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Von Ekel und Scham – Jakob Fink-Lamotte ist Spezialist für Zwangsstörungen und soziale Ängste

Menschen mit Waschzwang reinigen ihre Hände über mehrere Minuten in einer bestimmten Abfolge.
Professor Jakob Fink-Lamotte
Foto : AdobeStock/yokunen
Menschen mit Waschzwang reinigen ihre Hände über mehrere Minuten in einer bestimmten Abfolge.
Foto : Sandra Scholz
Professor Jakob Fink-Lamotte

Seit Oktober 2022 ist Jakob Fink-Lamotte Juniorprofessor für Klinische Psychologie an der Universität Potsdam. Er erforscht insbesondere Zwangsstörungen und soziale Ängste. Und er kennt sich gut mit den Emotionen Scham und Ekel aus, die für diese und andere Störungen eine wichtige Rolle spielen. Jakob Fink-Lamotte ist nicht nur selbst Verhaltenstherapeut. Als Wissenschaftler an der Uni Potsdam arbeitet er auch daran, psychotherapeutische Maßnahmen zu verbessern.

„Grundsätzlich sind Ekel und Scham keine schlechten Emotionen“, sagt Jakob Fink-Lamotte. „Sie motivieren uns, aus einer bedrohlichen Situation herauszukommen.“ Das haben sie mit anderen Emotionen gemeinsam, wie der Wut und der Angst, die uns helfen, uns zu verteidigen bzw. zu fliehen. „Die Funktion von Ekel ist es, uns vor der Aufnahme von potenziell kontaminierten Objekten zu schützen, zum Beispiel verdorbenem Essen.“ Scham wiederum helfe uns, im sozialen System zu überleben: „Wenn ich mich schäme, habe ich möglicherweise eine soziale Norm gebrochen. Ich kann dann mein Verhalten anpassen – Scham hat also eine Regulationsfunktion.“

Emotionen zu erkennen und zu differenzieren, ist dem Psychologen zufolge eine wichtige Fähigkeit. „Wer in der Lage ist, seine Gefühle gut einzuordnen und zu verstehen, hat im Leben einen gewissen Vorteil. Ich kann dadurch nämlich die Informationen nutzen, die mir die Emotionen vermitteln.“ So wird jemand, der sich vor verdorbenem Essen ekelt, es eher nicht essen. Und eine Person, die eine soziale Regel bricht und dabei differenzieren kann, dass sie sich schämt, ist besser in der Lage, ihr Verhalten zu ändern.

Doch führen uns Scham und Ekel nicht manchmal auch in die Irre? Wovor man sich ekelt oder wofür man sich schämt, ist schließlich individuell und kulturell verschieden. „Sowohl Scham als auch Ekel haben eine soziale Ebene“, erklärt der Professor. Der moralische Ekel werde etwa im politischen Kontext genutzt. So spreche der ehemalige US-Präsident Donald Trump regelmäßig über die Mexikaner, als seien sie etwas Abstoßendes. „Ekel kann also auch in sozialen Gefügen dazu führen, dass ganze Gruppen ausgegrenzt und herabgewürdigt werden.“ Dementsprechend lassen beide Emotionen Raum für Interpretationen.

Nur wie gelingt es uns, Gefühle überhaupt wahrzunehmen und sinnvoll einzuordnen? Laut Jakob Fink-Lamotte spielt der Umgang mit Emotionen, wie wir ihn in der Kindheit erlernen, eine tragende Rolle. Darf ein Kind beispielsweise gerade nicht Fußballspielen, weil Schlafenszeit ist, könnten die Eltern seine Gefühle direkt ansprechen: „Ich merke, du bist jetzt traurig.“ Das sei eine Wertschätzung des Gefühls des Kindes und mache deutlich, dass es eine Diskrepanz zwischen einem Ist- und einem Soll-Zustand gibt. „Kein Gefühl ist je irrational, sondern es ist die Realität der Person, die es spürt und die etwas Wichtiges aufzeigt“, sagt Fink-Lamotte.

Der Wissenschaftler interessiert sich auch dafür, was die Corona-Pandemie mit dem Ekel- und Schamerleben der Menschen gemacht hat. Denn wie häufig und weswegen wir uns ekeln oder schämen, hat sich in den vergangenen Jahren offenbar nachhaltig verändert. Was den Ekel betrifft, hatte dieser allerdings zunächst einen positiven Effekt: Wir sind auf Abstand gegangen, haben uns die Hände nicht mehr geschüttelt, sie öfter gewaschen und uns so vor einer Ansteckung geschützt. Doch können wir diesen Ekel genauso wieder ablegen wie die Maske in der U-Bahn?

„Erste Studien zeigen, dass es seit Beginn der Pandemie eine höhere Empfindlichkeit dafür gibt, Ekel zu erleben, und dass es zu einer Häufung von Zwangserkrankungen kommt.“ Waschzwänge stehen in Zusammenhang mit dieser sogenannten Ekelsensitivität. Anders als andere Emotionen habe Ekel eine hohe Rigidität, er unterliegt starren Gesetzmäßigkeiten. Dazu hat Fink-Lamotte kürzlich mit seinem Team ein Experiment durchgeführt. Die Proband*innen sollten sich vorstellen, dass ein Stift mit etwas kontaminiert wird, das sie eklig finden, beispielsweise mit Kot. Ein zweiter Stift kommt wiederum mit dem ersten in Berührung, ein dritter mit dem zweiten und so weiter. „Menschen mit Waschzwängen erleben selbst den zwölften Stift als hochgradig kontaminiert“, so der Psychologe. „Das Experiment zeigt, wie schwierig es ist, das Ekelerleben zu ändern. Insofern wissen wir nicht, wie schnell die Ekelsensitivität nach der Pandemie wieder sinken wird. Bestimmte Charakteristika deuten darauf hin, dass es nicht sehr schnell gehen wird.“

Zwänge gehen oft mit einem hohen Leidensdruck einher. Sie schleichen sich laut Fink-Lamotte regelrecht ins Leben ein: „Es beginnt damit, dass man vielleicht noch einmal umkehrt, um zu schauen, ob man die Haustür wirklich abgeschlossen hat. Irgendwann geht man vielleicht zwei oder drei Mal, bis man kaum noch von zu Hause loskommt.“ Menschen mit Waschzwang reinigen ihre Hände über mehrere Minuten in einer bestimmten Abfolge. Oft bilden sich Dermatosen. „Hier gilt wie bei allen psychischen Krankheiten: Je früher Betroffene psychologische Hilfe in Anspruch nehmen, desto größer ist der Behandlungserfolg“, erklärt Fink-Lamotte. In der Regel dauert es aber zehn bis 15 Jahre, bis Menschen mit einer Zwangsstörung in Therapie gehen.

Der Professor beobachtet die Nachwirkungen der Pandemie auch in der Lehre. Schließlich studieren viele der jungen Menschen, die ihr Abitur online gemacht haben, inzwischen in Potsdam. Häufig erlebt er, dass Studierenden Erfahrung mit der Technik vor Ort fehlen. Und das bedeutet zusätzlichen Stress: „Wenn ich nicht weiß, wie ein Beamer funktioniert, ist das ein Unsicherheitsfaktor.“ Gerade für Menschen mit sozialen Ängsten, für die Scham eine große Rolle spielt. „Im Zoom-Meeting kann ich gut verdecken, wenn ich schwitze oder rot werde, im Seminarraum ist das anders.“ Soziale Ängste bewirken eine verstärkte Selbstaufmerksamkeit. Wir erleben unsere eigenen Körperprozesse, wie Herzschlag oder Schwitzen, sehr intensiv. Dann kann es zu einem Teufelskreis kommen: Je stärker die Betroffenen wahrnehmen, dass sie schwitzen, desto ängstlicher werden sie und schwitzen noch mehr. „Dadurch bin ich mit meiner Konzentration nicht mehr beim Vortrag und bekomme vielleicht keine so gute Note. Das erfüllt meine Erwartung, dass soziale Situationen gefährlich sind“, erklärt der Psychologe. „Wir geraten in eine Negativschleife.“

Um das zu verhindern, versucht Jakob Fink-Lamotte auch die eigenen Studierenden bei der Vorbereitung etwa von Präsentationen zu unterstützen und ihnen möglichst schon im Vorfeld die Sorgen zu nehmen. „Während einer Präsentation hilft es, die Vortragenden ermutigend anzulächeln oder zu nicken.“ Andersherum können Prüfende es einer Person auch schwermachen, indem sie etwa minutenlang aufs Bewertungsblatt schauen. In solchen Fällen helfe es, sich des eigenen Problems bewusst zu werden und gegenzusteuern. „Wenn ich weiß, dass ich eine hohe Schamneigung oder soziale Ängste habe, könnte ich meine Kommilitoninnen bitten, einzuspringen, wenn ein kritischer Kommentar kommt, ich könnte Gegenargumente vorbereiten und die Verhaltensweise meines Gegenübers einordnen, im Sinne von: ‚Das macht der bei jedem‘.“

Ein stressiger Studienalltag oder die Herausforderungen der Corona-Zeit sind jedoch eher die Auslöser, nicht die Ursachen für Zwangsstörungen. Ob jemand eine Disposition für eine psychische Erkrankung entwickelt, hängt von seinem Temperament, der genetischen Veranlagung, biografischen Ereignissen und dem Erziehungsstil der Eltern ab. Und doch werden nicht alle Menschen, auf die diese Risikofaktoren zutreffen, auch tatsächlich krank. Warum das so ist, ist noch nicht hinreichend geklärt. Fest steht, dass die Corona-Pandemie insgesamt zu einem Anstieg psychischer Erkrankungen geführt hat. Doch auch wenn etwa die soziale Isolation oder die Zunahme häuslicher Gewalt die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen stark beeinflusst haben, die Konsequenzen werden zum Teil erst Jahre später spürbar sein. Denn psychische Erkrankungen erscheinen oft erst, wenn es zu einer Krise kommt, betont Fink-Lamotte.

Wenn Menschen Schwellensituationen erleben, zum Beispiel nach dem Auszug von den Eltern, im Übergang zum autonomen Leben, können sie in Krisen geraten, die besondere Ressourcen erfordern. „Wie sie die Krise bewältigen, hängt von dem Repertoire an Verhaltensweisen und Emotionsregulationsstrategien ab, die sie in der vorigen Lebensspanne an die Hand bekommen haben“, erklärt der Psychotherapeut. Menschen, die unter Stress stehen, suchen nach Sicherheit. Manche finden diese im Zwang. Aber auch Depressive oder Menschen mit sozialen Ängsten versuchen dem Psychologen zufolge in einer Krise über den sozialen Rückzug Kontrolle zu gewinnen. Ähnlich sei es bei der Essstörung, bei der die Regulation des eigenen Gewichts dabei hilft, Kontrolle zu erleben.

„Bei psychischen Erkrankungen geht es also im Wesentlichen darum, in einer Überforderungssituation die Kontrolle zu erlangen.“ Solche Strategien seien jedoch dysfunktional. Und wie sehen funktionale Verhaltensweisen aus? „Im Deutschen gibt es das schöne Sprichwort: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Das ist sozusagen der Treiber der Psychopathologie. Andersherum ist es richtiger: Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser. Denn die Kontrolle verhindert, dass ich lerne, mir selbst zu vertrauen und Selbstwirksamkeit zu erleben.“ Jemand, der eine soziale Situation nicht meidet, und zum Beispiel sein Referat doch noch hält, stellt vielleicht fest, dass er am Ende eine überraschend gute Note bekommt und in der Lage ist, bedrohliche Situationen zu bewältigen. „Es findet eine Erwartungsverletzung statt und das ist eine starke Erfahrung.“

Als Wissenschaftler ist es Jakob Fink-Lamotte wichtig, Bezüge zwischen Theorie und Praxis herzustellen. Nach einer Pause als praktizierender Psychotherapeut möchte er ab Herbst wieder zwei oder drei Patient*innen in der Woche behandeln und sie in seine Lehrveranstaltungen einladen, um den Studierenden Einblicke in echte Fallgeschichten zu bieten. Einen starken Praxisbezug sieht nämlich auch der neue Studiengang Psychotherapie vor, der zum Wintersemester 2023/24 begonnen hat. Die Absolvent*innen beenden ihn wie einen Medizinstudiengang mit dem Master und der Approbation. Für die sozialrechtliche Anerkennung können sie eine fünfjährige Weiterbildung anschließen.

Emotionen erforscht der Psychologe einerseits als „Grundlagenforscher“. Hier schaut er sich in klassischen Experimenten im Labor etwa Aufmerksamkeitslenkung, Gedächtnis- oder Interpretationsprozesse an. Das ermöglicht zum Beispiel Erkenntnisse über die Rigidität von Ekel. Auf der anderen Seite evaluiert er psychotherapeutische Interventionen, die dazu beitragen können, das Ekelerleben zu verändern. Derzeit prüft er mit seinem Team eine solche Maßnahme, die von der wissenschaftlichen Tatsache ausgeht, dass sich die Haut von selbst alle 30 Tage komplett erneuert. „Menschen mit Waschzwängen, die sich durch einen Kontakt beschmutzt fühlen, und denen auch das Waschen nicht hilft, sollen sich diesen Hauterneuerungsprozess immer wieder vorstellen, um ein Gefühl von Reinigung zu erzeugen. Erste Ergebnisse sind vielversprechend.“

 

Menschen, die ein sehr hohes Scham- oder Ekelerleben haben, können sich als Versuchspersonen für Studien bei Prof. Dr. Fink-Lamotte melden.

 

Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal - Zwei 2023 „Mentale Gesundheit“ (PDF).