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Chaos im Kopf – Was ADHS mit uns macht und was wir damit machen können

Prof. Dr. Timo Hennig
Foto : Kevin Ryl
Prof. Dr. Timo Hennig

Karol sitzt ganz hinten in der Klasse, wiegt sich auf seinem Stuhl hin und her und spielt mit seinem Stift. Ab und zu schaut er aus dem Fenster, als träume er, dann wieder zur Tafel. Sein Blick wirkt fragend, vielleicht gelangweilt. Als die Lehrerin bemerkt, dass er nicht wie die anderen Kinder an seiner Aufgabe arbeitet, geht sie zu ihm, spricht ihn an. Karol hat ADHS, eine Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung. Keine Seltenheit in Deutschland: Aktuell soll mindestens jedes zwanzigste Kind betroffen sein, wobei es mindestens doppelt so viele Jungen wie Mädchen sind. „Von ADHS spricht man bei Kindern, die dauerhaft und deutlich stärker als andere unaufmerksam sind und sich nicht länger auf etwas konzentrieren können“, erklärt Timo Hennig. Der Professor für Inklusionspädagogische Psychologie forscht seit einigen Jahren zu Menschen, die davon betroffen sind. Manche seien nur verträumt, andere auch hyperaktiv, könnten nicht stillsitzen und reagierten impulsiv – was nicht selten als aggressives Verhalten fehlinterpretiert werde.

Der schlechte Ruf verschlimmert zum Problem

Fakt ist: ADHS hat einen schlechten Ruf, vor allem im schulischen Kontext. Hier wird die Störung meist zuerst entdeckt – weil es betroffenen Kindern schwerfällt, die Anforderungen unseres Schulsystems zu erfüllen: länger stillsitzen und auf eine Aufgabe fokussieren. Folglich kommen sie beim Lernen nur langsam voran. Außerdem seien die Lehrkräfte häufig überfordert, wenn Kinder mit ADHS aus dem Raster fallen und augenscheinlich den Unterricht stören. Die Folge: Sie gelten als schlechte Schüler*innen und Störenfriede. „Dabei sind Kinder mit ADHS oft durchaus leistungsfähig, haben nicht selten besondere Kompetenzen – können sie aber in unserem Schulsystem oft nur schlecht abrufen“, sagt Timo Hennig. Für den ausgebildeten Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten durchaus ein strukturelles Problem, das Anlass bietet, die Art, wie schulisches Lernen funktioniert, zu hinterfragen. „Wenn wir alle ADHS hätten, sähe Schule sicher anders aus“, ist er sich sicher. Deshalb forscht der Wissenschaftler schon länger dazu, wie Schüler*innen mit ADHS geholfen werden kann. Er hat sogar eine Handreichung mit sieben einfachen Maßnahmen entwickelt, die erwiesenermaßen helfen. So sollten Schüler*innen mit ADHS etwa in der Klasse vorn sitzen, dynamische Sitzgelegenheiten und öfter Pausen bekommen, auch für körperliche Bewegung, oder in kleinen Gruppen statt im Klassenverbund arbeiten, weil sie so besser folgen könnten. „Eigentlich nichts Verrücktes und recht einfach umzusetzen“, so der Forscher. Allein: In vielen Schulen werden sogenannte ADHS-spezifische Interventionen nur wenig eingesetzt, wie Hennig mit und sein Team in einer Befragung an Hamburger Schulen feststellen konnten. Oft fehlen Personal, Räume oder andere Ressourcen. Problematisch ist aber auch fehlendes Wissen und Vorurteile gegenüber ADHS. Mehr über die Störung und den richtigen Umgang mit ihr gehören deshalb ins Lehramtsstudium, sagt Timo Hennig. Für aktive Lehrkräfte sollte es entsprechende Fortbildungen geben.

Bislang bleibt es zumeist Aufgabe der Eltern betroffener Kinder, das Problem „in den Griff zu bekommen“. Als Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut rät Timo Hennig dazu, sich professionelle Hilfe zu holen: zunächst beim Kinderarzt und nach gesicherter Diagnose mit einer Psychotherapie. Dabei sollten die Eltern stets eingebunden bleiben. Denn sie müssen wie ihre Kinder lernen, was für diese gut ist, etwa mit Elterntrainings für die einen und behavioralen Trainings für die anderen. „Wichtig ist, für die Kinder Strukturen zu schaffen, Regeln und Grenzen zu setzen, die ihnen Orientierung geben“, so der Forscher. „Mindestens ebenso wichtig ist es aber, die Stärken des Kindes zu sehen und ihnen zu ermöglichen, sie selbst zu erfahren. Neben Strukturen muss es aber auch Freiheiten geben. Am wichtigsten aber ist, dass die Kinder spüren, sie werden geliebt und nicht nur kritisiert.“

Im Idealfall ist auch die Schule „mit an Bord“, klärt Lehrkräfte auf und schafft geeignete Lernumgebungen – beispielsweise mit den einfachen Maßnahmen, die Timo Hennig und sein Team in ihrer Übersicht zum „Nachteilsausgleich“ zusammengestellt haben. „Vieles davon ist eigentlich für alle Kinder gut und lernförderlich“, sagt er. „Besonders wichtig ist auch hier, dass die Lehrkräfte auch positive Entwicklungswege für die Kinder im Kopf haben und sie nicht nur als ADHS-Störenfriede ‚abstempeln‘“, sagt Hennig. „Kinder spüren so etwas und dann ist der Weg zur selbsterfüllenden Prophezeiung nicht weit. Wenn ihnen aber Lehrkräfte liebevoll und zugewandt begegnen, hilft das schon enorm.“

ADHS ist kein Kindheits-Problem

Das Zusammenwirken von Eltern, Schulen mit medizinischer und therapeutischer Betreuung hält der Forscher für essenziell, wenn es den Kindern gelingen soll, sich langfristig mit ihrem Anderssein und den Einschränkungen zu arrangieren. Denn tatsächlich sind nicht nur Kinder und Jugendliche betroffen, immer häufiger erhalten auch Erwachsene die Diagnose ADHS. Viele von ihnen leiden schon seit Jahren daran, wurden nur nie daraufhin untersucht. Man geht davon aus, dass 40 bis 60 Prozent derjenigen, die schon als Kinder unter ADHS litten, auch als Erwachsene weiterhin Probleme haben. „Oft sind sie durch die Schulzeit noch irgendwie durchgekommen, aber bekommen dann im Studium erstmals Probleme“, erklärt Hennig. Aufgaben, die sich nicht an einem Wochenende erledigen lassen, größere Vorträge, Abschlussarbeiten – Erwachsene mit ADHS haben oft Schwierigkeiten sich zu organisieren. Außerdem spürten sie die Störung im zwischenmenschlichen Bereich: Ihre häufigen Gefühlsschwankungen und Impulsivität sind für sie selbst und für andere mitunter belastend, Beziehungen und Freundschaften zu ihnen nicht immer einfach.

„Lange dachte man, die Störung sei auf das Kindesalter beschränkt“, so Timo Hennig. „Aber das Chaos im Kopf gibt es auch später noch.“ Deshalb forscht er mit seinem Team zu ADHS in mehreren Lebensphasen – von der Grundschulzeit bis zum Studium. Beispielsweise untersucht Doktorandin Rieke Köpke weitere Ansätze für Nachteilsausgleiche: „Aktuell schauen wir, ob es Kindern hilft, wenn sie beim Lernen Kopfhörer tragen, auf denen sie weißes Rauschen hören“, so Hennig. Denn inzwischen weiß man, dass ADHS-Betroffene auch unterstimuliert sein können. „Sie zappeln also, um sich zu stimulieren – und wir wollen schauen, ob das weiße Rauschen diese Funktion etwas übernehmen kann.“ Außerdem entwickelt Alina Vogl, eine zweite Doktorandin, ein Gruppenangebot für Kinder mit ADHS, das ihnen beim Umgang mit unangenehmen Gefühlen und ihrer Impulsivität helfen soll. Eine Kombination aus Forschungsprojekt und Hilfsangebot für junge Erwachsene hat Timo Hennig von der Universität Hamburg mitgebracht, von wo er 2023 nach Potsdam kam: In kleinen Gruppen und angeleitet von Timo Hennig sowie einer weiteren Therapeutin können Studierende sich austauschen – über Probleme bei der Selbstorganisation, Probleme mit Impulsivität und unangenehmen Gefühlen, Schwierigkeiten in sozialen Beziehungen oder ihre Erfahrungen mit ADHS allgemein. Hennig begleitet die Gruppe, nicht nur als geschulter Therapeut, sondern auch als Wissenschaftler. Dass diese Form psychologischer Unterstützung funktioniert, konnte er schon in Hamburg zeigen. „Die Studierenden melden uns zurück, dass ihnen der Austausch in der Gruppe sehr hilft. Es ist toll zu sehen, wie schnell sie Netzwerke bilden, sich gegenseitig unterstützen.“ Der Forscher will das Projekt deshalb an der Universität Potsdam gemeinsam mit der psychologischen Beratungsstelle fortführen und weiterhin wissenschaftlich evaluieren. Dafür haben sie unlängst einen Förderantrag gestellt. Nicht zuletzt behält er aus inklusionspädagogischer Sicht stets die Lehrkräfte im Blick und die Frage, wie seine Forschungsergebnisse den Weg in die Schulen finden. Deshalb ist ihm die Sensibilisierung der Lehrer*innen von morgen besonders wichtig: „Unsere Untersuchungen und Erfahrungen zeigen, dass es für die Kinder mit ADHS wichtig ist, dass sie Menschen haben, die ihnen offen und liebevoll begegnen, an sie glauben und ihre Stärken sehen. Das können die Eltern, aber auch eine Lehrkraft sein. Das bewirkt unglaublich viel!“

In der Zukunft möchte Timo Hennig noch enger mit Schulen zusammenarbeiten. Aktuell verteilt er seine Handreichung zum Nachteilsausgleich und wünscht sich einen Austausch darüber, wie sie sich umsetzen lassen. Aber auch neue Instrumente könnten im direkten Kontakt mit Schulen viel besser erprobt werden. Karol könnte das sicher gebrauchen.

Blick in die Geschichte

Auch wenn es mitunter den Anschein hat, ADHS sei ein Symptom des 21. Jahrhunderts: Ganz so neu sind derartige Störungen nicht. Hyperaktive Kinder gibt es schon lange – und sie werden auch schon lange stigmatisiert. Im „Struwwelpeter“, eine Geschichtensammlung des Arztes und Psychiaters Heinrich Hoffmann, wird der „Zappel-Philipp“ Opfer seiner Hyperaktivität bei Tisch und landet schließlich mit allem, was darauf war, darunter. 1968 wurde die hyperkinetische Störung erstmals in den Katalog gesundheitlicher Probleme aufgenommen, erklärt Timo Hennig. Die Schwerpunktsetzung auf die mangelnde Fähigkeit zur Konzentration folgte in den 1980er Jahren.

7 Tipps zum Nachteilsausgleich für Kinder mit ADHS:

  1. Sitzplatz vorn in der Klasse
  2. Dynamische Sitzgelegenheit
  3. Zusätzliche sensorische Stimulation
  4. Möglichkeiten zur Bewegung schaffen
  5. Zusätzliche Pausen
  6. Anleitung in Kleingruppen
  7. 1:1-Begleitung

https://www.uni-potsdam.de/de/inklusion/inkpsy/projekte/emna

Mehr zu ADHS: https://www.adhs-deutschland.de

 

Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal - Eins 2024 „Welt retten“ (PDF).