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Wie das Thermometerhuhn nach Berlin kam - Das Projekt „Berlin’s Australian Archive“ entdeckt indigenes Wissen wieder

Professorin Dr. Anja Schwarz hält ein Buch
Foto : Thomas Roese
Prof. Dr. Anja Schwarz

Als „preußische Exporte“ gelangten sie bis nach Australien: in Humboldts Sinne ausgebildete, deutsche Naturwissenschaftler. Sie sammelten, zeichneten, beschrieben und kategorisierten die Fauna Down Unders. Es sind aber nicht sie oder ihre biologischen Erkenntnisse, die Anja Schwarz in ihrem Projekt „Berlin’s Australian Archive – Addressing the Colonial Legacies of Natural History“ beschäftigen. Die Professorin für Cultural Studies will helfen, mehr über die Geschichte der indigenen Bevölkerung Australiens herauszufinden – und ihnen dieses gesammelte Wissen zugänglich zu machen. Unterstützt wird sie dabei vom Deutschen Zentrum Kulturgutverluste.

Die Forschungsobjekte von Anja Schwarz liegen im Museum für Naturkunde Berlin. Es verfügt über eine umfassende Sammlung von australischen Tieren, Pflanzen und Mineralien, die im kolonialgeschichtlichen Kontext zusammengetragen wurden. Zusammen mit der Historikerin PD Dr. Eva Bischoff von der Universität Trier analysiert die Kulturwissenschaftlerin neben den Labels an den Artefakten auch den Briefverkehr und die Reisetagebücher von vier historischen Sammlern: Woher stammen die Stücke? Unter welchen Bedingungen kamen sie ins Museum? Wie stehen sie in Beziehung zu den indigenen Australier*innen? Provenienzforschung an Naturobjekten zu betreiben, sei einmalig. Aber diese seien ein wichtiger Teil der indigenen Lebenswelt, so die Forscherin.

Um mit den Archivbeständen überhaupt arbeiten zu können, haben die Forscherinnen zunächst umfassend Schriftstücke digitalisiert und systematisiert. Die deutschen Inhalte werden übersetzt, doch vorher müssen sie transkribiert werden, denn die Reisenden schrieben in Kurrentschrift. In einer Transkriptionswerkstatt vom Museum für Naturkunde Berlin haben Geschichtsstudierende, Kustoden und auch Senior*innen als Citizen Scholars die Texte übertragen. Eva Bischoff erklärte ihnen den historischen Kontext.

Sichten und handhabbar machen ist aber nur ein Teil der Arbeit. Das Team sucht nach Übereinstimmungen: Die an den Präparaten befestigten Labels vergleichen sie mit den Briefen, Reiseberichten und Publikationen von damals. Dadurch lässt sich nachvollziehen, aus welchen Regionen in Australien die Stücke kommen und wer sie gesammelt hat. Das sei für viele indigene Australier*innen aus verschiedenen Gründen relevant. „Die Tiere gehören zur Geschichte der Personen eines bestimmten ‚Countrys‘. Ihr Wissen ist an diese Orte gebunden“, sagt Anja Schwarz. Indigene Namen und Fundstellen sind später aus den westlichen Publikationen verschwunden, die die Naturforscher herausgaben. „Dass die Erkenntnisse nur durch die Hilfe indigener Menschen und ihr Wissen möglich waren, wurde vergessen“, erzählt die Forscherin. Die Berliner Sammlung ist ein Schlüssel zu diesen verlorenen Informationen. Auch wenn sie kolonialen Ursprungs ist. Oft gebe es keine andere Möglichkeit, auf historisches Wissen zur Geschichte der First Nations Australiens zu stoßen. „Jedes bisschen ist potenziell relevant“, weiß Anja Schwarz. Ein eigenes indigenes Archiv, auf das sie zugreifen können, existiert nicht, auch dafür hat der Kolonialismus gesorgt. „Durch Krankheiten und Gewalt starben viele indigene Australier*innen oder wurden gezwungen, ihre Sprache und ihren Lebensstil aufzugeben. So hat sich die orale Kultur oft nur bruchstückhaft bewahrt“, sagt die Wissenschaftlerin. „Wenn die indigene Community etwas über ‚ihre‘ Geschichte im 19. Jahrhundert wissen will, muss sie in den kolonialen Archiven nach Spuren suchen.“

Alles Auffällige spielen die Forschenden an die australischen Kooperationspartner*innen zurück, mit denen sie im Projekt zusammenarbeiten. So hat die indigene Community vor Ort die Möglichkeit, zu entscheiden, welche Funde sich die Deutschen genauer ansehen sollen. Als Projektverantwortliche koordinieren Anja Schwarz und Eva Bischoff die Zusammenarbeit zwischen den Museen und Institutionen. „Wir versuchen auf Augenhöhe mit der Herkunftsgesellschaft zusammenzuarbeiten“, sagt sie. Gleichzeitig wirke die Arbeit in deutsche Institutionen zurück. Gemeinsam mit den Kolleg*innen aus Australien klären sie, wie das Museum für Naturkunde kulturell sensibel mit Beständen umgehen sollte. Wie es transparent machen kann, was sich in seinen Sammlungen befindet. Oder wie es Zugriff auf seine Bestände gewähren kann. Schwarz erzählt: „Bei einigen Tieren, wie beispielsweise einer bestimmten Gattung von Fledermäusen, besteht für einige indigene Gruppen eine Art Verwandtschaftsbeziehung. Das macht die Frage, wie das Museum adäquat für die Sammlung sorgen soll, extrem komplex.“

Die deutschen Botaniker hießen übrigens Wilhelm von Blandowski, Ferdinand von Müller, Gerhard Krefft und Moritz Richard Schomburgk. Letzterer wurde im Park Sanssouci ausgebildet, ging nach Australien, um später Direktor des Botanischen Gartens in Adelaide zu werden. Sie alle waren in die britische Kolonie gekommen, da der Kontinent damals die optimale Infrastruktur bot, um zu forschen. „Es waren gerade deutsche Gelehrte, weil in Preußen die naturwissenschaftliche Ausbildung schon fortgeschrittener war als in Großbritannien“, sagt Anja Schwarz. „Die Briten waren vor allem klassisch geisteswissenschaftlich geschult.“ Die Tierwelt des fünften Kontinents war zentral für die biologische Theoriebildung. Sie stellte die Wissenschaftler vor solch knifflige Fragen, wie beispielsweise Beuteltiere zur Darwinschen Evolutionstheorie passen.

Auch wenn das Projekt bewusst den Fokus von den Naturwissenschaftlern weglenken möchte, wie Anja Schwarz betont: Es war Richard Schomburgk, der sie auf die Idee zum Projekt brachte. Genauer gesagt ein Thermometerhuhn, das er aus Australien in die Heimat schickte. Das Tier hat die Wissenschaftlerin zufällig bei der 200-Jahre-Ausstellung im Museum für Naturkunde Berlin entdeckt: „Der Vogel hat gesagt: ‚Denk doch mal über mich nach‘“, erinnert sich Anja Schwarz schmunzelnd.

 

Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal Wissen - Eins 2023 „Lernen“ (PDF).