Sie leuchten in bunten Farben, bilden kompakte Kugeln, zarte Verästelungen oder tellerförmige Platten. Die Farb- und Formenvielfalt von Korallen begeistert wohl jeden, der sie erblickt. Die meisten Korallenarten sind in tropischen Meeren heimisch, wo sie mächtige Riffe bilden – und das schon seit etwa 400 Millionen Jahren. Die koloniebildenden Nesseltiere sind seit einigen Jahren in den Fokus der Klimaforschung gerückt. Zum einen, weil der Klimawandel ihren Bestand gefährdet, zum anderen aber auch, weil die kalkhaltigen Skelette natürliche Klimaarchive bilden. Ähnlich wie mithilfe von Baumringen, Eisbohrkernen oder Seesedimenten kann mit fossilen Korallen die Klimageschichte der Erde rekonstruiert werden.
Der Umweltphysiker Dr. Manfred Mudelsee interessiert sich für die Informationen, die aus solchen Klimazeugen extrahiert werden können. „Korallenskelette enthalten Kalk und darin ist Sauerstoff gebunden“, erklärt er. Genau dieser Sauerstoff ist der Schlüssel zur Vergangenheit. Er kommt natürlicherweise in verschiedenen Formen vor – sogenannten Isotopen. Ermitteln Forschende das Verhältnis von zwei bestimmten Isotopen – 16O und 18O –, können sie daraus schließen, welche Klimabedingungen herrschten, als die Sauerstoffatome zu Lebzeiten der Koralle in ihr Skelett eingebaut wurden. Egal ob vor 10.000, 200.000 oder drei Millionen Jahren.
So viele Informationen wie möglich abschöpfen
Für Klimaforscherinnen und -forscher sind solche Daten eine wahre Fundgrube. Korallen erlauben dabei besonders weit zurückreichende Blicke in die tropische Klimageschichte von mehreren Millionen Jahren. Außerdem liefern die Wachstumsringe der Fossilien sehr genaue Informationen über den Jahresverlauf und saisonale Schwankungen. Mit diesen Daten können auch extreme Wetterereignisse wie Hitzewellen oder besonders niederschlagsreiche Wetterphasen der Vergangenheit erkannt werden.
Das Problem: Fossile Korallen mit einem Alter von mehreren Millionen Jahren müssen erst einmal gefunden werden. Sie zu entdecken, ist gar nicht so einfach. „Die Datenlage ist deshalb relativ dürftig“, erklärt Manfred Mudelsee. Seine Kolleginnen und Kollegen unternehmen weite und aufwendige Expeditionsreisen mit Forschungsschiffen, um die passenden Proben zu finden und zu bergen. „Solche Reisen sind aber nicht so mein Ding“, sagt der Forscher mit einem Augenzwinkern. „Es ist wichtig, zu wissen, wo die Proben herkommen oder wie sie gemessen werden. Aber ich sitze lieber an meinem Schreibtisch vor dem Computer und entwickle Methoden, mit denen diese Daten am besten analysiert werden können.“
Die Mathematik hinter den Klimarekonstruktionen – das ist seine Leidenschaft. Manfred Mudelsee entwickelt die passenden Algorithmen und Computerprogramme, um so viele Informationen wie möglich aus den vorhandenen Daten abzuschöpfen. Das dafür notwendige Rüstzeug – die Statistik – hat er nach seiner Promotion in der Paläontologie während eines Forschungsaufenthalts an der University of Kent in Canterbury als Postdoc „von der Pike auf“ gelernt.
Extremereignisse sind teuer
„Ich sitze hier und programmiere“, sagt der Umweltphysiker und Statistiker über seine Arbeit im Forschungsprojekt SEARCH. Aber natürlich steckt noch viel mehr dahinter. Mudelsee sammelt und archiviert Daten aus der wissenschaftlichen Literatur und von aktuellen Messungen, entwickelt und testet verschiedene Analysetools, um die passendste und genaueste Methode zu finden, übersetzt die Isotopensignale aus der chemischen Analyse der Korallen in Klimasignale und bestimmt schließlich Trends und saisonale Zyklen: Welche Wassertemperatur herrschte zu Lebzeiten der analysierten Korallen? Welche maximalen und minimalen Temperaturen erfuhren sie und wie rasch wechselten diese? Schließlich vergleicht der Forscher die Daten aus früheren Warmzeiten mit Messungen aus dem gegenwärtigen Anthropozän, um Unterschiede und Gemeinsamkeiten zu analysieren und Vorhersagen zu treffen. „Wir haben zwar schon einen groben Überblick der Klimageschichte, aber nun nehmen wir die Lupe in die Hand und schauen noch genauer in die Vergangenheit“, sagt er.
Vor allem die Extremereignisse aus vergangenen Warmzeiten – wie etwa im Pliozän vor rund drei Millionen Jahren – interessieren den Forscher: rasche Temperaturschwankungen oder große Veränderungen in Niederschlagssummen. „Der mittlere Temperaturanstieg ist gar nicht so entscheidend“, erklärt Manfred Mudelsee das Interesse der Klimaforschung für solche Ausreißer. „Aber die Extreme werden zunehmen und große Schäden verursachen.“ Für Versicherungen, Unternehmen und die Gesellschaft sind solche Ereignisse teuer. Sie besser zu verstehen und einschätzen zu können, ist also nicht nur wissenschaftlich interessant.
Wir müssen uns anpassen
„Aktuell erleben wir sehr schnelle, tiefgreifende Veränderungen durch den Menschen“, erklärt Manfred Mudelsee. „Gab es in der Vergangenheit vergleichbare Phänomene und Phasen, in denen es ähnlich schnell ging? Und wie haben die biologischen Systeme darauf reagiert?“ Hochaufgelöste Daten, wie sie fossile Korallen liefern, sind notwendig, um solch saisonale Extreme in der Vergangenheit zu erkennen.
Manfred Mudelsee blick mit der Nüchternheit eines Wissenschaftlers auf sein Forschungsfeld. „Mir ist es erst einmal egal, welches Ergebnis dabei herauskommt. Ich diene der Klimawissenschaft am besten, wenn ich unvoreingenommen an die Fragen herangehe.“ Trotzdem ist der Klimawandel ein politisches und gesellschaftlich hoch relevantes Thema. „Natürlich bin ich auch besorgt über die Klimaveränderungen und ihre Geschwindigkeit“, sagt Mudelsee. „Es wird nicht mehr reichen, nur darauf zu setzen, Emissionen zu vermeiden. Wir müssen uns auch an den Klimawandel anpassen.“ Die Klimarisiken hat er nicht nur als Wissenschaftler, sondern seit 2005 auch als Unternehmer genau im Blick: Seine Firma „Climate Risk Analytics“ berät Menschen aus der Politik, der Wirtschaft sowie dem öffentlichen Sektor und unterrichtet mathematische Methoden zur Datenanalyse, die er auch in zwei Lehrbüchern aufbereitet hat.
Neben Klimageschichte und Statistik hat Manfred Mudelsee übrigens noch eine weitere Leidenschaft: das Schachspiel. „Ich habe so viel Schach gespielt, dass ich mein Studium erst relativ spät abgeschlossen habe. Zum Glück habe ich die Kurve noch gekriegt“, sagt er lachend. „Daten zu analysieren ist meine Stärke. Und da gibt es durchaus Parallelen zwischen Schach und Wissenschaft.“
Der Forscher
Dr. Manfred Mudelsee studierte Physik an der Universität Heidelberg und ist seit 2022 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Potsdam. Er trägt den Schachtitel eines FIDE-Meisters und gründete 2005 das Unternehmen „Climate Risk Analysis“, das Risikoanalysen zu extremen Wetter- und Klimaereignissen erstellt.
E-Mail: mudelseeuclimate-risk-analysispcom
Das Projekt
„SEARCH (Saisonale Extreme und Änderungsraten in vergangenen Warmzeiten: Einsichten durch hochentwickelte statistische Schätzverfahren an hochaufgelösten Proxy-Zeitreihen von Korallen)“ ist eines von 19 Teilprojekten des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geforderten Schwerpunktprogramms „Tropische Klimavariabilität und Korallenriffe. Von der Vergangenheit in die Zukunft – Ein Blick auf aktuelle Änderungsraten in ultrahoher Auflösung“. Das Ziel des mit zwölf Millionen Euro geforderten Vorhabens ist es, die Variabilität des tropischen Meeresklimas und seine Auswirkungen auf die Korallenriff-Ökosysteme besser zu verstehen. Im Teilprojekt SEARCH werden mithilfe statistischer Analysen und Simulationstechniken klimatische Bedingungen und Wetterextreme der Vergangenheit untersucht. Denn Klimaanalysen vergangener Warmzeiten können Aufschluss über mögliche künftige Klimaentwicklungen unter dem Klimawandel liefern.
Laufzeit: 2022–2025
Beteiligt: Alfred-Wegener-Institut Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI), Potsdam, Freie Universität Berlin, GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel, Helmholtz-Zentrum Potsdam Deutsches GeoForschungsZentrum (GFZ), Potsdam, MARUM – Zentrum für Marine Umweltwissenschaften, Universität Bremen, Max-Planck-Institut für Chemie, Mainz, Universität Bremen, Universität Frankfurt, Universität Giesen, Universität Heidelberg, Universität Kiel, Universität Konstanz, Universität Leipzig, Universität Mainz, Universität Potsdam, Leibniz-Zentrum für Marine Tropenforschung, Bremen
www.spp2299.tropicalclimatecorals.de
Das Pliozän – Blaupause für die Zukunft?
Das Erdzeitalter Pliozän begann vor rund fünf und endete vor etwa zweieinhalb Millionen Jahren. Einige Klimaforscherinnen und -forscher vermuten, dass auf der Erde künftig ein ähnliches Klima herrschen konnte wie damals. Denn die CO2-Konzentration betrug zwischen 380 und 420 ppm und ähnelt damit dem jüngst gemessenen Wert von 419 ppm. Allerdings war die globale Durchschnittstemperatur etwa zwei bis vier Grad hoher als heute, Grönland war eisfrei und der Meeresspiegel etwa 20 Meter höher.
Dieser Text erschien im Universitätsmagazin Portal Wissen - Eins 2023 „Lernen“ (PDF).