispiel aus Tübingen: „Dort haben wir ängstliche Lehrkräfte erlebt, die nicht von den Eltern verklagt werden wollten. Nach dem Motto: ‚Es wird zu viel Islam unterrichtet, wir sind doch hier aber Christen!‘“

Mit L-E-R die Gesellschaft stärken

Die Projektleiterin Marie-Luise Raters ist begeistert, wie gut das Brandenburger Modell im Vergleich zur konfessionsgebundenen Religionskunde im übrigen Deutschland, in Österreich und der Schweiz abschneidet. „Unsere Lehrkräfte ziehen sich Probleme auf den Tisch, regen zu Debatten an und wollen nicht den Islam als Religion erklären.“ Für die Wissenschaftlerin ist dies die zentrale Erkenntnis aus dem Forschungsprojekt. „Bei uns lernen angehende Lehrkräfte zu diskutieren, ohne abweichende Meinungen in Schubladen zu stecken“, betont Raters. „Sie lernen, Materialien im Unterricht einzusetzen, die auf Fakten und nicht auf Gerüchten oder falschen Informationen aus den Sozialen Medien basieren.“ Hier sieht die Wissenschaftlerin eine Kernaufgabe für den gesellschaftswissenschaftlichen Bereich. „Meine Idee ist es, die Diskursregeln von Jürgen Habermas zu nehmen und daraus eine L-E-R-Methode zu entwickeln. Der gegenseitige Respekt wird zur interdisziplinären Klammer dafür, wie alle miteinander umgehen sollten – auch in hitzigen Debatten.“ Ob das funktioniert, weiß Raters noch nicht, aber Motivation, das Schulfach L-E-R weiterzuentwickeln, ist es allemal. „In jedem Fall gehört die weltanschauliche Reflexion in die gymnasiale Oberstufe“, wiederholt sie ihre Forderung an die Politik. „Das hat auch etwas mit der Hirnentwicklung zu tun, bestimmte Diskussionen sind – aufgrund der Hirnstruktur – erst mit 16 oder 17 Jahren möglich.“ Auch Stephanie von Steinsdorff plädiert für eine größere Anerkennung der Gesellschaftswissenschaften. „Die Politik denkt oft, der Wirtschaft bringt das keinen Mehrwert, doch für den Zusammenhalt der Gesellschaft wäre es wichtig und würde sich auch auszahlen“, ist sie überzeugt.

Schulunterricht modernisieren

Der Blick in den deutschsprachigen Raum bis nach Österreich und in die Schweiz ermöglicht den Forschenden auch allgemeine Rückschlüsse auf das eigene Bildungssystem. „Vieles ist veraltet, nicht mehr zeitgemäß“, fasst das Team um Marie-Luise Raters zusammen. „Unsere Lehrkräfte arbeiten zu wenig interdisziplinär, zu wenig problemorientiert. Durch die Fächeraufteilungen hängt das deutsche Bildungssystem den Briten und den Dänen hinterher“, betont Stephanie von Steinsdorff. „Projektarbeit mit Begegnungen und Erfahrungsaustausch müsste stärker eingesetzt werden.“ Ihren Kollegen Patrick Döring treiben die Unterrichtsmaterialien um. „Schulbücher können kaum noch benutzt werden, da sie vorurteilsbehaftete Fotografien enthalten. Der Islam als Schreckgespenst beispielsweise“, erläutert er. „Generell ist es schwer, geeignete Materialien zur Vermittlung des Islam aufzutreiben. Engagierte suchen auf Flohmärkten nach Reliquien und bauen einen Wühltisch auf“, beschreibt er das Konzept des sinnbasierten Lernens. „Da liegen dann Kopftücher, schwarze Würfel, die die Kaaba – das Gebäude im Innenhof der Moschee in Mekka – darstellen sollen. Jeder kann sich was aussuchen, das kommt super an.“

Generell müssten sowohl der Lehrplan als auch der Studiengang für L-E-R überarbeitet werden. „Das Fach ist komplett überfrachtet: Religionskunde, Schwerpunkt Christentum, Ethik, Islam, komparatistische Methoden, Judentum, Konfliktmanagement – da fällt immer was hinten runter“, betont Marie-Luise Raters. Inwieweit die Ergebnisse des DFG-Projekts hier helfen können, möchte Patrick Döring weiter erforschen. „Brandenburg ist mit dem Schulfach L- E-R jedenfalls sehr gut aufgestellt“, bilanziert Raters. „Immer mehr Menschen wollen es an der Universität Potsdam studieren. 90 Leute sitzen aktuell in meiner Einführung, vorgesehen sind 60. Im Master aber bröckelt es dann, viele wechseln nach Berlin“, berichtet die Forscherin. „Sie wollen später an einem Gymnasium unterrichten. Wo wir wieder beim Anfang wären: L-E-R muss dringend in die gymnasiale Oberstufe in Brandenburg.“

Die Forscherin

Apl. Prof. Dr. Marie-Luise Raters forscht und lehrt am Institut für LER/Institut für Philosophie der Universität Potsdam.
E-Mail: mlratersuni-potsdamde

Das Projekt

Modelle des Religionsunterrichts im Vergleich: Das Thema „Islam“ aus Perspektive von Lehrkräften und Schüler*innen
Beteiligt: Universität Potsdam (Apl. Prof. Marie-Luise Raters), Universität Tübingen, Universität Wien (Österreich), Universität Zürich (Schweiz)
Förderung: Schweizerischer Nationalfond (SNF), Österreichischer Wissenschaftsfond (FWF) und Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG)
Laufzeit: 9/2021–8/2024

 

Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal Wissen - Eins 2024 „Bildung:digital“ (PDF).