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„Das Grundgesetz hat sehr früh wegweisende Freiheiten verankert“ – Prof. Dr. Frank Bösch zum Jubiläum der bundesdeutschen Demokratie

Prof. Dr. Frank Bösch
23. Mai 1949: Konrad Adenauer (3. v. l.) verkündet das Grundgesetz. Mit dabei auch Helene Weber (l.), eine der vier Frauen im Parlamentarischen Rat.
Foto : Thomas Roese
Prof. Dr. Frank Bösch
Foto : Stadtarchiv und Stadthistorische Bibliothek Bonn / Georg Munnker
23. Mai 1949: Konrad Adenauer (3. v. l.) verkündet das Grundgesetz. Mit dabei auch Helene Weber (l.), eine der vier Frauen im Parlamentarischen Rat.

Mit dem Grundgesetz wurde vor 75 Jahren unsere Demokratie begründet. Frank Bösch ist Direktor des Leibniz-Zentrums für Zeithistorische Forschung (ZZF) Potsdam und Professor für deutsche und europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts an der Universität Potsdam. Im Interview beschreibt er, was die deutsche Verfassung auszeichnet und wie die Umsetzung der dort festgeschriebenen Rechte oftmals erst erkämpft werden musste.  

„Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.“ So heißt es in Artikel 2.2 des Grundgesetzes (GG). Welche Bedeutung kam der Freiheit bei der Begründung der Demokratie vor 75 Jahren zu?

Das Grundgesetz hat früh wegweisende Freiheiten verankert. Es war 1949 viel fortschrittlicher, viel liberaler als die Gesellschaft der 1950er-Jahre und vor allem als die meist konservativen leitenden politischen Beamten in den Ministerien. Diese Freiheitsrechte hatten Bezugspunkte in der Paulskirchenverfassung von 1848/49 und der Weimarer Verfassung. Sie reichten aber, durch den Einfluss der Westalliierten, deutlich darüber hinaus. Denn das GG wurde zwar von den Deutschen selbst im sogenannten Parlamentarischen Rat verfasst, doch die Alliierten mussten die Verfassung absegnen.

Bei der Entstehung des Grundgesetzes vor 75 Jahren war Freiheit ein antikommunistisch aufgeladener Schlüsselbegriff, der in Konkurrenz zur „Gleichheit“ im Sozialismus angeführt wurde. Die Grundrechte in Artikel 1 bis 19 gewähren individuelle Freiheiten wie die Pressefreiheit, Meinungsfreiheit, das Postgeheimnis oder die Unverletzlichkeit der Wohnung. Diese wurden jedoch schon in den 1950er-Jahren eingeschränkt, etwa wenn Menschen kommunistischer Aktivitäten verdächtigt wurden. Im Rahmen des Verbotes der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) wurden viele Tausend Menschen verdächtigt, zahllose Briefe geöffnet, Telefonate abgehört und Personen schon bei geringen Verdachtsmomenten überwacht.

Wie setzte sich der Parlamentarische Rat zusammen?

Die 65 Mitglieder des Parlamentarischen Rates waren von den Landesparlamenten gewählt worden. Nur vier von ihnen waren Frauen. Der Parlamentarische Rat hatte als Grundlage wiederum einen Entwurf vom Verfassungskonvent in Herrenchiemsee erhalten und debattierte diesen nun. Da im Rat Vertreter der unterschiedlichen Parteien saßen – neben CDU/CSU und SPD auch FDP, KPD, DP und Zentrum –, gab es um die Ausgestaltung einiger Paragrafen ein hartes Ringen. Der Parlamentarische Rat war ein Provisorium, da die Ostdeutschen nicht mit über die Verfassung abstimmen konnten. Normalerweise gibt es eine „verfassungsgebende Nationalversammlung“. Ebenso trägt auch das GG bis heute seinen provisorischen Namen und heißt nicht wie üblich „Verfassung“.

Sie nannten das Grundgesetz im Vorgespräch „großartig“. Was zeichnet es aus?

Das GG wird zu Recht dafür gelobt, dass es mit kurzen, klaren Sätzen sehr lange währende, liberale Regeln geschaffen hat. Es hat sich vor allem im Hinblick auf das Gefüge politischer Organe bewährt, also das Zusammenspiel von Bundesregierung, Bundestag, Bundesrat und Bundesverfassungsgericht. Die gestärkte Stellung des Bundeskanzlers, der nur unter erschwerten Bedingungen durch ein Misstrauensvotum abgewählt werden kann, war mit Blick auf die Weimarer Republik ein wichtiger Schritt. Aber auch das in der Praxis gewachsene Zusammenspiel zwischen Bundespräsident und Kanzler sowie die Beteiligung der Parteien in diesem Gefüge haben sich bewährt. Nicht zuletzt erwiesen sich die Freiheitsrechte, die durchs Bundesverfassungsgericht abgesichert werden, langfristig als wegweisend, auch wenn anfangs die dort genannten Formen von Gleichheit und Freiheit so noch nicht umgesetzt wurden.

Wie unterscheidet sich das Grundgesetz von anderen Verfassungen?

Ich würde die sehr liberale Note des Textes unterstreichen. Während Juristen eher das Gesetzeswerk betrachten, analysieren Historiker, in welchem Bezug die politische und gesellschaftliche Entwicklung zum Grundgesetz steht. Daran lassen sich Stärken und Schwächen des Gesetzestextes ausmachen, etwa beim Föderalismus. Dass der Föderalismus nicht ganz so stark ausgeprägt ist, wie von den USA und Frankreich intendiert, hat sich letztlich als positiv erwiesen. Dennoch haben wir bis heute massive Probleme, weil Gesetze in langwierige Vermittlungsausschüsse müssen und oft schwerlich umgesetzt werden können. Trotz der Föderalismusreform 2006 haben die föderalen Blockaden zugenommen.

Was etwa die Gleichstellung betrifft, war das GG in der Anlage sehr gut: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt.“ So knapp, präzise und eindeutig Artikel 3 formuliert ist, so schleppend und zögerlich war die Umsetzung. Der Artikel ist ein Erfolg der vier Frauen im Parlamentarischen Rat, aber auch die SPD hat Gleichberechtigung gefordert, während Parteien wie die CDU ihn blockierten. Doch das Strafgesetzbuch und das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) aus der Kaiserzeit mit seiner patriarchalen Familienstruktur bestanden weiter fort, da der Bundestag die Überarbeitung verschleppte. Das Letztentscheidungsrecht des Mannes in Fragen der Ehe und der Familie beispielsweise wurde erst 1957 mit ganz knapper Mehrheit im Bundestag abgeschafft, und das auch nur, weil einzelne Frauen aus der Union ausscherten. Erst 1977 erfolgte der Abschied vom Leitbild der Hausfrauenehe im BGB. In der Praxis fand die Gleichberechtigung von Mann und Frau ohnehin kaum Umsetzung und erst 1994 folgte der Zusatz, dass die Berufstätigkeit von Frauen durch den Staat gefördert werden soll. Der Gegensatz zwischen der Präzision des GG, das die Gleichberechtigung in vier Worten festschreibt, und deren Umsetzung könnte fast nicht größer sein.

Inwieweit beendete das GG rassistische Diskriminierung?

In Artikel 3 gibt es die wegweisende Formulierung, dass niemand aufgrund seiner „Rasse“, wie es dort heißt, Herkunft oder Religion diskriminiert werden darf. De facto aber hatten wir eine jahrzehntelange Diskriminierung von Menschen mit dunklerer Hautfarbe, die als „Ausländer“ markiert wurden. So wurden etwa in den 1950er-Jahren sogenannte „Besatzungskinder“, die aus Beziehungen mit Alliierten stammten, oft in Waisenhäuser abgeschoben. Migranten*innen aus südlichen Staaten erhielten nach dem Ausländergesetz von 1965 Demonstrationsverbote und wurden sogar abgeschoben, weil ihr Protest angeblich die diplomatischen Beziehungen zu ihrem Herkunftsland behinderte. Die politische Meinungsfreiheit galt damit nicht für alle im gleichen Maße. Wir haben im GG einen sehr starken Schutz der Religion aufgrund der christdemokratischen Mehrheit. Doch die Freiheit des Sexuallebens oder der Geschlechterpräferenz ist nicht geschützt. Noch bis 1969 galten nach dem Paragrafen 175 des StGB Haftstrafen für homosexuelle Handlungen.

Ist das ein deutsches Spezifikum?

Das ist in vielen Nationen zu beobachten. Auch die Verfassung der USA schrieb die Gleichheit der Menschen fest, die aber durch Rassismus untergraben wird. Und doch lebten in Deutschland Traditionen, auch aus dem Nationalsozialismus, fort, die die Diskriminierung von Frauen oder Migrantinnen und Migranten fördern. Spannend zu beobachten ist aber, wie sich Öffentlichkeit, politische Praxis und Grundgesetz zueinander verhielten. Hinzu kommt das Bundesverfassungsgericht als Mitspieler, das seit Ende der 1950er-Jahre zur Liberalisierung beiträgt.

Das Grundgesetz gilt als eine der am häufigsten geänderten Verfassungen der Welt. Seit 1949 ist es rund 60 Mal abgewandelt worden. Wie krisensicher ist es?

Die Ewigkeitsklausel in Artikel 79 legt fest, dass die Grundrechte und die föderale Ordnung in ihrer Intention nicht geändert werden dürfen. Die Hürden für Änderungen sind relativ hoch: Es braucht dafür eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Bundestag und im Bundesrat. Und doch wurde fast die Hälfte der Paragrafen modifiziert. Das liegt auch an einzelnen grundsätzlichen Reformen: 1956 wurden sehr viele Paragrafen durch die Einführung der Bundeswehr 1956 angepasst. 1994 wurde der Umweltschutz ins GG aufgenommen: Der Staat hat für die Zukunft der Kinder zu sorgen. Auch der Föderalismus als Dauerproblem wurde 2006 fester gezurrt, um die Zuständigkeiten von Bund und Ländern klarer zu fassen. Die meisten Änderungen fanden in der Großen Koalition 1966 bis 1969 statt. Das hing mit den sogenannten Notstandsgesetzen zusammen. Sie sind ein sehr interessanter Fall: Es gab großen öffentlichen Protest, weil befürchtet wurde, dass durch sie Grundrechte ausgehebelt werden könnten, etwa die Mobilitäts- oder Pressefreiheit. Damals gingen sehr viele Menschen auf die Straße, auch die 1968er waren sehr stark von diesem Protest getrieben.

Wie sieht es mit der Medienfreiheit aus, die in Artikel 5 beschrieben ist?

In den 1950er-Jahren wurde die Medienfreiheit sehr oft eingeschränkt. Häufig fand Zensur mit Verweis auf den Jugendschutz statt, Filme und Romane wurden verboten – was aber wohl eher politisch-ideologische Gründe hatte. Als in der Spiegel-Affäre 1962 die Räume des „Spiegels“ durchsucht und die leitenden Redakteure eingesperrt wurden – wegen eines Artikels über die Ausstattung der Bundeswehr –, gab es massive Proteste in der Öffentlichkeit. Als Folge entstanden später die Landespressegesetze, die die Freiheit der Arbeit von Journalisten absichern sollen.

Als besonders liberal galt das Asylrecht.

„Politisch Verfolgte genießen Asyl“ – dieser Satz wurde auf Drängen der Alliierten überhaupt erst aufgenommen. Dabei wurde der Paragraf zunächst auf Menschen bezogen, die vor dem Kommunismus fliehen, oder auf Deutsche, die als ehemalige Nationalsozialisten im Ausland verfolgt wurden. In den 1950er- und 1960er-Jahren gab es noch keine Vorstellung davon, dass Flüchtlinge außerhalb Europas nach Deutschland kommen könnten. Als sich ab 1979 die Asylzahlen erhöhten und der Paragraf plötzlich seinen eigentlichen Sinn erfüllte, dieses liberale Gesetz also erst mit Leben gefüllt wurde, wurde er im sogenannten Asyl-Kompromiss 1993 mit dem Verweis auf sichere Drittländer ausgehöhlt.

Wie würden sie die Verfassung der DDR, ebenfalls von 1949 einordnen? Und was passierte im Zuge der Wiedervereinigung mit den beiden konkurrierenden Gesetzestexten?

Die DDR-Verfassung war dem Wort nach nicht provisorisch angelegt wie das GG. Sie versprach sehr viele politische und individuelle Freiheiten, wie die Meinungsfreiheit. So wird in der Verfassung der DDR das Wort „Demokratie“ sehr viel häufiger erwähnt als im GG. Doch der dort angeführte Führungsanspruch der Sozialistischen Einheitspartei in Artikel 1 untergrub vieles. Zudem wurden die formal gewährten Freiheiten in der Verfassungsreform 1968 eingeschränkt. 1989, nach dem Fall der Mauer, gab es einen runden Tisch, um eine neue Verfassung in Ostdeutschland auszuarbeiten. Doch bei den Wahlen im März drängte die Mehrheit auf den schnellen Anschluss, die Reformer aus diesem Kreis erhielten kaum Stimmen. Umgesetzt wurde der Anschluss mit dem Artikel 23 und nicht mit dem Artikel 146, der eine gemeinsame neue Verfassung vorgesehen hätte. Einige Ostdeutsche forderten die gemeinsame neue Verfassung, aber unter westdeutschen Juristen und Politikern war die Angst groß, dass sich das GG, das sich 40 Jahre lang weitgehend bewährt hatte, jetzt zerpflückt werden könnte. Besonders der Wunsch nach direkter Beteiligung, der aus den Runden Tischen, aus dem Geist des Aufbruches, aus den Bürgerbewegungen und dem Demokratieverständnis in der DDR erwachsen war, fand so keinen Eingang.

Dieses Jahr ist Ihr Buch „Deals mit Diktaturen: Eine andere Geschichte der Bundesrepublik“ erschienen. Welche Beziehungen pflegte die BRD zu Diktatoren?

Für die bundesdeutsche Geschichte wurde bislang die Demokratisierung im Rahmen der Westbindung, die Abgrenzung vom Nationalsozialismus und die spätere Ostpolitik betont. Meine Studie erweitert den Blick auf den oft sehr engen Umgang mit nicht-demokratischen Staaten im Süden seit der Ära Adenauer, wie dem Iran unterm Schah, Franco-Spanien, der griechischen und der südkoreanischen Militärdiktatur, Lateinamerika oder später mit China oder Gaddafis Libyen. Dabei zeige ich, welche Grenzen eine gerade entstehende Demokratie nach dem Nationalsozialismus setzte, wenn sie mit Diktaturen kooperierte: Inwieweit erhielten sie weiter Entwicklungsförderung, Wirtschafts- oder Kapitalhilfe, und was bewirkten öffentliche Proteste oder Menschenrechtsgruppen wie Amnesty International? Die Nachwirkung dieser Kooperationen zeigt sich bis heute.

Der berühmte Satz „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ aus dem GG, der sehr knapp, aber mitunter auch mehrdeutig formuliert ist – gilt er nur in Deutschland und für Deutsche? Wie weit reichen politische Freiheiten? Demonstrantinnen und Demonstranten traten dafür ein, die im Grundgesetz geschützte Würde universalistischer zu denken, sich also auch für die Menschen außerhalb der deutschen Grenzen einzusetzen. Sie haben sich auch ihr Recht zu demonstrieren von unten erkämpft. Öffentlicher Druck kann also ein Umdenken in der politischen Führung bewirken.

 

Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal - Eins 2024 „Welt retten“ (PDF).