„Die Digitalisierung hat unser Leben längst durchdrungen“, sagt Katharina Scheiter. „Wir nutzen digitale Tools in nahezu allen Lebensbereichen, vom Job bis zum privaten Alltag. Dieser Entwicklung sollte Schule Rechnung tragen, denn es ist ja ihre Aufgabe, den Kindern und Jugendlichen alle wichtigen Kulturtechniken und einen kompetenten Umgang mit den Medien zu vermitteln.“ Das bedeute gleichwohl nicht, dass alle Lehr- und Lernprozesse, die bisher analog waren, durch digitale ersetzt werden müssen. Mitunter sei das sogar kontraproduktiv. „Am Bildschirm statt in einem Buch zu lesen, ist nicht verständnisfördernd, sondern beeinträchtigt dies teilweise sogar“, weiß die Bildungswissenschaftlerin. Um einen wirklichen Mehrwert zu erzeugen, könnten digitale Texte aber durch interaktive Elemente wie z.B. Verständnisfragen angereichert werden. Außerdem besitzen digitale Medien ein großes Potenzial, wenn es darum geht, das Lernen individueller zu gestalten und auf die sehr unterschiedlichen Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler in einer Klasse einzugehen. Und nicht zuletzt bieten sie faszinierende Möglichkeiten, komplexe Prozesse, abstrakte Inhalte und unzugängliche Phänomene zu visualisieren. Katharina Scheiter nennt zwei Beispiele aus den Naturwissenschaften: „Mit einer VR-Brille kann man zum Mars reisen oder ins Innere eines Atoms schauen.“ Denkbar sei auch ein Spaziergang durch das Alte Rom im Geschichtsunterricht oder skulpturale Malerei in der virtuellen Realität, wie sie derzeit schon in der Potsdamer Ausbildung von Kunstlehrkräften praktiziert wird.
Aufs Leben im Digitalen vorbereiten
Ausgangspunkt jeglicher Arbeit im Kompetenzverbund sei aber stets die Frage: Was ist guter Unterricht – und wie können digitale Medien helfen, ihn umzusetzen? Dabei seien die Medien nicht allein als Lern-Tools zu verstehen, weiß die Expertin. „Die schulischen Bildungsziele in Sachen Digitalität sollten wir viel breiter denken: Es geht darum, auf ein Leben in einer digitalen Welt vorzubereiten, das Lernen mithilfe digitaler Werkzeuge zu lehren. Auch die Fachkulturen, deren Inhalte wir vermitteln, haben sich durch die Digitalisierung verändert. Folglich sollte sich auch die Art verändern, wie wir sie vermitteln“, betont Katharina Scheiter.
Dieses ganzheitliche Verständnis liegt dem Verbund zugrunde, der all jenes Wissen zum Einsatz digitaler Medien im Unterricht erschließen und für Lehrkräfte nutzbar machen soll, das an den vielen deutschen Hochschulen und Forschungseinrichtungen erarbeitet wird. Dafür hat er sich thematisch in vier Kompetenzzentren gegliedert, die 2023 nach und nach an den Start gegangen sind: Das erste befasst sich mit Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik, das zweite mit Sprachen, Gesellschaftswissenschaften und Wirtschaft, das dritte mit Musik, Kunst und Sport und das vierte mit der Schulentwicklung. Aufgabe der Kompetenzzentren ist es, wirksame Methoden für die digitalisierungsbezogene Professionalisierung von Lehrkräften, aber auch für die gesamte digitale Transformation an Schulen zu entwickeln. Insgesamt sind in ganz Deutschland Hunderte Professuren und Forschungsgruppen daran beteiligt. Einige von ihnen gleich an mehreren Projekten.
In drei der vier Kompetenzzentren fließt auch Expertise von Potsdamer Forschenden ein. Sie sind an fünf verschiedenen Verbünden beteiligt, zwei davon werden von Potsdam aus koordiniert. Der eine trägt den Titel „KISS-Pro“ und beschäftigt sich mit „Künstlicher Intelligenz in Sprache und Schrift“. Die Bildungsforscherin Prof. Dr. Katrin Böhme koordiniert „KISSPro“. Ein zweiter, an der Uni Potsdam koordinierter Projektverbund soll sogenannte MIN-Lehrkräfte digital fit machen, also Lehrerinnen und Lehrer in den naturwissenschaftlichen Disziplinen Chemie, Mathematik, Biologie, Physik sowie in Informatik. Deshalb sind in Potsdam alle naturwissenschaftlichen Didaktiken und das Department Erziehungswissenschaft beteiligt. Wie der Mathematikdidaktiker Prof. Dr. Ulrich Kortenkamp, der mit seinem Team und den Partnern forschungsbasiert Fortbildungsmodule für den digital gestützten Unterricht entwickelt. „Ganz konkret ist das zum einen ein Basismodul zur kohärenten Unterrichtsplanung mit und zu digitalen Werkzeugen, das wir gemeinsam mit dem Leibniz-Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik Kiel und der TU Dortmund erstellen“, sagt der Wissenschaftler. „Zum anderen erarbeiten wir hier in Potsdam ein Vertiefungsmodul zum Argumentieren und Kommunizieren mit digitalen Werkzeugen in der Geometrie.“ Eine beispielhafte Lernumgebung wurde bereits geschaffen und in siebten Klassen in Brandenburg pilotiert. Nun folgt das passende Fortbildungs- Selbstlernmodul.
Prof. Dr. Isolde Malmberg ist gemeinsam mit anderen Potsdamer Forschenden am Verbund „DigiProSMK“ beteiligt. „Wie erarbeiten Module für die Fortbildung von Musiklehrer:innen – vor allem für Berlin und Brandenburg, aber auch darüber hinaus“, sagt die Musikwissenschaftlerin. „Alles dreht sich um zeitgemäßen Musik-, Kunst-, Sportunterricht und Filmvermittlung mit und zu digitalen Medien. Zum Beispiel: Musikmachen mit Interfaces, Musik erfinden in aktuellen Genres, kritische und mündige Nutzung von Social Media und KI oder KI in der Filmmusik, Kunst oder Musik erfinden in VR und AR.“
Ergebnisse bündeln und in die Praxis bringen
Die von Potsdam aus geleitete, bundesweit einzigartige Vernetzungs- und Transferstelle wird alle Innovationen zusammenführen und „auf die Straße bringen“: Sie unterstützt die Kompetenzzentren in ihrer Arbeit, bringt sie miteinander in den Austausch und bündelt ihre Ergebnisse für den Transfer in die Bildungspraxis. „Das setzt eine enge Zusammenarbeit mit Schulbehörden und Landesinstituten, Bildungspolitik und -verwaltung voraus“, sagt Katharina Scheiter. „Wir können nicht Hunderttausende Lehrkräfte schulen“, erklärt die Digitalisierungsexpertin. „Das übersteigt unsere Möglichkeiten – und ist auch gar nicht unsere Aufgabe. Für den bundesweiten Transfer adressieren wir vielmehr diejenigen, die die Weiterbildungen anbieten, zum Beispiel in den Landesinstituten. Die machen wir fit.“ Auf einer bundesweit etablierten digitalen Plattform der Länder soll das dafür notwendige Wissen anwendungsbereit zur Verfügung gestellt werden, kündigt Scheiter an. „So können wir sicherstellen, dass unsere Erkenntnisse nicht auf praxisfernen Plattformen dahinschlummern, sondern über die breite Qualifizierung der Lehrkräfte durch die Landesinstitute direkt in die Schulen gelangen und sich nachhaltig im gesamten Bildungssystem verankern.“
Der Weg in die Praxis ist auch Mathematikdidaktiker Ulrich Kortenkamp besonders wichtig: „Zum Glück können wir in der Mathematik auf die systemische Arbeit zu Professionalisierungsnetzwerken im Deutschen Zentrum für Lehrkräftebildung Mathematik (DZLM) zurückgreifen, sodass unsere Produkte in das durch die Kultusministerkonferenz initiierte QuaMath-Projekt einfließen können“, so der Forscher. Dadurch könnten die Mathematik-Fortbildungen bundesweit über ein Netzwerk von fast 400 Multiplikatorinnen und Multiplikatoren in die Fortbildungssysteme der Länder eingespielt werden und erreichen so in den nächsten Jahren bis zu 10.000 Schulen. „Gleichzeitig versuchen wir, aus diesem Beispiel für den Verbund zu lernen und ähnliche fachbezogene Strukturen auch in anderen MINT-Fächern aufzubauen. Das ist ein langer Prozess – das DZLM hatte hierfür über zehn Jahre Vorlauf.“
Die Forschenden
Prof. Dr. Katharina Scheiter ist seit2022 Professorin für Digitale Bildung an der Universität Potsdam, gefördert durch die Hasso Plattner Foundation.
E-Mail: katharina.scheiteruuni-potsdampde
Prof. Dr. Ulrich Kortenkamp ist seit 2014 Professor für Didaktik der Mathematik an der Universität Potsdam.
E-Mail: ulrich.kortenkampuuni-potsdampde
Das Projekt
Der Kompetenzverbund lernen:digital gestaltet den Dialog zwischen Wissenschaft und Praxis für die digitale Transformation von Schule und Lehrkräftebildung. Die von der Universität Potsdam koordinierte Vernetzungs- und Transferstelle des Verbunds bildet das Dach von insgesamt vier Kompetenzzentren, in denen die Forschung zu verschiedenen Fächergruppen gebündelt ist: Das erste befasst sich mit Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik, das zweite mit Sprachen, Gesellschaftswissenschaften und Wirtschaft, das dritte mit Musik, Kunst und Sport und das vierte mit der Schulentwicklung auf dem Feld der Digitalisierung. Aufgabe der Zentren ist es, innovative und wirksame Methoden für die digitalisierungsbezogene Professionalisierung von Lehrkräften sowie für die digitale Transformation an Schulen zu entwickeln.
Zur Webseite: https://lernen.digital/transferstelle/
Potsdamer Forschende in den Kompetenzzentren von Lernen:digital
In drei der vier Kompetenzzentren fließt auch Expertise von Potsdamer Forschenden ein. So bringt sich Prof. Dr. Vera Kirchner in das Projekt „Wirtschaftspädagogik und Ökonomische Bildung: Lehrkräftebildung und Unterricht digital (WÖRLD)“ ein, das im Kompetenzzentrum Sprachen/Gesellschaft/Wirtschaft angesiedelt ist. Zu diesem gehört auch der Verbund „KISS-Pro“, der sich mit „Künstlicher Intelligenz in Sprache und Schrift“ beschäftigt und „Professionalisierungskonzepte für und Nutzungsperspektiven von KI-basierten Feedbacksystemen und Schreibagenten für sprachliches Lernen in der Schule“ erarbeiten soll. Der Verbund, an dem auch etliche Forschende des Strukturbereichs Bildungswissenschaften beteiligt sind, wird von der Potsdamer Bildungsforscherin Prof. Dr. Katrin Böhme koordiniert. Im Kompetenzzentrum Musik/Kunst/Sport forscht der Verbund „DigiProSMK“ zur „digitalisierungsbezogenen und digital gestützten Professionalisierung“ von Lehrkräften. Hier sind mit Prof. Dr. Andreas Brenne, Prof. Dr. Esther Pürgstaller sowie Prof. Dr. Isolde Malmberg drei Professorinnen und Professoren der Uni Potsdam beteiligt. Zum Kompetenzzentrum MINT gehört der Verbund „DigiProMIN“, der sich mit der „Digitalisierungsbezogenen und digital gestützten Professionalisierung von MIN-Lehrkräften“ beschäftigt. An dem Verbund, der wie die Transferstelle von Katharina Scheiter koordiniert wird, wirken die Professuren aller naturwissenschaftlichen Didaktiken und das Department Erziehungswissenschaft mit. Außerdem forschen die Teams von Prof. Dr. Dirk Richter und Prof. Dr. Andreas Borowski im Verbund „D4MINT“, der „Didaktische Doppeldecker für digitale Bildung im MINT-Bereich“ entwickeln soll.
„WÖRLD“
Beteiligt: Prof. Dr. Vera Kirchner
https://lernen.digital/verbuende/woerld
„KISS-Pro“
Beteiligt: Prof. Dr. Katrin Böhme, Prof. Dr. Rebecca Lazarides, Prof. Dr. Steve Nebel
https://lernen.digital/verbuende/kiss-pro
„DigiProSMK“
Beteiligt: Prof. Dr. Andreas Brenne, Prof. Dr. Isolde Malmberg, Prof. Dr. Steve Nebel, Jun.-Prof. Dr. Esther Pürgstaller
https://lernen.digital/verbuende/digiprosmk
„DigiProMIN“
Beteiligt: Prof. Dr. Katharina Scheiter, Prof. Dr. Amitabh Banerji, Prof. Dr. Andreas Borowski, Prof. Dr. Ulrich Kortenkamp, Prof. Dr. Rebecca Lazarides, Prof. Dr. Ulrike Lucke, Prof. Dr. Helmut Prechtl, Prof. Dirk Richter
https://lernen.digital/verbuende/digipromin
„D4MINT“
Beteiligt: Prof. Dr. Dirk Richter, Prof. Dr. Andreas Borowski
https://lernen.digital/verbuende/d4mint
Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal Wissen - Eins 2024 „Bildung:digital“ (PDF).