Sollte Wissenschaft den Anspruch vertreten, „die Welt zu retten“?
Zurell: Ja und nein. Ich denke, Wissenschaft allein kann nicht die Welt retten. Sie sollte den Anspruch haben, Wissen zu schaffen und Fortschritt zu ermöglichen. Aber es gehören natürlich Politik und Gesellschaft dazu, das dann umzusetzen. Natürlich können wissenschaftliche Erkenntnisse sowohl positiv als auch negativ eingesetzt werden. Ob und wie diese Umsetzung erfolgt, liegt letztlich nicht in der Hand der Forschenden.
Günther: Ich denke auch, dass die Wissenschaft ganz wesentlich dazu beigetragen hat, dass viele Menschen ein lebenswertes und erfülltes Leben führen können. Dass wissenschaftliche Erkenntnisse auch Konsequenzen haben können, die weniger erquicklich sind, sogar zu Kriegen und Krisen führen können, liegt in der Natur der Sache. Aber insgesamt ist die Bilanz doch sehr positiv.
Was kann Forschung erreichen?
Zurell: Wir können Wege aufzeigen, wie bestimmte Dinge zu erreichen sind – Lösungswege für Krisen etwa –, und dadurch Entscheidungsfindungen unterstützen. Mithilfe wissenschaftlicher Erkenntnisse und darauf basierender Tools können Politik und Gesellschaft den Einfluss verschiedener Faktoren bewerten und anschließend evidenzbasierte Entscheidungen treffen.
Günther: Wissenschaft hat eigentlich zwei Antriebsfaktoren. Zum einen wollen Menschen den Dingen um sie herum schon immer auf den Grund gehen, nach dem Prinzip: „Was die Welt im Innersten zusammenhält“. Dies belegt die Menschheitsgeschichte, unsere Entwicklung sehr deutlich. Die andere essenzielle Motivation ist, Dinge konkret zu verbessern. In dieser Hinsicht ist vielleicht schon die Nutzbarmachung des Feuers Wissenschaft. Und bei unseren Überlegungen, wie wir auf unserem Planeten noch viele Jahrtausende nachhaltig und in einem harmonischen Miteinander leben können, spielt Wissenschaft eine zentrale Rolle. Sie wird uns helfen, die richtigen Mittel und Wege zu finden. Aktuelle Stichworte sind etwa Solarenergie und Windkraft, deren Nutzung das Ergebnis wissenschaftlicher Forschung ist.
Wie kommt dieses Wissen an die entscheidenden Stellen in der Gesellschaft, um die bestmögliche Wirkung zu entfalten?
Günther: Offensichtlich gibt es dafür zahlreiche Wege. Wenn man auf aktuelle Krisen schaut, können sicherlich die Naturwissenschaften einiges leisten, gerade was Energie angeht. Aber auch die Sozial- oder Geisteswissenschaften erzielen Erkenntnisse, die uns helfen, in dieser Welt besser zurechtzukommen. Und wenn ich mir die so schwierigen politischen Gemengelagen in den USA, aber auch in Deutschland und vielen anderen Ländern anschaue, spielt auch die Psychologie eine wichtige Rolle, um solchen populistischen Tendenzen richtig zu begegnen. Es gibt vielerorts Handlungsbedarf – und Möglichkeiten für die Wissenschaft sich einzubringen. Vor allem im Dialog mit der Politik.
Zurell: Ich denke auch, es kommt ganz auf die Situation an: In akuten Krisen wie der Corona-Pandemie, aber auch in Bezug auf Klimakrise und Biodiversitätskrise, die vielen Menschen vielleicht nicht ganz so akut erscheinen, kann Wissenschaft viel erreichen, indem sie vor allem die Politik informiert und aufklärt. Gleichzeitig sollte sie das auch für die Gesellschaft als Ganzes tun: In der Pandemie wurde deutlich, wie viel es den Menschen bedeutet hat, dass Wissenschaftler*innen ihnen die oft sehr abstrakten Zahlen erklärt haben. Gleichzeitig ist es meines Erachtens auch unsere Aufgabe, die Informationen in die Breite zu tragen. Damit meine ich nicht unbedingt nur in die Gesellschaft. Vielmehr sollten wir dafür einstehen, dass für die ganze Welt dieselben Informationen zugänglich sind, dass – im Sinne von Open Access – alle Menschen Möglichkeiten bekommen, an Wissen zu gelangen. Wir sollten uns darum bemühen, unsere Erkenntnisse weiterzugeben, so dass sie auch anderen Ländern, Wissenschaftlern, Politik oder Gesellschaft zur Verfügung stehen.
Günther: Wenn ich da anknüpfen darf: Die weltweit bestehenden Ungleichheiten sind ein großes Problem. Und ich hoffe durchaus, dass Wissenschaft helfen kann, über mehr Gerechtigkeit und Wege, wie sie zu erreichen ist, nachzudenken. Ohne Wissenschaft werden wir die aktuellen Herausforderungen nicht bewältigen. Aber auch nicht allein mit ihr. Sie braucht Partner in der Politik, im gesellschaftlichen Diskurs, die das, was die Wissenschaft leisten kann, auch nutzen und umsetzen.
Sind Sie – überspitzt formuliert – Forschende geworden, um die „Welt zu retten“?
Zurell: Diesen ganz großen Anspruch, die Welt zu retten, hatte ich wahrscheinlich nicht. Aber ich habe durchaus Geoökologie studiert, weil mir die die Umwelt am Herzen liegt und ich schon immer die Hoffnung hatte, als Forscherin etwas Positives zu bewegen.
Günther: Bei mir stand am Anfang die wissenschaftliche Neugier. Als Schüler in Physik und Mathematik, im Studium auch in der Informatik und den Wirtschaftswissenschaften. Aber als junger Wissenschaftler habe ich mir dann schon Gedanken darüber gemacht, was diese Technologien gesellschaftlich bewirken und wie ich selbst einen gesellschaftlichen Beitrag leisten kann. Als ich Doktorand in Berkeley war, wurde kontrovers darüber diskutiert, wie die Informatik durch Ronald Reagan innerhalb der Strategic Defense Initiative (SDI) vereinnahmt wurde. Wie viele war ich beunruhigt, was sich dabei für Einsatzmöglichkeiten abzeichneten, weshalb ich mich auch dagegen engagiert habe. Später habe ich mir überlegt, ob ich wirklich mein ganzes Leben damit verbringen will, irgendwelche exotischen Papers zu schreiben, die weltweit vielleicht 20 Leute lesen, oder Möglichkeiten suchen sollte, mit meiner Forschung stärker nach außen zu wirken. Das hat, denke ich, zuerst in der Umweltinformatik und dann als Professor für Wirtschaftsinformatik an der Humboldt-Universität, ganz gut funktioniert – auch über Firmengründungen und Kontakte in die Politik hinein. Diese Motivation dürfte eine Rolle gespielt haben, als ich mich dafür entschied, für das Amt des Uni-Präsidenten in Potsdam zu kandidieren. Denn als Leiter einer Hochschule ergeben sich noch einmal andere Möglichkeiten, aus der Wissenschaft heraus in die Gesellschaft, in die Politik zu wirken. Deshalb bin ich bin heute sehr glücklich mit dem, was ich hier mache.
Frau Zurell, zu Ihren Forschungsfeldern zählt die Biodiversitätsforschung, die mit der „Biodiversitätskrise“ aktuell ein gewaltiges Problem formuliert hat. Kann Forschung diese noch aufhalten?
Zurell: Ja und nein. Es gilt weiterhin: Forschung allein kann die Krise nicht bewältigen, sondern nur den Weg dafür weisen und die Mittel benennen. Diese zu nutzen, liegt in der Verantwortung der Politik – und ein Stück weit eines jeden Einzelnen in der Gesellschaft. Die dafür nötigen Informationen liegen größtenteils schon auf dem Tisch. Natürlich können wir mit mehr Forschung viel erreichen. Mit Blick auf die Biodiversität etwa noch mehr kausale Zusammenhänge verstehen und Was-wäre-wenn-Szenarien durchspielen, um bessere Entscheidungshilfe zu bieten. Aber dass wir ein Problem haben, wissen wir schon lange. Das wird auch in der Politik schon seit 30 Jahren diskutiert: Beispielsweise wurde 1992 auf dem Earth Summit in Rio de Janeiro das Übereinkommen zur biologischen Diversität vorgestellt und trat ein Jahr später in Kraft. Die zentrale Botschaft war: Wir müssen den weiteren Verfall der Biodiversität aufhalten. Seitdem wurden in regelmäßigen Abständen politische Abkommen geschlossen, Zielvorgaben erarbeitet, die anschließend aber ebenso konstant verfehlt und nicht eingehalten wurden, weil es an der Umsetzung mangelte. Im Dezember 2022 wurde auf dem Biodiversitätsgipfel der Vereinten Nationen in Montreal wieder ein eigentlich historisches Abkommen mit ambitionierten Zielvorgaben geschlossen. Jetzt gilt es, diese internationalen Bekenntnisse auch in nationales Recht umzuwandeln und tatsächlich umzusetzen – nicht nur auf dem Papier. Ein Beispiel: Seit 1992 wird daran gearbeitet, Netzwerke von Schutzgebieten aufzubauen. Aber wenn diese nicht so gemanagt werden, dass sie wirklich einen positiven Impact haben – in der Biodiversitätsforschung gibt es dafür den Begriff der „Paper Parks“ –, dann ist das ein Problem.
Aber ich denke, Forschung kann noch mehr leisten, etwa Einzelnen individuelle Möglichkeiten aufzeigen, wie eigene Entscheidungen bei der Bewältigung von Krisen helfen können. Es geht dabei nicht darum, einen kompletten Verzicht zu predigen. Vielmehr im Positiven aufzuzeigen, dass auch kleine Veränderungen im individuellen Verhalten viel bewirken. Auf diese Weise kann Wissenschaft einen persönlichen Abwägungsprozess unterstützen und begleiten.
Günther: Ich finde, die Wissenschaft hat in den vergangenen Jahrzehnten einen guten Track Record hingelegt und muss sich nicht verstecken. Vieles, was heute richtig läuft, wurde durch Forschende angestoßen, begleitet oder umgesetzt. 1972, vor gut 50 Jahren, veröffentlichte der „Club of Rome“ die Studie „Die Grenzen des Wachstums“ zur Zukunft der Weltwirtschaft. Damals war ich gerade mal elf Jahre alt, aber ich erinnere mich an die anschließende Berichterstattung im Fernsehen: Es war ein Aufwachen, die Einsicht, da passiert etwas, das wir vielleicht gar nicht in den Griff bekommen –, aber gleichzeitig auch die Erkenntnis, dass wir die Möglichkeiten haben, derartig komplexe Zusammenhänge wie die Weltwirtschaft systematisch zu erforschen. Hintergrund war, dass der Bericht eine der ersten großen rechnergestützten Forschungsarbeiten war. Dennis Meadows vom MIT in Boston und sein Team setzten Computersimulationen ein, um zu berechnen, welche Entwicklungen möglich und wahrscheinlich waren und wie sich negative Szenarien verhindern lassen. Im Anschluss begann das Umdenken bezüglich der Atomkraft, auch beim Umwelt- und Artenschutz bewegte sich etwas. Ich selbst habe mich als junger Wissenschaftler in der Umweltinformatik engagiert, bei der es darum ging, mit informatischen Mitteln mehr Daten über die Umwelt, unsere Flora und Fauna, zu sammeln und zu verarbeiten. Ich war einige Jahre an der Entwicklung des Umweltinformationssystems Baden-Württemberg beteiligt, eine Art frühes Big Data.
Aber schon damals haben sich die Grenzen für die Wirksamkeit von Forschung gezeigt: Die Umsetzung ihrer Erkenntnisse gelingt oft nicht schnell genug. Und das hat auch mit mangelhaften Schnittstellen zwischen Wissenschaft und Politik zu tun. Dabei gibt es die Wissenschaft im Elfenbeinturm, die den Schritt in die Realität scheut, ja kaum noch. Im Gegenteil: Es gibt viele gute Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die regelmäßig bei Anne Will & Co. auf dem Sofa sitzen. Trotzdem geht vieles, wofür sie vehement eintreten, nicht hinreichend schnell. In der Folge kommen beispielsweise die von der Forschung beschriebenen Kipppunkte ökologischer Prozesse viel schneller und viel dichter, als wir uns das wünschen würden und als das vor 20 bis 30 Jahren erwartet wurde.
Zu vielen Problemen und Krisen liegen die Fakten auf dem Tisch und auch was aus wissenschaftlicher Sicht dagegen getan werden sollte, ist bekannt. Was macht es mit Ihnen, wenn dann doch nichts oder zu wenig passiert?
Zurell: Ich glaube, viele Forschende, die sich mit der Klimakrise und der Biodiversitätskrise beschäftigen, erleben diese Momente, in denen sie verzweifeln könnten ob der Faktenlage. Aber davon sollte man sich nicht übermannen lassen. Mich treibt an, dass wir tatsächlich Fortschritt generieren und wirklich mit jedem kleinen Schritt Positives erreichen können. Man kann und sollte sagen: Es ist noch nicht alles zu spät. Und mit jedem Signal, das wir in die Gesellschaft oder in die Politik tragen, auch wenn es um kleine Veränderungen geht, können wir Wirkung entfalten. Mein Antrieb ist also deutlich größer als die Verzweiflung. Nicht zuletzt motiviert mich, dass Wissenschaft einfach Spaß macht und wir viele spannende Fragestellungen angehen können.
Günther: Diese Frage stellen sich viele: Ist das Glas halb voll oder halb leer? Wie gesagt: Der Bericht des Club of Rome ist nur etwas mehr als 50 Jahre alt. Das ist in der Geschichte der Menschheit keine besonders lange Zeit. Und trotzdem wurde seitdem, wie ich finde, schon ziemlich viel geschafft. Ob es genug ist, wissen wahrscheinlich erst unsere Kinder und Enkel.
Zurell: Für diese Verzweiflung angesichts der Krise gibt es inzwischen mehrere Begriffe: die Climate Anxiety oder Ecological Anxiety. Und gerade die jüngeren Generationen haben damit zu kämpfen. Das merken wir auch in der Studierendenschaft, die bei der Faktenlage teilweise schon die Angst packt. Vielleicht ist es auch eine Aufgabe der Wissenschaft, immer wieder zu zeigen, dass wir Positives erreichen können – damit die Menschen nicht überwältigt werden von dieser Angst.
Günther: Das Handeln der „Klimakleber“ etwa ist teilweise wirklich getrieben von dieser Angst. Und in der heißen Phase, in der über die Aktionen diskutiert wurde, fand ich es sehr schwierig, als Wissenschaftler oder auch als Hochschule das richtige Maß zu finden. Einerseits sollte man diese Sorgen nicht kleinreden und beschwichtigen. Andererseits gibt es aus Sicht der Wissenschaft auch keinen Grund zur Hoffnungslosigkeit. Wir sind eben nicht in der Situation, wo morgen die Welt untergeht, sondern wir können noch etwas bewirken. Diesen Mittelweg zu kommunizieren, ist schwierig.
Dazu kommt – das haben wir bisher noch gar nicht thematisiert –, dass die Wissenschaft per se nicht mit einer Stimme spricht und auch nicht sprechen kann. Natürlich wissen wir alle, dass die Erde mehr oder weniger rund oder zumindest keine Scheibe ist. Aber die allerneuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse sind per se umstritten, sonst wären sie ja nicht Gegenstand der Forschung, sondern gesichertes Wissen. Ich würde dennoch sagen, dass die Wissenschaft – als Gruppe im Sinne einer Schwarmintelligenz – eigentlich schon recht gut weiß, wo es hingeht. Insofern kann man sich auf die Wissenschaft verlassen, jedenfalls mehr als auf Hörensagen und auf Wunschdenken. Und es ist gut, dass Gesellschaft und Politik sich an den Erkenntnissen der Wissenschaft orientieren.
Herr Günther, Sie sind „von Hause aus“ Wirtschaftsinformatiker – einem Bereich, den man eher dem Fortschrittsoptimismus zuschreiben würde. Kann wissenschaftsgetriebener technologischer Fortschritt die Antwort auf die aktuellen Krisen sein?
Günther: Ich bin grundsätzlich Technologieoptimist, sonst hätte ich wohl meinen Beruf verfehlt. Gleichzeitig habe ich schon früh begonnen, die Möglichkeiten und Entwicklungspfade meiner Disziplin kritisch zu hinterfragen. Denn wie schon beschrieben, wurden die Instrumente der Informatik von Beginn höchst verschieden eingesetzt: Umweltinformatik und Wachstumsforschung zum Beispiel auf der einen Seite, SDI auf der anderen. Und die problematischen Anwendungen haben eine richtige Gegenbewegung hervorgebracht, die sich Gedanken darüber macht, wo und wie Technologie in die Gesellschaft hinein diffundiert und welche Folgen das hat. Wichtiger ist, dass wir immer wieder reflektieren, wie man neue Technologien nutzt. Ich persönlich habe mich als Informatiker nach Einsatzzwecken umgeschaut, die ich moralisch für geboten halte und für die ich stehe. Für mich war das in den 1990er-Jahren der Umweltschutz. Und auch in der Informatik-Community insgesamt ist das Bewusstsein für diese Verantwortung angekommen. Nicht umsonst war das ursprüngliche Motto von Google „Don’t be evil“. Das mag etwas naiv klingen, aber dahinter stand die Motivation der Gründer, die Technologie dazu zu nutzen, um, etwas pathetisch gesagt, der Menschheit etwas Gutes zu tun und sie auf ihrem Pfad zu einem lebenswerten, glücklichen Zusammenleben voranzubringen. Dass das bei Google nicht immer so gut geklappt hat, liegt wohl in der Natur der Sache eines derart dominierenden, weltumspannenden Unternehmens. Aber die Einsicht, dass wir Informatikerinnen und Informatiker uns, parallel zu unserer technisch-wissenschaftlichen Arbeit, Gedanken über die Ziele unserer Disziplin machen müssen, ist weithin angekommen.
Man könnte sagen, der Ursprung von Wissenschaft ist der Drang zu verstehen, wie die Welt funktioniert. Aktuell hat es hingegen, etwas pessimistisch formuliert, den Anschein, als sei ein Großteil wissenschaftlicher Forschung damit beschäftigt, den Einfluss des Menschen auf die Welt zu dokumentieren. Das wirkt mitunter wie ein Wettlauf, bei dem wir erfassen, was wir kaputt machen, um anschließend etwas zu entwickeln, mit dem wir das wieder in Ordnung zu bringen. Was sagen Sie: Kann die Mission „Welt retten“ eher durch mehr Forschung oder mehr Verzicht gelingen?
Zurell: Natürlich gibt es etwa beim Umweltschutz den Ansatz, Flächenschutz zu betreiben, indem Gebiete sich selbst überlassen werden, anstatt den bisherigen Flächenfraß weiter voranzutreiben. Das ist wichtig und ein Beleg dafür, dass die Natur sich immer nur selbst regulieren und regenerieren kann – und dass das nur gelingt, wenn sie den Platz für die dazugehörigen Prozesse hat. Zum anderen gibt es natürlich sinnvollen Verzicht auf individueller Ebene. Gleichzeitig bin ich kein Fan davon, den ultimativen Verzicht zu predigen. Das muss auch nicht sein. Viel wichtiger ist es, ein gesundes Maß zu finden, wie wir die verfügbaren Ressourcen nutzen. Aktuell verbrauchen vor allem die Industrienationen mehr, als auf lange Sicht zur Verfügung steht oder sich regenerieren kann. Dieser Überkonsum ist in der in der Geschichte der Menschheit relativ neu – und damit nicht unumkehrbar. Ich denke ich, jeder kann überlegen, welcher Verzicht individuell möglich ist. Es müssen nicht alle komplett vegetarisch oder vegan leben, aber ist es möglich, ein, zwei Tage pro Woche auf Fleisch zu verzichten. Und schon ist man gar nicht mehr so weit weg von dem, wie unsere Eltern oder Großeltern vielleicht gelebt haben. Aber es muss nicht jeder auf alles verzichten. Solche Forderungen würden nicht zuletzt negative Emotionen erzeugen, als würde die Wissenschaft ständig Verbote predigen.
Zurück zu Ihrer Frage: Ich denke nicht, dass Forschung nur damit beschäftigt ist, wie wir den Planeten kaputt machen. Natürlich forschen wir viel zu Ursache-Wirkungs-Gefügen, bei denen neue Erkenntnisse auch bessere Empfehlungen für politisches, gesellschaftliches und individuelles Handeln ermöglichen. Aber als Forschende interessieren wir uns weiterhin einfach für Mechanismen, Ursachen und Wirkungen. Und dank neuer Technologien gibt es auch neue Möglichkeiten, immer feiner in bestimmte Mechanismen reinzuzoomen.
Günther: Das sehe ich auch so. Gerade an Universitäten gibt es viele Beispiele für Forschung mit ganz unterschiedlichen Zielrichtungen und Methodiken, die alle wichtig und auch gesellschaftlich gerechtfertigt sind. Ich denke an die Astrophysik, die der Frage nachgeht, was eigentlich Dark Matter oder Dark Energy sind. Und dabei ist die Frage nach dem praktischen Nutzen noch weit weg. Oder unsere Kognitionswissenschaften, die dem freien Willen auf der Spur sind und untersuchen, wie weit mein Gehirn vorausdenkt, ohne dass ich es merke. Das sind Fragen, auf und für die es wahrscheinlich irgendwann Antworten gibt und auch Verwertungsmöglichkeiten. Aber die Forschung an ihnen erfolgt aus faustischem Erkenntnisdrang heraus – und nicht, weil wir irgendwas reparieren oder etwas Konkretes erfinden wollen. Insofern bin ich überzeugt: Die richtige Mischung macht’s. Und die ist etwas, das eigentlich jede vernünftige Hochschule anstreben sollte.
Aber noch einmal zum Überkonsum. Ich denke, in den letzten 50 bis 60 Jahren hat sich im europäischen Raum schon klar durchgesetzt, dass mehr nicht unbedingt besser ist. Das war in der Nachkriegsgeneration noch anders, da hieß es Wachstum, Wachstum, Wachstum! Für mich und erst recht die Generation meiner Kinder geht es nicht mehr darum, einen Zwölfzylinder zu fahren, der 20 Liter auf 100 Kilometer verbraucht. Ziel ist heute eine hohe Lebensqualität, die auch mit weniger Ressourcen erzielt werden kann. Aber mindestens ebenso wichtig ist dabei Gerechtigkeit, also eine gewisse Form der Chancengleichheit – innerhalb einer Gesellschaft, aber vor allem auch im internationalen Maßstab. China, Indien und andere asiatische und afrikanische Staaten sagen in der Energie- und Rohstoffdebatte natürlich zurecht: Jetzt sind wir mal dran. Ja, no surprise! Und deshalb ist es wichtig, über Fairness neu nachzudenken und über Möglichkeiten, einen Teil unseres Wohlstands abzugeben. Das tut uns kaum weh, kann aber anderswo viel bewirken.
Welche Rolle können Hochschulen und Universitäten bei dieser „Mission“ spielen?
Günther: Das ist ja fast eine rhetorische Frage. Natürlich bin ich überzeugt, dass gerade Forschungsuniversitäten wie unsere auf diesem Weg eine ganz zentrale Rolle einnehmen – auch im Unterschied zu reinen Forschungsinstituten, weil wir hier Forschung und Lehre vereinigen. Diese besondere Gemengelage, in der junge Menschen, die als Studierende, Promovierende oder Postdocs zu uns kommen und mit etwas erfahreneren Menschen zusammenarbeiten und neue Erkenntnisse erzielen. Erkenntnisse, die sie dann nicht nur in die Wissenschaft, sondern auch in die Politik, die Gesellschaft und alle ihre Lebenssituation einbringen. Insofern glaube ich in der Tat, dass Universitäten eine zentrale gesellschaftliche Rolle einnehmen. Deswegen habe ich auch immer ein gutes Gewissen, wenn es darum geht, bei unserer Landesregierung um mehr Geld für die Universität zu werben, weil ich denke, dass das für Brandenburg in jedem Fall eine sinnvolle Investition in die Zukunft ist.
Eine letzte Frage: Haben Sie sich denn irgendwann schon mal gewünscht, an einer anderen Stelle zu stehen, wo Sie vielleicht noch mehr bewirken könnten?
Zurell: Nein, ich bin Wissenschaftlerin aus Überzeugung und aus innerer Motivation. Wenn ich etwas anderes machen wollte, könnte ich das tun. Aber ich bin genau richtig da, wo ich bin. Natürlich gibt es manchmal Momente, in denen ich mir wünsche, die Biodiversitätsforschung wäre etwas weiter vorn, was ihren Stellenwert in der Gesellschaft und ihre Unterstützung durch die Politik angeht. Die Klimawissenschaften etwa sind in den vergangenen Jahrzehnten deutlich stärker gefördert worden, weshalb sie auch in der Lage waren, die Infrastrukturen zu schaffen, um Klimamodelle und Vorhersagen zu erstellen. Aber ich bin guter Hoffnung, dass wir da auch noch hinkommen.
Günther: Ich bin mit meiner Rolle ebenfalls sehr glücklich und hätte mir einen solchen Weg als junger Mann nicht wirklich vorstellen können. Gleichzeitig bin ich von jeher auch ein politischer Mensch und hätte eine Laufbahn als Politiker auch nicht ausgeschlossen. Vielleicht ergibt sich das ja noch einmal, aber es muss auch nicht sein. Unsere Universität ist auf einem guten Kurs, da kann ich mich wahrlich nicht beschweren.
Vielen Dank für das Gespräch!
Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal - Eins 2024 „Welt retten“ (PDF).