Sie machen seit Jahren Seminare, in denen Studierende Mikrogeschichte(n) schreiben, die durchaus abweichen von dem, was als die „großen Linien der Weltgeschichte“ kennen. Warum?
Ich finde es total faszinierend, wie die Studierenden sich mit Passion in ein Thema einarbeiten, das sie interessiert, und dabei zu guten und wichtigen Forschungsergebnissen kommen. Es zeichnet die Seminare aus, dass in ihnen Studierende unterschiedlicher Herkunft und mit sehr diversen Bildungshintergründen zusammenkommen. Es zeigt eindrucksvoll, wie schnell und weit man sich entwickeln kann, wenn man sich als Lernender reinkniet. Wenn Sie sich einen Eindruck von den Forschungsergebnissen der Studierenden verschaffen wollen, dann schauen Sie doch mal auf globalhistorydialogues.org vorbei.
Was tragen diese Mikrogeschichte(n) zur Geschichtswissenschaft bei?
Sie bieten großes Potenzial, denn sie führen den Blick weg von den großen Narrativen. Die Arbeiten rücken Dinge in den Fokus, die meist keine oder nur wenig Aufmerksamkeit bekommen. Und sie erlauben neue Fragestellungen. Ein Beispiel ist das Projekt von Gera Gizaw zum Flüchtlingscamp Kakuma im Nordwesten Kenias, in dem er auch lebt. Dabei hat er das Camp als transitorischen Ort betrachtet, der nicht für die Ewigkeit gedacht ist, aber gleichzeitig schon seit 30 Jahren existiert. Die Menschen dort bauen Gemeinschaftsorte, Kirchen und natürlich auch Grabstätten. Sie leben ihr Leben dort, als wäre es eben doch für die Ewigkeit. Gera Gizaw hat sein Projekt nach dessen Abschluss auf Konferenzen vorgestellt und inzwischen eine Projektförderung eingeworben, um ein eigenes Archiv und ein Museum in Kakuma zu gründen. Mit beiden will er dieses spannungsreiche Nebeneinander von Vergänglichkeit und permanenter gelebter Realität weiter erforschen und dokumentieren. Er hat auf diesem Weg eine überraschende Perspektive sichtbar gemacht, die man als Forschende, die wie ich kurz dorthin kommt, in dieser Intensität nicht entwickelt hätte. Nicht zuletzt hat er dort Zugang zu vielen Menschen, die dort schon lange leben und mit ihm – als einem von ihnen – offener gesprochen haben. Ähnlich war und ist das auch bei anderen Projekten, denn es kommt natürlich immer darauf an, wer fragt: Studierende, die sich mit Themen aus ihrem persönlichen oder räumlichen Umfeld befassen, erzielen andere Ergebnisse, als Outsider es könnten.
Sie arbeiten dabei mit Forschenden zusammen, die mitunter so gar nicht ins Klischee passen, das wir von Historikerinnen und Historikern haben – Menschen, die in Flüchtlings- oder Aufnahmelagern leben beispielsweise. Wie kam es dazu?
Ich bin 2016 zum ersten Mal nach Kenia in das bereits genannte Flüchtlingscamp Kakuma gereist – im Zusammenhang mit Jeremy Adelman, der als Geschichtsprofessor damals noch an der Princeton University und nun an der University of Cambridge. Er leitet das Global History Lab und einen weltweiten Onlinekurs zu Global History von 1300 bis zur Gegenwart, den ich jedes Wintersemester an der UP anbiete. Damals wollte er von großen Kursstrukturen weg und hat kleinere, regionale Gruppen ins Leben gerufen. In diesem Rahmen war ich zweimal vor Ort in Kakuma, je einmal am Anfang und am Ende des Kurses. Dort hatte sich eine super engagierte Gruppe von Studierenden zusammengefunden. Menschen aus ganz Ostafrika und mit sehr verschiedenen Voraussetzungen: Jemand hatte einen Abschluss in Chemie, andere von der Highschool. Nach dem Ende des Kurses bin ich wieder gekommen und habe mit ihnen noch einen Workshop zu Oral History und der Bedeutung von lebensgeschichtlichen Perspektiven gemacht. Daraus ist dann die Idee für das Global History Dialogues Project entstanden – und die Gruppe bildete mit anderen Studierenden zusammen 2019 die erste Kohorte.
Wie können diese Menschen Geschichtswissenschaft betreiben?
Wir haben einen starken Fokus auf Oral History, was auch damit zu tun hat, dass viele der Teilnehmenden im globalen Süden kaum Zugang zu Archiven oder Bibliotheken haben. Was allen offen steht: online verfügbare Archive und die Möglichkeit, sich mithilfe der Methoden der Oral History selbst Quellen zusammenzustellen. Viele arbeiten oft zur eigenen Familien- oder regionalen Geschichte und können deshalb umfangreiche Quellen erschließen: Fotos, Briefe, Tagebücher, Zeugnisse, die helfen, das Bild zu vervollständigen. Bei der Arbeit von Gera Gizaw zum Camp in Kakuma sind, neben den vielen erzählten Geschichten, auch Orte (Kirche, Gräber usw.) als beredte Quellen verfügbar.
Deshalb ist es für uns wichtig, im Kurs die Methodik zu erarbeiten: Wie müssen Interviews geführt und verschriftlicht werden? Wie sorge ich für eine ausreichend vielstimmige Quellensammlung, um Aussagen bewerten zu können? Letztlich sind die Mikrogeschichten dadurch auch Reflexionen darüber, was mit Oral History möglich ist. Wir wollen den Punkt hervorheben, dass historische Forschung eine Denkweise ist, eine Art und Weise Fragen zu stellen, die jeder lernen kann. Die Geschichtswissenschaft hat viel Zeit damit verbracht, sich abzugrenzen. Wir wollen weg von der Idee, dass Geschichte nur an Unis verfasst werden kann.
Einige der Arbeiten dieser Forschenden haben Sie zu einem Sammelband zusammengetragen. Worum geht es dabei?
Es sind neun Arbeiten, die sehr unterschiedlichen Themen gewidmet sind. Sie alle vereint, dass die Forschenden ihnen mit außerordentlichem Elan nachgegangen sind. Sie alle leben in keiner akademischen Welt, eine Publikation bedeutet ihnen wenig mit Blick auf eine wissenschaftliche Karriere. Was sie motiviert: Sie haben wichtige Geschichten recherchiert – und die Welt muss diese Geschichten hören, damit sich etwas ändert.
Zwei Beispiele: Muna Omar hat für ihren Beitrag „Dangerous Crossings“ eine wenig erforschte Facette der Migration untersucht: Frauen, die sich aus Ostafrikanischen Staaten auf den Weg in die Golfstaaten aufmachen. Gerade Frauen erleben auf diesen beschwerlichen Reisen verschiedenste Gewalt und Ausbeutung – durch Schmuggler, aber auch durch Teile der Aufnahmegesellschaft und durch humanitäre Hilfsorganisationen. Zudem ist die harte Realität eines Lebens in der dauerhaften Illegalität derart beschwerlich, dass viele den Schritt bald bereuen. Muna Omar ist motiviert die Welt über das Schicksal dieser Frauen zu informieren, denn sie selbst ist diesen Schritt mit ihrer Mutter einst gegangen, inzwischen aber wieder nach Äthiopien zurückgekehrt.
Aime Parfait Emerusenge wiederum ist aus Burundi nach Ruanda geflohen. Dort hat er sich burundischen Trommelensembles gewidmet, die im Exil weiterbestehen. Historisch spielten diese in der Heimat eine wichtige Rolle, trommelten für den burundischen König. In Ruanda wird ihre Trommelei zur Kunstform und sie treten auf Hochzeiten auf, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Für sein Projekt hat sich Aime Parfait Emerusenge angeschaut, welche Rolle das Trommeln im burundischen Königreich einst spielte – und wie aus einem Symbol königlicher Macht schließlich Kunst und eine Einnahmequelle wird.
Welches Anliegen hat das Buch?
Das Hauptanliegen von Kate Reed und mir als Herausgeberinnen haben wir im Titel „The Right to Research“ formuliert. Wir melden uns damit in einer größeren Debatte zu Wort, in der Geschichte und Geschichtswissenschaft kritisch befragt werden: Denn Globalgeschichte wird bislang vor allem im globalen Norden geschrieben und ist in diesem Sinne keine globale Geschichte. Das hat letztlich auch mit Ressourcen zu tun: Wer kann es sich leisten, Globalgeschichte zu erforschen und zu schreiben? Dafür braucht es Geld, für Archivreisen usw. Wir wollten mit dem Band Stimmen aus dem globalen Süden und nichtakademischen Kontexten einen Raum geben und gleichzeitig zeigen, dass es möglich ist, von sehr unterschiedlichen gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Ausgangspunkten aus an wissenschaftlich fundierter Globalgeschichte mitzuschreiben. Deshalb haben die Studierenden auch alle ein Training absolviert, bei dem sie gelernt haben, an ihre Mikrogeschichten wissenschaftlich heranzugehen.
Was mich sehr freut: Das Buch ist direkt auch als Taschenbuch erschienen. Ich denke, es kann jeder lesen, der ein Interesse für Perspektiven aus anderen Regionen der Welt mitbringt. Um das deutlich zu machen, haben wir auch ein besonderes Format gewählt. Jedem Beitrag ist ein persönlicher Brief der Autorinnen und Autoren vorangestellt, in dem diese sich an die Lesenden wenden. Darin schreiben sie von ihrer Motivation für das Projekt, davon, was die Lesenden erwartet, und geben Einblicke in die nicht selten schwierige Produktion. Auf diese Weise schaffen wir Transparenz, bieten aber auch einen emotionalen Zugang zu den Autorinnen und Autoren, der sonst in der Wissenschaft ja oft fehlt, hier aber wichtig ist.
Zu Marcia Schenck: https://www.uni-potsdam.de/de/hi-globalgeschichte/prof-dr-marcia-c-schenck/zur-person
Zum Buch: „The Right to Research: Historical Narratives by Refugee and Global South Researchers“, hrsg. v. Kate Reed & Marcia C. Schenck: https://www.mqup.ca/right-to-research--the-products-9780228014546.php