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Präziser, effizienter, umweltfreundlicher – Wie digitale Hilfsmittel die Landwirtschaft verändern

Der zukünftige Leibniz-Innovationshof in Groß Kreutz
Screenshots aus dem digitalen Schulungsprogramm, das die Forschenden entwickeln.
Florian Nowotny sitzt an seinem Schreibtisch und zeigt auf den Monitor.
Foto : Heike Kampe
Der zukünftige Leibniz-Innovationshof in Groß Kreutz
Foto : Florian Nowotny
Screenshots aus dem digitalen Schulungsprogramm, das die Forschenden entwickeln.
Foto : Heike Kampe
Über eine VR-Brille können verschiedene Szenarien durchgespielt und neue landwirtschaftliche Methoden trainiert werden.

Können wir Lebensmittel klima- und umweltfreundlicher produzieren als bisher? Diese Frage treibt Forschende bereits seit Jahrzehnten um und ist heute aktueller denn je. Neue digitale Hilfsmittel und Methoden könnten ein Teil der Lösung sein. Forschende der Agrarwissenschaften und der Informatik untersuchen gemeinsam, wie die neuen Verfahren ihren Weg in die Praxis finden.

Den Tieren scheint das kühle und nasse Wetter nichts auszumachen. Während sich die vier Forscherinnen und Forscher beim Hofrundgang vor Wind und Wetter unter ihren Kapuzen verstecken, fressen die Rinder in ihrem Gatter gelassen und anscheinend zufrieden Heu. 180 Milchrinder, 80 Mastrinder, 100 Mutterkühe, 450 Schafe und 20 Ziegen leben auf dem Gelände der Lehr- und Versuchsanstalt für Tierzucht und Tierhaltung (LVAT) in Groß Kreutz. Die Einrichtung bewirtschaftet 940 Hektar Land und arbeitet nach den Regeln eines landwirtschaftlichen Betriebes – ist gleichzeitig aber ein Ort der Forschung und Ausbildung. Hier werden etwa Fragen zum Tierwohl, zu unterschiedlichen Haltungsformen und Treibhausgasemissionen untersucht.

Die Pläne für die Einrichtung gehen aber noch viel weiter: „In den kommenden Jahren entsteht hier der Leibniz-Innovationshof für nachhaltige Bioökonomie“, erklärt Kathleen Bischoff, Versuchstechnikerin am Leibniz-Institut für Agrartechnik und Bioökonomie (ATB) beim Rundgang über den Hof. Aus der Versuchsanstalt wird unter Federführung des ATB ein Modellbetrieb für eine biobasierte Kreislaufwirtschaft, die innovative und zukunftsfähige landwirtschaftliche Produktionswege entwickelt und erprobt. Bis Ende 2026 soll die Infrastruktur der Forschungseinrichtung stehen.

Bedarfsgerecht düngen und Ressourcen sparen

Die Forschenden der Universität Potsdam und des ATB, die an diesem kalten Tag vor Ort sind, gehören zu den vielen Akteuren, die daran beteiligt sind und die ersten Grundsteine für das Vorhaben legen. Sie sind Teil eines Forschungskonsortiums mit Partnern verschiedener Einrichtungen aus Berlin und Potsdam, die mit dem Forschungsprojekt „Wissensbasierter Präzisionspflanzenbau in einem Mischbetrieb“ – kurz „Digi- Mix–PA“ – am Standort des künftigen Innovationshofes neue Technologien testen und etablieren wollen.

Hinter dem Wortungetüm „Präzisionspflanzenbau“ verbirgt sich die Idee, die Pflanzen mit der genau richtigen Menge an Dünger, Wasser oder Pflanzenschutzmitteln zu versorgen, die sie benötigen, um optimal zu wachsen. Das spart Dünge- und Pflanzenschutzmittel, steigert Erträge und schont die Umwelt. „Momentan wird ein Feld meist einheitlich betrachtet und bewirtschaftet“, erklärt der Geoökologe und Bodenkundler Sebastian Vogel vom ATB. „Innerhalb von wenigen Metern kann es aber teilweise große Unterschiede in den Bodeneigenschaften und damit im Düngebedarf geben, und das erfordert ein angepasstes Management und digitale Hilfsmittel.“ Das Ziel von „DigiMix-PA“ ist es, viele dieser Hilfsmittel zusammenzubringen und ihr Zusammenspiel in der Praxis zu erproben.

Wie kann man Landwirtschaft mit digitaler Unterstützung präziser, genauer und effizienter machen? „Daran forscht die Wissenschaft schon seit über 30 Jahren“, sagt Sebastian Vogel. Die Liste der bereits existierenden Instrumente ist dementsprechend lang – von GPS-gestützten automatischen Lenksystemen in landwirtschaftlichen Maschinen über Sensoren, die Nährstoffgehalte in Böden und Pflanzen messen und darüber den Düngebedarf ermitteln, bis hin zu Drohnen, die aus der Luft mithilfe von hochauflösenden Kameras und künstlicher Intelligenz unerwünschte Beikräuter auf dem Acker erkennen und gezielt mit Herbiziden behandeln können. Dennoch gibt es eine große Lücke zwischen dem, was bereits existiert, und dem, was tatsächlich auf den Feldern eingesetzt wird: „Die vorhandenen Techniken werden in der landwirtschaftlichen Praxis noch viel zu wenig angewendet“, fasst der Forscher zusammen.

Viele Landwirte sind unsicher und überfordert

Die Gründe dafür sind vielfältig. Einer davon ist die Unsicherheit der Landwirtinnen und Landwirte, ob sich die notwendigen Investitionen tatsächlich irgendwann auszahlen. Außerdem gibt es bisher kaum systematische Lösungen, die die komplette Produktionskette eines Betriebes abdecken. Stattdessen sehen sich die Landwirtinnen und Landwirte mit vielen Einzellösungen konfrontiert, die entweder den Boden, Pflanzenkrankheiten oder die Nährstoffversorgung im Fokus haben. Nicht zuletzt fehlt das nötige Wissen über den richtigen Umgang mit der digitalen Technik. Um diese Hürden zu beseitigen, arbeiten Forschende der Agrarwissenschaft und der Informatik im Projekt eng zusammen.

Auf einem gut 17 Hektar großen Experimentierfeld wollen sie nun ganz konkret untersuchen, wie der Präzisionspflanzenbau in der Praxis ganzheitlich umgesetzt werden kann und wie er sich finanziell auf den Betrieb und ökologisch auf die Umwelt auswirkt. „Wir wollen die vielen einzelnen Praxislösungen zusammenführen und den Betrieb mit all seinen Abläufen am Beispiel der Stickstoffdüngung einmal komplett durchdigitalisieren“, erklärt Sebastian Vogel die Vision. Um die vielfältigen Daten von Arbeitsmaschinen, Drohnen und Sensornetzwerken in Echtzeit zu übertragen, wird ein 5G-Campusnetz eigens für die Versuche angeschafft. Nicht zuletzt geht es darum, den Landwirtinnen und Landwirten konkrete Hilfen an die Hand zu geben, um den Umstieg zu erleichtern. „Denn die Forschung sagt, dass es sich lohnt“, betont Vogel.

Der erste Arbeitsschritt ist eine umfangreiche und genaue Kartierung des Bodens, in der die Forschenden diesen mit verschiedenen Sensoren abfahren, um etwa den pH-Wert, den Humusgehalt oder die Bodentextur hochaufgelöst zu bestimmen. 2024 starten dann die Feldversuche, in denen der Stickstoff nicht wie bisher üblich überall gleichmäßig, sondern bedarfsgerecht gedüngt wird. Wie hoch der Stickstoff- Düngebedarf tatsächlich ist, errechnen die Forschenden mit den Daten der Bodensensoren und auch mit Messgeräten, die die Stickstoffversorgung der Pflanzen bestimmen. Auf dem Markt gibt es dafür bereits Sensoren, die etwa an einem Traktor angebracht werden können und während der Fahrt über den Acker messen, ob die Pflanzen einen Mangel haben oder ob sie gut versorgt sind.

Lohnt es sich auch finanziell?

Um bedarfsgerecht zu düngen, müssen die Forschenden einerseits wissen, wie viel Stickstoff die Pflanzen an ihrem jeweiligen Standort und in ihren einzelnen Wachstumsphasen benötigen. Andererseits werden neue technische Lösungen gebraucht. Denn die bisher genutzten Schleuderstreuer können die Düngemittel nicht genau genug auf der Fläche verteilen. Für ihre Versuche verwenden die Forschenden sogenannte pneumatische Düngestreuer, die das Düngegranulat nahezu punktgenau und variabel ablegen können. Der Stickstoff wird darüber hinaus nicht nur über Mineraldünger, sondern zusätzlich über organischen Dünger aufs Feld gebracht. Damit wird die in einem Mischbetrieb ohnehin anfallende Gülle der Nutztiere als wertvolle Stickstoffquelle weitergenutzt und Stoffkreisläufe werden geschlossen. Dafür wird ein hochmodernes Güllefass mit einem integrierten Sensor angeschafft. Er misst die Nährstoffgehalte der Gülle schnell und genau, während sie befüllt und ausgebracht wird, und passt die Menge an die Bedarfe an.

Am Ende der Versuche wird Bilanz aus den verschiedenen Düngeszenarien gezogen: Wie hoch sind die Kosten, die die geänderten Betriebsabläufe verursachen? Wie viele zusätzliche Arbeitsstunden erfordern sie? Wie wirkt sich das alles auf den Ertrag und den Gewinn des Betriebes aus? Können Düngemittel eingespart werden? Gelangen mit der angepassten Düngung weniger Schadstoffe in die Luft oder ins Grundwasser?

Das Wissen über Stoffkreisläufe, Ökologie und Ökonomie ist die eine Seite. Auf der anderen Seite stehen die Landwirtinnen und Landwirte, die die Erkenntnisse umsetzen müssen – und damit bisher oft ziemlich allein dastehen. „Es ist für Landwirte eine wahnsinnige Umstellung, die Digitalisierung anzunehmen und in die Betriebsabläufe zu integrieren“, erklärt Kathleen Bischoff. „Die Betriebsmittel werden teurer, Arbeitskräfte sind knapp und man muss als Landwirt wirklich gut abwägen, welche Maßnahmen man umsetzt und wie kostenintensiv diese sind.“ Sie beobachtet, dass junge Landwirtinnen und Landwirte eher bereit sind, dafür neue digitale Methoden zu nutzen als ihre älteren Kolleginnen und Kollegen. „Die breite Masse ist davon aber noch nicht überzeugt, ist unsicher oder teilweise überfordert.“

Treckertraining und Zeitreisen in der Virtualität

An dieser Stelle setzt die Informatikprofessorin Ulrike Lucke von der Universität Potsdam an: „Letztendlich ist der Umgang mit digitaler Technik eine motorische Fähigkeit. Und die erwerbe ich nicht, wenn ich am Schreibtisch sitze und mich irgendwo durchklicke, sondern indem ich mich bewege und mit meinem Körper den Vorgang einübe.“ Wie das aussehen kann, zeigt ihr Mitarbeiter Florian Nowotny. „Bitte einmal aufsetzen“, sagt er, während er eine VR-Brille überreicht. Die Brille öffnet das Tor zu einer virtuellen Welt, während die Realität im Büro mit Schreibtischen, Stühlen und Gesprächspartnern verschwindet. Wer die Brille trägt und nach dem eingeblendeten Schlüssel greift, befindet sich in einem tuckernden Traktor, der mithilfe zweier Joysticks über ein Feld gesteuert werden kann. Dort können verschiedene Düngeszenarien durchgespielt und ausgewertet werden. Ein Farbcode auf dem Monitor macht etwa sichtbar, an welchen Stellen zu viel oder zu wenig gedüngt wird und welche Unterschiede es zwischen dem Schleuderdüngerstreuer und dem präziseren pneumatischen Düngestreuer gibt: Rot bedeutet, es ist zu viel Dünger auf dem Feld, Grün heißt, die Menge ist optimal und entspricht dem tatsächlichen Bedarf. Über das Menü ist außerdem der rasche Wechsel vom Traktor zur Drohne möglich: Virtuell blickt man plötzlich aus der Vogelperspektive übers Feld und kann das Ergebnis der eigenen Arbeit und die Auswirkungen auf die nähere Umgebung betrachten.

Die Anwendung steckt noch in den Kinderschuhen und wird in den kommenden Jahren Schritt für Schritt erweitert. „Wir wollen eine niedrigschwellige Lernumgebung für Landwirte schaffen, die nachstellt, wie die verschiedenen technischen Komponenten zusammenwirken und wie sie sinnvoll eingesetzt werden können“, erklärt Ulrike Lucke. Mit der Anwendung kann einerseits der Einsatz neuer Techniken trainiert und ausprobiert werden, andererseits werden die Folgen des eigenen Handelns sichtbar gemacht. Welche Unterschiede gibt es zwischen einer automatisierten und einer manuellen Düngung? Was passiert mit dem benachbarten See in fünf oder zehn Jahren, wenn die Felder überdüngt werden? Wie verändert sich der Boden während dieser Zeitreise? Ist mein Hof auch in 30 Jahren noch produktiv und wirtschaftlich, wenn ich weiter so wirtschafte wie bisher? All das können verschiedene Szenarien der VR-Anwendung in Zukunft zeigen, wenn diese mit den experimentellen Daten verknüpft werden.

Noch geht es darum, die einzelnen Lernziele zu definieren und sinnvolle Simulationen zu erarbeiten. Das Potenzial liegt bereits jetzt auf der Hand: „Solche immersiven Techniken haben einen großen Lerneffekt“, ist Ulrike Lucke überzeugt. „Wenn man in der VR steckt und ein Teil des Ganzen ist, kann sehr leicht Betroffenheit erzeugt werden: Es betrifft mich, wenn durch mein Handeln der See kippt oder sich das Klima ändert. Wir wollen untersuchen, welche Lerneffekte wir durch diesen Perspektivwechsel herbeiführen können“, erklärt die Wissenschaftlerin eines ihrer Forschungsziele. Dieser Lerneffekt könnte auch für die Ausbildung künftiger Landwirtinnen und Landwirte oder zu Demonstrationszwecken auf landwirtschaftlichen Messen hilfreich sein. Dass sie sich dafür als Informatikerin in agrarwissenschaftliche Themen hineindenken muss, fällt Ulrike Lucke nicht schwer. „Natürlich ist damit einiges an Recherche verbunden. Aber das Thema liegt mir nicht allzu fern. Als Kind wollte ich mal Tierpflegerin werden“, erzählt sie und lacht.

Die Forschenden

Prof. Ulrike Lucke ist seit 2010 Professorin für Komplexe Multimediale Anwendungsarchitekturen an der Universität Potsdam. Sie leitet das Teilprojekt Transfer des Forschungsprojekts DigiMix-PA, das Erkenntnisse aus anderen Teilprojekten in VR-basierte Lernanwendungen überführt.
E-Mail: ulrike.luckeuni-potsdamde

Florian Nowotny ist seit 2019 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Informatik.
E-Mail: fnowotnyuni-potsdamde

Dr. Sebastian Vogel ist Spezialist für Bodenkunde. Am Leibniz-Institut für Agrartechnik und Bioökonomie(ATB) leitet er die Arbeitsgruppe Sensorbasierte Bodenkartierung und ist Koordinator des Projekts DigiMix-PA.
E-Mail: SVogelatb-potsdamde

Kathleen Bischoff ist Versuchstechnikerin im Pflanzenbau am Leibniz-Institut für Agrartechnik und Bioökonomie (ATB). Sie arbeitet im Projekt Leibniz-Innovationshof für nachhaltige Bioökonomie.
E-Mail: KBischoffatb-potsdamde

Das Projekt

Im Projekt „DigiMix-PA – Wissensbasierter Präzisionspflanzenbau in einem Mischbetrieb“ entwickeln Forschende eine praxistaugliche Lösung für eine digitalisierte Produktionskette in einem landwirtschaftlichen Mischbetrieb.
Beteiligt: Helmholtz-Zentrum Potsdam Deutsches GeoForschungsZentrum (GFZ), Leibniz-Institut für Agrartechnik und Bioökonomie e.V. (ATB), Technische Universität Berlin (TUB), Universität Potsdam (UP)
Laufzeit: 12/2022–12/2025
Förderung: Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft
Zum Projekt: https://www.atb-potsdam.de/de/forschung/forschungsprojekte/projektsuche/projekt/projekt/digimix-pa

Der Leibniz-Innovationshof

Für eine nachhaltige Landwirtschaft der Zukunft braucht es neue Konzepte. Wie diese aussehen können, wird auf dem zukünftigen Leibniz-Innovationshof für nachhaltige Bioökonomie (InnoHof) erprobt. Der bestehende landwirtschaftliche Betrieb (LVAT e.V., Groß Kreutz) wird dafür zu einem Modellbetrieb ausgebaut, der weiter diversifiziert, digitalisiert und um eine Forschungsbioraffinerie erweitert wird. In dem Betrieb soll getestet werden, wie eine zirkuläre Bioökonomie, die alle anfallenden Roh- und Reststoffe hocheffizient nutzt und möglichst keinen Abfall produziert, in der Praxis aussehen kann. Mit innovativen Verfahren und Technologien werden zukünftig Algen kultiviert, Insekten aufgezogen, Naturfasern verarbeitet, Biochemikalien erzeugt und Reststoffe in der integrierten Biogasanlage optimal genutzt. Das Leibniz-Institut für Agrartechnik und Bioökonomie (ATB) leitet das Projekt und kooperiert dafür mit zahlreichen weiteren Forschungseinrichtungen, um den Innovationshof als Modellbetrieb zu etablieren. Künftig sollen Leibniz-Einrichtungen, Hochschulen und außeruniversitäre Forschungseinrichtungen hier gemeinsam an inter- und transdisziplinären Fragestellungen forschen. Über einen intensiven Wissens- und Technologietransfer profitieren Landwirtinnen und Landwirte und Verbraucherinnen und Verbraucher von den Erkenntnissen aus der Forschung. Der Aufbau des Modellbetriebs wird mit Investitionsmitteln des Landes Brandenburg gefördert.

Zur Website: https://leibniz-innohof.de

 

Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal Wissen - Eins 2024 „Bildung:digital“ (PDF).

Veröffentlicht

Online-Redaktion

Sabine Schwarz